Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende; Rücknahme der Leistungsbewilligung; Zurechnung des Verschuldens eines Mitglieds
der Bedarfsgemeinschaft; fehlende Anhörung eines Kindes der Bedarfsgemeinschaft
Gründe:
I
Umstritten ist die Aufhebung von Leistungsbewilligungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende
- (SGB II) und deren Erstattung.
Die Mutter des am 7.4.1990 geborenen Revisionsklägers gab bei ihren Anträgen auf Leistungen nach dem SGB II für sich und ihn
als Einkommen ua eine Rente ihrerseits wegen Erwerbsminderung - aufgrund Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes - an,
nicht aber eine von ihr bezogene Hinterbliebenenrente. Den letzten Antrag vom 23.11.2007 unterschrieb auch der Revisionskläger.
Nachdem die Rechtsvorgängerin des beklagten Jobcenters (im Folgenden auch: Beklagter) von der Hinterbliebenenrente erfahren
hatte, hob er nach Anhörung der Mutter die Bewilligung des Arbeitslosengeldes II ab 1.2.2008 auf (Bescheid vom 13.2.2008 an
den Revisionskläger). Im Laufe des Widerspruchsverfahrens gegen diesen Bescheid nahm der Beklagte die zuvor erfolgten Leistungsbewilligungen
vom 7.7.2005, 27.9.2005, 9.12.2005, 14.6.2005, 11.12.2006, 5.6.2007, 28.11.2007 und 5.12.2007 zurück und forderte von der
Mutter 6413,34 Euro Leistungen nach dem SGB II sowie Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zurück (Bescheid vom 14.5.2008
an die Mutter). Mit einem weiteren Bescheid vom 14.5.2008 an den Revisionskläger hob der Beklagte ebenfalls die genannten
Leistungsbewilligungen auf und forderte von ihm die Erstattung von 3874,02 Euro für Leistungen nach dem SGB II vom 1.7.2005
bis zum 31.1.2008 sowie Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung. Bei Anrechnung der von der Mutter bezogenen, von dieser
aber zumindest grob fahrlässig nicht angegebenen Hinterbliebenenrente sei er nicht hilfebedürftig iS des § 9 SGB II gewesen.
Er müsse sich das Verhalten seiner Mutter als seine gesetzliche Vertreterin zurechnen lassen. Dieser Bescheid wurde als Gegenstand
des laufenden Widerspruchsverfahrens angesehen und mit Widerspruchsbescheid vom 19.5.2008 wurden beide Widersprüche zurückgewiesen.
Während des anschließenden Klageverfahrens hat der Beklagte den Bescheid vom 14.5.2008 an den Revisionskläger dahingehend
geändert, dass Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung nicht zu erstatten seien (Bescheid vom 18.12.2008). Das Sozialgericht
Nürnberg (SG) hat den Bescheid an den Revisionskläger vom 14.5.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids aufgehoben. Die Klage der
Mutter hat es abgewiesen (Urteil vom 26.2.2009). Auf die Berufung des Beklagten hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG)
das Urteil des SG geändert und auch die Klage des Revisionsklägers abgewiesen (Urteil vom 1.7.2010). Zur Begründung hat es im Wesentlichen
ausgeführt: Der Beklagte habe die Bewilligungsbescheide zu Recht nach § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) iVm § 40 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II, §
330 Abs
2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung - (
SGB III) mit Wirkung für die Vergangenheit zurücknehmen dürfen, weil diese aufgrund der Nichtberücksichtigung der Hinterbliebenenrente
als Einkommen rechtswidrig gewesen seien und auf zumindest grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtigen oder unvollständigen
Angaben der Mutter beruhten. Der Revisionskläger müsse sich das Verschulden seiner Mutter nach §
38 SGB II zurechnen lassen, zumal diese ihn als gemäß §
1626 Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB) Sorgeberechtigte nach §
1629 iVm §§
164 ff
BGB habe wirksam vertreten können. Nach § 50 SGB X habe der Revisionskläger die erbrachten Leistungen zu erstatten.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Revisionskläger die Verletzung materiellen Rechts: Ihm dürfe das Verhalten
seiner Mutter nicht zugerechnet werden, nach § 38 SGB II habe der gesetzliche Vertreter alleine gehandelt und auch alleine
die Leistung erhalten. Im Übrigen könne er sich auf das Haftungsprivileg als Minderjähriger nach §
1629a BGB berufen.
