Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende; Berücksichtigung von Überbrückungsgeld gemäß § 51 StVollzG für Haftentlassene als Einkommen
Gründe:
I
Zwischen den Beteiligten ist (noch) umstritten, ob dem Kläger Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in
dem Zeitraum vom 28.3. bis zum 22.4.2008 zustehen.
Der 1974 geborene Kläger befand sich zwischen dem 19.8.2005 und dem 26.3.2008 in Strafhaft. Am Tage der Haftentlassung wurde
dem Kläger ein Betrag von 2126,32 Euro ausgezahlt, in dem ein Überbrückungsgeld in Höhe von 1794 Euro enthalten war. Direkt
nach seiner Entlassung bezog der Kläger eine kostenlose Unterkunft in dem Projekt Wohngemeinschaft e.V. K, Fachklinik für
medizinische Rehabilitation zu einer Entwöhnungsbehandlung. In der Klinik wurde ihm kostenlose Vollverpflegung zur Verfügung
gestellt.
Am 28.3.2008 beantragte der Kläger bei dem Beklagten Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende. Mit Bescheid vom 20.5.2008
lehnte der Beklagte den SGB II-Antrag mit Hinweis auf das Überbrückungsgeld wegen mangelnder Hilfebedürftigkeit ab. Auf den
Widerspruch des Klägers lehnte der Beklagte mit Änderungsbescheid vom 24.6.2008 den Leistungsantrag nunmehr noch für den Zeitraum
vom 28.3. bis zum 22.4.2008 ab und bewilligte mit einem weiteren Bescheid vom selben Tage dem Kläger Leistungen nach dem SGB
II für die Zeit vom 23.4. bis 30.9.2008 unter Anrechnung des verbleibenden Überbrückungsgeldes als einmaliges Einkommen in
Höhe von 1430,79 Euro. Außerdem kürzte der Beklagte die dem Kläger bewilligte Regelleistung um 35 % wegen der dem Kläger zur
Verfügung gestellten kostenlosen Vollverpflegung. Auch hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid
vom 7.8.2008 wies der Beklagte die Widersprüche des Klägers insgesamt als unbegründet zurück.
Zur Begründung seiner dagegen erhobenen Klage führt der Kläger aus, das Überbrückungsgeld sei ihm bereits vor Antragstellung
zugeflossen, weshalb es sich um geschütztes Vermögen handele. Zudem habe er vor Beantragung der SGB II-Leistungen seinem Bruder
zur Begleichung der während der zwei Jahre und acht Monate andauernden Haftzeit von diesem verauslagte Gelder für Tabakwaren,
Lebensmittel, Hygieneartikel etc in Höhe von 1730 Euro zurückgezahlt. Mit dem restlichen Geld habe er notwendige Kleidungsstücke
angeschafft.
Unter dem 24.9.2008 hat der Beklagte einen Änderungsbescheid erlassen und dem Kläger für die Zeit vom 23.4. bis 31.8.2008
SGB II-Leistungen ohne Anrechnung des Überbrückungsgeldes bewilligt. Als zu berücksichtigendes Einkommen wurden 91,45 Euro
angerechnet (35 % von 347 Euro = 121,45 Euro abzüglich eines Pauschbetrages in Höhe von 30 Euro für private Versicherungen).
In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG) vom 2.3.2009 hat der Beklagte den Klageanspruch dann insoweit teilweise anerkannt, als er sich verpflichtet hat, dem Kläger
für die Leistungszeit vom 23.4. bis 31.8.2008 Leistungen zur Grundsicherung ohne Berücksichtigung der bereitgestellten Vollverpflegung
zu bewilligen. Dieses Teilanerkenntnis hat der Kläger angenommen. Bezüglich des danach noch streitigen Zeitraums vom 28.3.
bis zum 22.4.2008 hat das SG mit Urteil vom selben Tage den Beklagten verurteilt, dem Kläger Leistungen nach dem SGB II für diesen Zeitraum zu bewilligen.
Bei dem Überbrückungsgeld handele es sich um Vermögen, das im Hinblick auf den Grundfreibetrag in Höhe von mindestens 3100
Euro nicht zu berücksichtigen sei.
