Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren; Bezeichnung des Verfahrensmangels der Verletzung
des Anspruchs auf rechtliches Gehör bei Ablehnung eines Antrags auf Terminsverlegung wegen Erkrankung
Gründe:
I
Der am 30.3.1960 geborene Kläger bezieht von dem Beklagten seit Juni 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach
dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch. Am 13.10.2008 erhob er eine Klage beim Sozialgericht (SG) Stuttgart, mit der er sich gegen Sanktionen sowie die Untätigkeit und verzögerte Bearbeitung seiner Angelegenheiten durch
den Beklagten wandte. Die Klage wies das SG nach Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 11.12.2009 ab. Gegen den Gerichtsbescheid legte der Kläger Berufung
ein und machte geltend, dass der Tatbestand im Gerichtsbescheid teilweise fehlerhaft sei. Eine umfassende Begründung reiche
er im Laufe der Folgewoche nach. Im Februar 2010 telefonierte er mit der Geschäftsstelle und teilte mit, er habe eine schwere
Erkrankung und bitte um Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist. In der Folge entschuldigte er sich aus Krankheitsgründen
erneut und legte ein Attest des behandelnden Arztes Dr. J. K vom 29.3.2010 vor, wonach er wegen einer Lungenentzündung und
eines Wirbelsäulensyndroms voraussichtlich bis 9.4.2010 arbeitsunfähig sei und auch keinen Gerichtstermin wahrnehmen könne.
Am 12.5.2010 teilte der Kläger mit, er fühle sich nicht imstande das Haus zu verlassen, um sich weitere Unterlagen zur Begründung
der Berufung zu verschaffen. Daraufhin wurde ihm fernmündlich erneut Verlängerung zur Begründung der Berufung bis zum 1.6.2010
gewährt.
Am 18.6.2010 bestimmte der Vorsitzende Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 14.7.2010, 9:00 Uhr. Mit Schreiben vom 10.7.2010,
das bei Gericht am 13.7.2010 einging, beantragte der Kläger Terminverlegung um eine Woche. Er trug vor, es sei ihm momentan
wieder nicht möglich selbstständig das Bett zu verlassen und an der Verhandlung teilzunehmen. Es seien zustehende Leistungen
nicht ausgezahlt worden, sodass er weder die notwendigen Medikamente noch die Fahrkosten zahlen könne. Am 13.7.2010 versuchte
der Berichterstatter den Kläger zweimal telefonisch zu erreichen, um ihn unter Bezugnahme auf einen Beschluss des Bundsfinanzhofes
(BFH) vom 7.4.2004 (Az: I B 111/03) darauf hinzuweisen, dass die Verlegungsgründe in verschiedener Hinsicht (vor allem durch Vorlage eines nachvollziehbaren
Attests) glaubhaft zu machen seien. Er erreichte den Kläger nicht. In einem Schreiben vom 12.7.2010, das bei Gericht ebenfalls
am 13.7.2010 einging, nahm der Kläger Bezug auf ein Telefongespräch mit der Geschäftsstelle am Morgen des 12.7. und teilte
mit, dass nunmehr sein Telefonanschluss gesperrt sei und er nur noch über ein fremdes Fax kommunizieren könne.
Am 14.7.2010 erschien zum Termin zur mündlichen Verhandlung für den Kläger niemand. Das Landessozialgericht (LSG) wies die
Berufung mit Urteil vom selben Tage ab. Dem Vertagungsgesuch habe der Senat nicht nachkommen müssen. Auch in der Sache habe
die Berufung keinen Erfolg, weil das SG die Klage zutreffend als unzulässig angesehen habe.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde. Er macht die Verletzung
des rechtlichen Gehörs geltend, weil das LSG seinem Antrag auf Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung wegen seiner
Erkrankung und seiner fehlenden Möglichkeit, die Fahrkosten zum Termin zu bestreiten, nicht nachgekommen ist. Zudem macht
er die Verletzung von §
153 Abs
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) geltend und hält die Klage insgesamt für zulässig. Insbesondere seien LSG und SG fehlerhaft davon ausgegangen, dass eine Klageerweiterung nach §
99 SGG nicht zulässig gewesen sei.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig und begründet. Auf die Beschwerde des Klägers war das angefochtene
Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl §
160a Abs
5 SGG).
Der Kläger hat formgerecht (§
160a Abs
2 Satz 3
SGG) gerügt, vom LSG nicht ausreichend rechtlich gehört worden zu sein (§
62 SGG). Er hat die Verletzung des §
62 SGG hinreichend bezeichnet; die Rüge trifft auch zu. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet, den an einem gerichtlichen
Verfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung
zu äußern. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit
zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, ihren Standpunkt in der Verhandlung
darzulegen. Dabei ist dem Anspruch auf rechtliches Gehör in der Regel dadurch genügt, dass das Gericht die mündliche Verhandlung
anberaumt (§
110 Abs
1 Satz 1
SGG), der Beteiligte ordnungsgemäß geladen und die mündliche Verhandlung zu dem festgesetzten Zeitpunkt eröffnet wird. Eine Entscheidung
aufgrund mündlicher Verhandlung trotz Abwesenheit eines Beteiligten ist dann ohne Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung
rechtlichen Gehörs möglich, wenn dieser in der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle seines Ausbleibens
verhandelt und entschieden werden kann (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl 2008, §
110 RdNr 11; BVerwG NVwZ-RR 1995, 549).
Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn erhebliche Gründe für eine Terminsverlegung oder -vertagung vorliegen (Leitherer,
aaO, § 110 RdNr 4b) und diese beantragt wird bzw ein unvertretener Beteiligter wenigstens seinen Willen zum Ausdruck bringt,
an der mündlichen Verhandlung teilnehmen zu wollen (vgl BSG vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R - Juris RdNr
11). Ein iS des §
227 Abs
1 Satz 1
Zivilprozessordnung (
ZPO) ordnungsgemäß gestellter Vertagungsantrag mit einem hinreichend substanziiert geltend gemachten Terminsverlegungsgrund begründet
grundsätzlich eine entsprechende Pflicht des Gerichts zur Terminsverlegung (BSG vom 10.8.1995, SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2;
BSG vom 28.4.1999 - B 6 KA 40/98 R - Juris RdNr 16 und vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R - Juris RdNr 11). Die Behandlung von Anträgen auf Terminsverlegung hat dabei der zentralen Gewährleistungsfunktion der mündlichen
Verhandlung für den Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen (vgl hierzu BSG vom 16.11.2000, SozR 3-1500
§ 160 Nr 33 S 58), insbesondere, wenn - wie vorliegend - eine mündliche Verhandlung vor dem SG nicht stattgefunden hat. Voraussetzung für den Erfolg einer solchen Rüge ist jedoch, dass der Beteiligte seinerseits alles
getan hat, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22; vgl auch BSGE 68, 205, 210 = SozR 3-2200 § 667 Nr 1).
Der Kläger hat in seinem Gesuch auf Terminsverlegung um eine Woche darauf hingewiesen, dass er wegen Krankheit zum Termin
nicht erscheinen könne, er aber unbedingt an der mündlichen Verhandlung teilnehmen wolle (zur Anerkennung von Krankheit als
erheblicher Grund iS des §
227 Abs
1 Satz 1
ZPO: BSG vom 28.4.1999 - B 6 KA 40/98 R; BSG vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R; BSG vom 25.3.2003 - B 7 AL 76/02 R; BSG vom 21.7.2005 - B 11a/11 AL 261/04 B; alle veröffentlicht in Juris; vgl auch BSG vom 6.12.1983, SozR 1750 § 227 Nr 2).
Ob daneben die fehlende Möglichkeit die Fahrkosten aufzubringen, einen erheblichen Grund zur Verlegung des Termins darstellt,
ist jedenfalls für den Fall eines so kurzfristig gestellten Gesuchs zweifelhaft, braucht vorliegend aber nicht entschieden
zu werden. Dabei hat der Kläger vorgetragen, das Bett aufgrund seiner Erkrankung nicht verlassen zu können, sodass die Auswirkung
der Erkrankung - nicht zum Termin erscheinen zu können - schlüssig vorgetragen ist. Zwar hat der Kläger seine Erkrankung nicht
durch Atteste der behandelnden Ärzte belegt. Eine Erkrankung als Verlegungsgrund ist aber nicht zwingend bei Antragstellung
durch Attest glaubhaft zu machen, denn nach §
202 SGG iVm §
227 Abs
2 ZPO sind die erheblichen Gründe erst auf Verlangen des Vorsitzenden glaubhaft zu machen. Der Kläger hat im Übrigen seinerseits
alles ihm Obliegende getan, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen. Er hat offenbar am 12.7.2010 (mithin zwei Tage vor dem
Termin) mit der Geschäftsstelle des Gerichts telefoniert, um Klarheit über sein Vertagungsgesuch zu gewinnen. Er musste als
unvertretener Beteiligter nicht allein aufgrund der Kürze der noch verbleibenden Zeit davon ausgehen, dass dem Vertagungsgesuch
zwingend ein Attest beizufügen gewesen wäre.
