Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren; Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör;
Fristverlängerung
Gründe:
I
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Feststellung der Zeit vom 1.4.1977 bis 30.6.1990 als Zeit der Zugehörigkeit zur Altersversorgung
der technischen Intelligenz (AVItech) sowie der dabei erzielten Arbeitsentgelte.
Der am 1953 geborene Kläger erwarb am 23.3.1977 die Berechtigung, die Bezeichnung Ingenieur für Feinwerktechnik, Vertiefungsrichtung
Technologie, zu führen. Nach eigenen Angaben war er vom 1.4.1977 bis 30.6.1990 als Meister, Technologe und Abteilungsleiter
bei dem Volkseigenen Betrieb (VEB) S. Berlin beschäftigt.
Mit Bescheid vom 16.9.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.1.2005 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf
Feststellung der Zeit vom 1.4.1977 bis 30.6.1990 als Zeit der Zugehörigkeit zur AVItech ab.
Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Frankfurt/Oder (SG) mit Urteil vom 27.4.2006 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Anspruch auf Feststellung der
Zugehörigkeit zur AVItech scheitere daran, dass der Kläger am 30.6.1990 keine Tätigkeit in einem VEB oder einem gleichgestellten
Betrieb ausgeübt habe, sondern in einer GmbH. Die S. GmbH sei bereits am 22.6.1990 in das Handelsregister eingetragen worden,
auf das Datum der Eintragung der Löschung des VEB S. am 13.8.1990 komme es nicht an. Die Umwandlung der VEB in Kapitalgesellschaften
sei aufgrund der Verordnung zur Umwandlung von volkseigenen Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen in Kapitalgesellschaften
vom 1.3.1990 (UmwandlungsVO) erfolgt. Nach § 7 UmwandlungsVO werde die Umwandlung mit der Eintragung der GmbH in das Register
wirksam. Mit der Eintragung sei die GmbH Rechtsnachfolger des umgewandelten Betriebs geworden. Der vor der Umwandlung bestehende
Betrieb sei damit erloschen. Zweifel an der Korrektheit der Eintragung am 22.6.1990 bestünden nicht.
Hiergegen hat der Kläger am 21.8.2006 Berufung beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) eingelegt.
Mit Schreiben vom 29.5.2008 hat das LSG mitgeteilt, dass es beabsichtige, die Berufung gemäß §
153 Abs
4 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) durch Beschluss zurückzuweisen.
Daraufhin hat der Kläger mit Schriftsatz vom 7.7.2008 die Berufung begründet und vorgetragen, das SG habe zwar die Auffassung der Beklagten bestätigt, mit der Eintragung in das Register sei die GmbH nach § 7 UmwandlungsVO
die Rechtsnachfolgerin des umgewandelten Betriebs geworden. In diesem Fall seien aber die Eintragungen durch Beiziehung der
Registerakten zu überprüfen. Die beigefügten Kopien aus seinem Sozialversicherungsausweis zeigten nämlich, dass der VEB S.
auch nach dem 30.6.1990 als sein Beschäftigungsbetrieb aufgetreten sei.
Nach Beiziehung von Auszügen aus dem Handelsregister des Amtsgerichts Charlottenburg betreffend die S. GmbH sowie aus dem
Register der volkseigenen Wirtschaft bei dem Vertragsgericht Groß-Berlin betreffend den VEB S. und die S. GmbH hat das LSG
mit Schreiben vom 5.9.2008 nochmals auf seine Absicht hingewiesen, die Berufung nach §
153 Abs
4 SGG durch Beschluss zurückzuweisen.
Mit Schriftsatz vom 8.9.2008 hat der Kläger beantragt, im Wege der Beweisaufnahme durch eine Anfrage beim Amtsgericht Charlottenburg
eine Kopie der Eintragungsverfügung beizuziehen sowie den Namen und die Funktion des Unterzeichners der angenommenen Eintragung
vom 22.6.1990 zu ermitteln.
Nachdem das LSG mit Schreiben vom 9.9.2008 mitgeteilt hatte, dass es der Beweisanregung nicht folgen werde und es keinen Anlass
sehe, von der beabsichtigten Entscheidung nach §
153 Abs
4 SGG abzusehen, hat der Kläger mit Schriftsatz vom selben Tage mitgeteilt, dass er zwar von einem bestimmten Beweisantrag ausgehe,
sich aber nunmehr selbst an das Amtsgericht Charlottenburg wenden werde, um die benannten Sachverhalte zu ermitteln. Diesbezüglich
werde eine Stellungnahmefrist von einem Monat beantragt.