Der Kläger beantragt,
hinsichtlich seiner Person das Urteil des Bayerischen Landessozialgericht vom 1. Juli 2010 aufzuheben und die Berufung des
Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 26. Februar 2009 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für grundsätzlich zutreffend. Er habe die Mutter angehört, und dem Revisionskläger seien mit
dem Bescheid vom 14.5.2008 alle entscheidungserheblichen Tatsachen mitgeteilt worden, insofern würden die mangelnden Feststellungen
des LSG gerügt.
II
Die Revision ist begründet. Das Urteil des LSG vom 1.7.2010 ist hinsichtlich des Revisionsklägers aufzuheben und die Berufung
des Beklagten gegen das Urteil des SG vom 26.2.2009 zurückzuweisen.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Urteil des LSG nur insoweit, als es den Revisionskläger betrifft, der die Wiederherstellung
des für ihn positiven Urteils des SG anstrebt. Die Mutter des Revisionsklägers hat die Abweisung ihrer Klage durch das SG akzeptiert und ist auch nicht in Berufung gegangen.
Das SG hat den Bescheid des Beklagten vom 14.5.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.5.2008 zu Recht aufgehoben,
weil die in ihm enthaltenen Verwaltungsakte über die Rücknahme der Leistungsbewilligungen in den genannten Leistungsbescheiden
vom 7.7.2005 bis zum 5.12.2007 für die Zeit vom 1.7.2005 bis zum 31.1.2008 nach § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB X und die Erstattung von 3874,02 Euro direkten SGB II-Leistungen, die für den Revisionskläger an dessen Mutter gezahlt wurden,
nach § 50 SGB X rechtswidrig sind.
1. Der Rücknahmeverwaltungsakt ist wegen Verstoßes gegen die Anhörungspflicht nach § 24 SGB X rechtswidrig. Nach § 24 Abs 1 SGB X ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich
zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern.
a) Diese Voraussetzungen für eine Pflicht zur Anhörung sind vorliegend erfüllt, weil der Verwaltungsakt über die Rücknahme
von zuvor erfolgten Leistungsbewilligungen in Rechte des Revisionsklägers eingegriffen hat und keine Ausnahme von dem Anhörungserfordernis
nach § 24 Abs 2 SGB X gegeben ist. Insbesondere hat der Revisionskläger keine Angaben über die Hinterbliebenenrente seiner Mutter gegenüber dem
Beklagten gemacht, ebenso wenig liegt eine bloße Anpassung von einkommensabhängigen Leistungen an geänderte Verhältnisse vor.
b) Der Revisionskläger persönlich ist vor dem angefochtenen Verwaltungsakt vom 14.5.2008 nicht angehört worden. Das LSG hat
eine solche Anhörung nicht festgestellt und auch auf die als Gegenrüge zulässige Aufklärungsrüge des Beklagten konnte der
Verwaltungsakte eine Anhörung des Revisionsklägers persönlich vor dem Erlass des angefochtenen Bescheides vom 14.5.2008 mit
dem Rücknahmeverwaltungsakt nicht entnommen werden.
Der Revisionskläger ist hinsichtlich der Anhörung auch nicht durch seine Mutter vertreten worden, ebenso wenig kann ihm die
Anhörung seiner Mutter "zugerechnet" werden - so das LSG zu den Voraussetzungen des § 45 SGB X.
Eine (allgemeine) Rechtsgrundlage für die "Zurechnung" des Verhaltens einer Person gegenüber einer anderen hat das LSG nicht
angeführt und ist auch nicht zu erkennen. In Betracht kommt nur eine Vertretung des Revisionsklägers durch seine Mutter auf
der Grundlage der allgemeinen Vertretungsregelung in § 13 SGB X im Verwaltungsverfahren sowie des §
38 SGB II über die Vertretung der Bedarfsgemeinschaft und des §
1629 Abs
1 Satz 2
BGB über die Vertretung eines Kindes durch seine Eltern.