Anderes kann gelten, wenn offenkundig Prozessverschleppungsabsicht besteht. Hiervon konnte das LSG jedoch nach dem bisherigen
Stand des Berufungsverfahrens nicht ohne Weiteres ausgehen. Der Kläger hatte zwar zweimal um Verlängerung der vom Gericht
gesetzten Frist zur Begründung der Berufung gebeten und die Berufung auch bis zum Termin nicht begründet. Er hatte diesen
Vortrag im März 2010 jedoch mit ärztlichen Unterlagen belegt, die das Gericht nicht (für ihn erkennbar) in Zweifel gezogen
hat. Soweit beim Gericht bereits im Laufe des schriftlichen Verfahrens der Eindruck entstanden sein sollte, die Gründe für
die verzögerten Stellungnahmen des Klägers seien aus prozesstaktischen Motiven vorgeschoben, hätte es seiner Pflicht entsprochen,
den Kläger darauf hinzuweisen, dass weiterer Aufschub und ggf eine Verlegung des Termins nur nach entsprechender Glaubhaftmachung
durch im einzelnen nachvollziehbare Atteste in Betracht komme. Ohne dass es dem unvertretenen Kläger zuvor Hinweise dahin
gegeben hatte, dass sein bisheriger Vortrag im Hinblick auf seine Erkrankungen künftig nicht mehr als ausreichend angesehen
werde, durfte es auch den kurzfristig gestellten Vertagungsantrag nicht übergehen.
Aus der vom LSG zitierten Rechtsprechung des BFH, der sich das Bundessozialgericht (BSG) insoweit bereits angeschlossen hat,
folgt kein anderes Ergebnis. BFH und BSG haben die strengeren Voraussetzungen bei der Prüfung kurzfristig gestellter Terminverlegungsgesuche
auf die Fälle beschränkt, in denen der Kläger anwaltlich vertreten ist. Wenn der Betroffene nicht anwaltlich vertreten ist,
ist das Gericht auch bei kurzfristig gestellten Anträgen zu einem Hinweis oder zur Aufforderung an den Betroffenen, seinen
Vortrag zu ergänzen, oder zu eigenen Nachforschungen verpflichtet (vgl zuletzt BSG vom 13.10.2010 - B 6 KA 2/10 B - Juris RdNr 13 unter Hinweis auf BSG vom 28.4.1999, USK 99111 S 650 f = Juris RdNr 17; BSG vom 13.11.2008 - B 13 R 277/08 B - Juris RdNr 17; BSG vom 21.7.2009 - B 7 AL 9/09 B - Juris RdNr 5; ebenso BFH vom 19.8.2003, DStRE 2004, 540, 541 = Juris RdNr 21 iVm 25). Andernfalls hat es dem Vertagungsantrag nachzukommen. Der Berichterstatter am LSG hat zwar
versucht, den Kläger zu erreichen, aber erfolglos, sodass die aufgezeigten Voraussetzungen nicht vorlagen.
Die angefochtene Entscheidung kann auf diesem Verfahrensmangel beruhen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger
zum Zeitpunkt der anberaumten mündlichen Verhandlung in der Tat verhandlungsunfähig war. Im Übrigen ist grundsätzlich davon
auszugehen, dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, die einen Verfahrensbeteiligten daran gehindert hat, an der mündlichen
Verhandlung teilzunehmen, die daraufhin ergangene Entscheidung beeinflusst hat; einer Angabe, welches Vorbringen durch das
beanstandete Verfahren verhindert worden ist, bedarf es nicht (vgl nur BSG vom 16.11.2000, SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 62).
Der Senat kann offen lassen, ob die gerügten weiteren (Verfahrens)Fehler vorliegen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.