Mit Schreiben vom 10.9.2008 hat das LSG daraufhin mitgeteilt, dass es weiterhin von einer Beweisanregung ausgehe, der es nicht
folgen werde, weil Ermittlungen ins Blaue hinein nicht durchgeführt würden. Im Übrigen seien, sollte inzident von einer Falschbeurkundung
im Amt ausgegangen werden, "hieb- und stichfeste Argumente zu nennen". Es werde Gelegenheit zur Stellungnahme binnen einer
Woche gegeben. Nach Ablauf dieser Woche werde der Beschluss gemäß §
153 Abs
4 SGG ergehen.
Mit Schriftsatz vom 16.9.2008 hat der Kläger an seiner erbetenen Monatsfrist zur Stellungnahme festgehalten, da die vom Amtsgericht
Charlottenburg erbetene Antwort auf seine Fragen noch nicht eingegangen sei. Mit Schreiben vom selben Tage hat das LSG nochmals
seine Absicht mitgeteilt, nach §
153 Abs
4 SGG zu verfahren.
Mit Beschluss vom 18.9.2008 hat das LSG die Berufung zurückgewiesen. Der geltend gemachte Anspruch auf Feststellung der Zugehörigkeit
zur AVItech scheitere daran, dass der Kläger am Stichtag, dem 30.6.1990, nicht mehr in einem VEB oder einem gleichgestellten
Betrieb beschäftigt gewesen sei. Die S. GmbH sei am 22.6.1990 und damit vor dem Stichtag in das Register der volkseigenen
Wirtschaft eingetragen worden. Dies sei durch die Eintragung im Registerblatt bei dem Vertragsgericht Berlin unter der Handelsregisternummer
15-5900 nachgewiesen. Die Eintragung werde außerdem in dem Handelsregisterauszug bei dem Amtsgericht Charlottenburg (HRB 34413),
nachdem die Umschreibung am 12.12.1990 erfolgt sei, bestätigt. Mit der Eintragung der GmbH sei die Löschung des VEB bewirkt.
Der Kläger könne sich deshalb nicht darauf berufen, dass sein Sozialversicherungsausweis für den 30.6.1990 noch einen Stempeleintrag
des VEB S. enthalte. Der Anregung des Klägers, Beweis zu erheben durch Beiziehung der Kopie der Eintragungsverfügung und Ermittlung
von Name und Funktion des Unterzeichners der Eintragung vom 22.6.1990, habe nicht nachgegangen werden müssen. Es sei nicht
ersichtlich, welcher Erkenntnisgewinn mit diesen Ermittlungen verbunden sein solle. Den Vorwurf der Falschbekundung im Amt
habe der Kläger nicht ausdrücklich erhoben. Anhaltspunkte für eine solche Straftat lägen nicht vor. Bei dem Antrag handele
es sich außerdem nicht um einen formgerechten Beweisantrag, denn der Kläger habe weder die zu beweisenden Tatsachen und das
Beweisthema benannt noch ausgeführt, zu welchem Ergebnis die Beweisführung gelangen solle.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Beschluss hat der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt.
Er beruft sich auf Verfahrensfehler und trägt zur Begründung vor: Das LSG habe seine Sachaufklärungspflicht verletzt, weil
es einem Beweisantrag nicht gefolgt sei. Es hätte sich aufgrund seines mit Schriftsatz vom 8.9.2008 gestellten Antrags, im
Wege der Beweisaufnahme eine Kopie der Eintragungsverfügung beizuziehen sowie den Namen und die Funktion des Unterzeichners
der angenommenen Eintragung vom 22.6.1990 zu ermitteln, zu einer entsprechenden Sachverhaltsaufklärung gedrängt fühlen müssen.
Denn aus diesen Unterlagen hätte sich ergeben, dass jeweils von der verfügenden Person auf der Eintragungsverfügung vorgegeben
worden sei, welches Datum im Handelsregisterblatt einzutragen sei, ohne dass es sich dabei um das tatsächliche Eintragungsdatum
gehandelt habe. Zudem habe das LSG seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Selbst wenn man mit dem Berufungsgericht
davon ausginge, dass der gestellte Antrag kein ausreichend substanziiert gestellter Beweisantrag sei, sondern lediglich eine
Anregung zur weiteren Ermittlung, hätte das LSG ihm vor seiner Entscheidung den beantragten Schriftsatznachlass einräumen
müssen. Innerhalb dieser Frist hätte er anhand der vom Registergericht zu erwartenden Unterlagen (Eintragungsverfügung und
Angaben zur eintragenden und unterzeichnenden Person) belegt, dass es sich aufgrund des auf der Eintragungsverfügung vorgegebenen
Datums zum Vermerk im Handelsregisterblatt nicht um das tatsächliche Eintragungsdatum gehandelt habe.
II
Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet. Der gerügte Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs
(Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes [GG], §
62 SGG iVm §
153 Abs 4 Satz 2
SGG) liegt vor. Denn das LSG hat bei seiner Entscheidung durch Beschluss dem in §
153 Abs
4 Satz 2
SGG gesondert geregelten Anhörungsgebot nicht hinreichend Rechnung getragen.