Insbesondere ist § 38 SGB II keine über die Vermutung einer Bevollmächtigung hinausgehende "Zurechnung" von Handlungen einer
Person zu anderen Personen zu entnehmen (vgl zu dessen Umfang: BSG vom 2.7.2009 - B 14 AS 54/08 R - BSGE 104, 48 = SozR 4-1500 § 71 Nr 2, jeweils RdNr 22 mwN). Denn das SGB II geht vom Einzelanspruch der jeweiligen Person als Hilfebedürftiger
oder der mit einem solchen in Bedarfsgemeinschaft lebenden Person aus (vgl § 7 Abs 1, 2, § 19, § 28 Abs 1 SGB II, in der in
den Jahren 2006 und 2007 geltenden Fassung) und auch eine Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs 3, 3a, § 9 Abs 2 SGB II ändert
nichts an diesem Einzelanspruch, sondern bewirkt nur die Anrechnung von Einkommen und Vermögen verschiedener Personen in einer
Bedarfsgemeinschaft untereinander, sodass deren Hilfebedürftigkeit ggf zu verneinen ist (vgl BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, jeweils RdNr 12 mwN).
Unabhängig von den Voraussetzungen der genannten Vertretungsregelungen im Einzelnen ist jedoch die entscheidende Grundvoraussetzung
für jede Vertretung, nämlich der Wille, für eine andere Person handeln zu wollen (vgl §
164 Abs
1 BGB), nicht gegeben: Aus den Unterlagen über die Anhörung der Mutter, auf die der Beklagte im Rahmen seiner Rüge Bezug genommen
hat, ergibt sich nur eine Anhörung der Mutter. Dass diese außerdem zu einer Rücknahme der Leistungsbewilligungen gegenüber
ihrem bald volljährigen Sohn angehört werden sollte und angehört wurde, ist weder dem Anschreiben des Beklagten vom 30.1.2008
noch dem Vermerk über die persönliche Rücksprache und Anhörung der Mutter zu entnehmen. In beiden Texten wird nur von der
Mutter gesprochen, der Revisionskläger aber mit keinem Wort erwähnt oder angesprochen.
c) Dieser Verfahrensmangel der mangelnden Anhörung ist auch nicht nach § 41 Abs 1 Nr 3 SGB X durch Nachholung geheilt worden.
Eine wirksame Nachholung setzt voraus, dass diese den Anforderungen an eine Anhörung nach § 24 SGB X entspricht und insbesondere der Beteiligte über die entscheidungserheblichen Tatsachen in Kenntnis gesetzt wurde sowie Gelegenheit
zur Äußerung hatte (BSG vom 9.11.2010 - B 4 AS 37/09 R - RdNr 15 ff mwN; Littmann in Hauck/Noftz, SGB X, Stand Januar 2011, § 41 RdNr 15; Waschull in LPK-SGB X, 3. Aufl 2011, § 41 RdNr 15).
Eine Heilung durch das Widerspruchsverfahren scheidet vorliegend entgegen der Auffassung des Beklagten aufgrund der Zeitabläufe
aus, weil der angefochtene Verwaltungsakt am Mittwoch, dem 14.5.2008 erging, am 15.5.2008 zur Post gegeben wurde und der Widerspruchsbescheid
am darauf folgenden Montag, dem 19.5.2008 erlassen wurde.
Für eine Heilung im Gerichtsverfahren, die bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz möglich gewesen wäre (§ 41 Abs 2 SGB X), genügt nicht die schlichte Klageerhebung ggf in Verbindung mit der Klageerwiderung. Vielmehr ist ein eigenständiges, nicht
notwendigerweise förmliches Verwaltungsverfahren notwendig (BSG vom 9.11.2010, aaO; Littmann in Hauck/Noftz, SGB X, § 41 RdNr 18, der ausdrücklich auf die Aussetzungsmöglichkeit des Gerichts nach §
114 Abs
2 Satz 2
SGG hinweist; Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 41 RdNr 16).