Nach §
153 Abs
4 Satz 1
SGG kann das LSG die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung
nicht für erforderlich hält, falls die mit dem Rechtsmittel angefochtene Entscheidung des SG kein Gerichtsbescheid (§
105 Abs
2 Satz 1
SGG) ist. Nach §
153 Abs
4 Satz 2
SGG sind die Beteiligten vorher zu hören. Diese Anhörungspflicht ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots rechtlichen Gehörs
(Art
103 Abs
1 GG), das im Beschlussverfahren nicht verkürzt werden darf. Ihm ist nur Genüge getan, wenn den Beteiligten Gelegenheit sowohl
zur Äußerung von etwaigen Bedenken, die sie gegen eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (und ohne Hinzuziehung der
ehrenamtlichen Richter) haben, als auch zur Stellungnahme in der Sache selbst eingeräumt wird (BSG vom 9.4.2003 - B 5 RJ 140/02 B, Juris RdNr 8). Daran fehlt es hier, weil das LSG dem Kläger die Frist zur Äußerung nicht, wie von ihm erbeten, verlängert
hat.
Zwar besteht grundsätzlich kein Anspruch auf Fristverlängerung; als richterliche Frist kann die Äußerungsfrist nach §§
65,
202 SGG iVm §
224 Abs
2 der
Zivilprozessordnung (
ZPO) nur bei Vorliegen erheblicher Gründe verlängert werden. Jedoch ist zu beachten, dass die im Rahmen der Anhörung nach §
153 Abs
4 SGG gesetzte Äußerungsfrist die sonst im Rahmen der mündlichen Verhandlung bestehende Möglichkeit ersetzt, auf den Gang des Verfahrens
Einfluss zu nehmen. Ein erheblicher Grund wird daher regelmäßig zur völligen Reduzierung des Ermessens führen, mit der Folge,
dass dem Verlängerungsgesuch stattgegeben werden muss, wenn sonst das rechtliche Gehör verletzt wäre (BSG vom 9.4.2003 - B
5 RJ 140/02 B, Juris RdNr 9). Dabei reicht es im sozialgerichtlichen Verfahren aus, dass der vorgetragene erhebliche Grund glaubhaft
ist. Eine Glaubhaftmachung iS des §
224 Abs
2 ZPO ist nicht erforderlich (BSG vom 9.4.2003 aaO; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG-Komm, 9. Aufl 2008, §
65 RdNr 3).
Nach diesen Grundsätzen hätte das LSG dem Gesuch des Klägers, die Äußerungsfrist zu verlängern, um das Ergebnis eigener Ermittlungen
in das Verfahren einbringen zu können, entsprechen müssen. Zwar hatte der Kläger im Schriftsatz vom 8.9.2008 keinen prozessordnungsgemäßen
Beweisantrag iS der §
118 Abs
1 Satz 1
SGG, §
373 ZPO gestellt (vgl hierzu BSG SozR 1500 §
160 Nr 45). Sein Begehren, bestimmte Unterlagen aus der Registerakte beizuziehen, stellte lediglich einen Beweisermittelungsantrag
dar; denn der gestellte Antrag zielte auf die Ausforschung von Tatsachen oder die Erschließung von Erkenntnisquellen, die
es vielleicht erst ermöglichen, bestimmte Tatsachen zu behaupten und sodann unter Beweis zu stellen (vgl Greger in Zöller,
ZPO, 26. Aufl 2007, Vor §
284 RdNr 5 mwN). Ein solcher Antrag brauchte dem Gericht eine Beweisaufnahme nicht nahezulegen (vgl Bundesverwaltungsgericht
vom 29.3.1995, Buchholz 310 §
86 Abs
1 VwGO Nr
266). Zu Ermittlungen ohne konkrete Anhaltspunkte ("ins Blaue hinein") besteht auch unter verfassungsrechtlichen Erwägungen keine
Verpflichtung (Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 9.10.2007 - 2 BvR 1268/03, Juris RdNr 19). Nach der Mitteilung des LSG vom 9.9.2008, dass es diesen Antrag als Beweisanregung betrachte, der es nicht
nachkommen werde, wollte der Kläger aber selbst den vom ihm behaupteten Sachverhalt ermitteln, um seinen Vortrag, dass die
Handelsregister-Eintragung der S. GmbH nicht am 22.6.1990, sondern erst später erfolgt sei, beweisen zu können. Der im erneuten
Verlängerungsgesuch vom 16.9.2008 vorgetragene Grund dafür, dass eine Äußerung innerhalb der vom LSG mit Schreiben vom 10.9.2008
gesetzten Wochenfrist nicht möglich war, nämlich dass die vom Amtsgericht Charlottenburg erbetene Antwort noch nicht eingegangen
sei, ist glaubhaft. Gründe, aus denen hier dem allgemeinen Interesse an einer Verfahrensbeschleunigung Vorrang einzuräumen
war, sind nicht ersichtlich. Auch sind Anhaltspunkte für eine Prozessverschleppung nicht erkennbar.
Der die Berufung des Klägers zurückweisende Beschluss des LSG kann auch auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs beruhen.
Es ist nicht auszuschließen, dass bei ordnungsgemäßer Anhörung von dem Kläger als Ergebnis der eigenen Ermittlungen noch Gründe
vorgetragen worden wären, die dem LSG zumindest Veranlassung für eine weitere Sachaufklärung gegeben hätten.
Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen hat der Senat die Sache im Beschlusswege nach §
160a Abs
5 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.