Eine solche nachholende Anhörung im Laufe des Gerichtsverfahrens vor dem SG und dem LSG wurde vom LSG nicht festgestellt und kann - trotz Rüge des Beklagten - den Akten nicht entnommen werden.
d) Einen Grund für eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG zur Nachholung der Anhörung ist nicht zu erkennen, weil
das Verfahren nach §
170 Abs
2 Satz 1
SGG entscheidungsreif ist und eine Heilung nach einer Zurückverweisung nicht mehr möglich ist.
Nach § 41 Abs 2 SGB X erfährt die Möglichkeit der Heilung insofern eine zeitliche Grenze, als die Anhörung nach § 41 Abs 1 Nr 3 SGB X nur bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozial- oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden kann. Entsprechend
der mit § 41 Abs 2 SGB X korrespondierenden Vorschrift des §
114 Abs
2 Satz 2
SGG (vgl BSG SozR 3-2600 § 243 Nr 9: "funktionale Einheit") ist diese Vorschrift nicht mehr anwendbar, nachdem erstmals die letzte Tatsacheninstanz abgeschlossen
wurde (vgl allgemein Steinwedel in Kasseler Kommentar, Stand 2011, § 41 SGB X RdNr 23, 27; offen gelassen von: BSG vom 2.6.2004 - B 7 AL 58/03 R - BSGE 93, 51 = SozR 4-4100 § 115 Nr 1, jeweils RdNr 9 = Juris RdNr 17; BSG vom 16.12.2008 - B 4 AS 48/07 R - Juris RdNr 19).
Gegen die Heilung eines Verfahrensmangels durch Nachholung im Rahmen eines wiedereröffneten Berufungsverfahrens nach einer
Zurückverweisung spricht entscheidend, dass diese von einem Verfahrensmangel des LSG - nämlich fehlenden Feststellungen zur
Anhörung - abhängig ist. Denn eine Zurückverweisung kommt nur in Betracht, wenn das LSG keine Feststellungen zur Anhörung
getroffen hat. Hat das LSG hingegen festgestellt, dass keine Anhörung erfolgt ist, besteht kein Grund für eine Zurückverweisung.
Das Letztere muss ebenfalls gelten, wenn das LSG keine Feststellungen getroffen hat und diese fehlenden Feststellungen des
LSG in Verbindung mit einer Aufklärungsrüge eines Beteiligten zu entsprechenden Ermittlungen und Feststellungen des Revisionsgerichts
führen. Für eine Verschlechterung der Rechtsposition des klagenden Adressaten eines Verwaltungsakts, in dem der beklagten
Behörde eine weitere Gelegenheit zur Heilung ihres Verfahrensfehlers eingeräumt wird, wenn es im anschließenden gerichtlichen
Verfahren zu einem Verfahrensmangel des angerufenen Gerichts gekommen ist, der von der Behörde erfolgreich gerügt wird, ist
keine Rechtsgrundlage ersichtlich. Dagegen spricht vielmehr der Ausnahmecharakter des §
114 Abs
2 Satz 2
SGG, nachdem der vergleichbare §
94 Satz 2
Verwaltungsgerichtsordnung aufgehoben wurde (vgl Berchtold in Festschrift 50 Jahre BSG, 2004, 97, 115 f sowie BSG vom 16.12.2008 - B 4 AS 48/07 R - RdNr 19; BSG vom 31.10.2002 - B 4 RA 43/01 R - Juris RdNr 17).
2. Der auf § 50 Abs 1 SGB X gestützte Verwaltungsakt über die Erstattung ist wegen Rechtswidrigkeit aufzuheben, weil insofern ebenfalls keine Anhörung
festzustellen ist und es durch die Aufhebung des Rücknahmeverwaltungsakts an der Grundvoraussetzung "Aufhebung eines Verwaltungsaktes"
für eine Erstattung mangelt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§
183,
193 SGG.