Auf die vom Beklagten eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung zugelassen. Nach
Beweiserhebung durch Vernehmung des Bruders des Klägers hat das LSG mit dem angegriffenen Urteil vom 22.4.2010 die Berufung
des Beklagten zurückgewiesen. Zwar sei das Überbrückungsgeld grundsätzlich in den ersten vier Wochen nach der Haftentlassung
als Einkommen zu berücksichtigen, vorliegend seien aber zum Zeitpunkt der Antragstellung die Mittel bereits verbraucht gewesen.
Der Kläger habe das Überbrückungsgeld noch vor Antragstellung zur Begleichung von Schulden verwendet, dies hätten die Beweisaufnahme
und die vorgelegten Belege ergeben. Im Übrigen sei eine Neueinkleidung erforderlich gewesen, da der Kläger in der Haft 15
kg an Gewicht verloren habe.
Gegen dieses Urteil wendet sich der Beklagte mit der vom LSG zugelassenen Revision. Er ist der Auffassung, dass das ausgezahlte
Überbrückungsgeld nach dem
Strafvollzugsgesetz (
StVollzG) den Lebensunterhalt für die ersten vier Wochen nach der Haftentlassung sichern solle und dementsprechend in der Zeit vom
28.3. bis zum 22.4.2008 kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II bestanden habe. Das Überbrückungsgeld stelle eine vorrangige
Leistung dar. Aber selbst wenn man davon ausgehe, dass das Überbrückungsgeld als Einkommen bzw einmalige Einnahme anzusehen
sei, so bestehe bei vorzeitigem Verbrauch dennoch keine Hilfebedürftigkeit, da Einkommen in erster Linie zur Sicherung des
Lebensunterhalts einzusetzen sei, ein Verbrauch zur Schuldentilgung sei unbeachtlich.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. April 2010 und das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 2. März
2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angegriffenen Urteile für zutreffend.
II
Die in dem Urteil des LSG vom 22.4.2010 zugelassene Revision (§
160 Abs
1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]), die der Beklagte rechtzeitig eingelegt hat, ist unbegründet und war daher zurückzuweisen (§
170 Abs
1 SGG). Das LSG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass dem Kläger für den Zeitraum vom 28.3. bis zum 22.4.2008 Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II idF des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende
vom 20.7.2006 (BGBl I 1706) ohne Berücksichtigung des Überbrückungsgeldes als Einkommen zustehen.
1. Das beklagte Jobcenter ist gemäß §
70 Nr 1
SGG beteiligtenfähig. Bei dem Jobcenter (§ 6d SGB II idF des Gesetzes vom 3.8.2010, BGBl I 1112) handelt es sich um eine gemeinsame Einrichtung (§ 44b Abs 1 Satz 1 SGB
II, ebenfalls idF des Gesetzes vom 3.8.2010), die mit Wirkung vom 1.1.2011 kraft Gesetzes entstanden und im Laufe des gerichtlichen
Verfahrens als Rechtsnachfolger an die Stelle der bisher beklagten Arbeitsgemeinschaft ([ARGE], vgl § 76 Abs 3 Satz 1 SGB
II) getreten ist. Dieser kraft Gesetzes eintretende Beteiligtenwechsel wegen der Weiterentwicklung der Organisation des SGB
II stellt keine im Revisionsverfahren unzulässige Klageänderung dar. Das Passivrubrum war daher von Amts wegen zu berichtigen
(vgl dazu insgesamt BSG Urteil vom 18.1.2011 - B 4 AS 99/10 R - SozR 4-4200 § 37 Nr 5).
2. Gegenstand des Verfahrens sind vorliegend die Bescheide des Beklagten vom 20.5. und vom 24.6.2008, beide in Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 7.8.2008 und in der Modifizierung durch das Anerkenntnis in der mündlichen Verhandlung vor dem SG vom 2.3.2009. Umstritten ist dabei nur noch, ob der Kläger Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach
dem SGB II für den Zeitraum ab Antragstellung am 28.3. bis zum 22.4.2008 hat. Das Ende des streitigen Zeitraums ergibt sich
nach der Berechnung des Beklagten daraus, dass das Überbrückungsgeld für die Sicherung des Lebensunterhalts in den ersten
vier Wochen nach Haftentlassung gedacht sei. Dementsprechend legt er für die Leistungsbemessung den Entlassungstag (26.3.2008)
zugrunde, der Vier-Wochen-Zeitraum endet dann mit dem 22.4.2008.
3. Dem Kläger steht gemäß §§ 7, 9 und 19 SGB II für den streitigen Zeitraum Arbeitslosengeld II ohne Berücksichtigung des
ihm am 26.3.2008 zugeflossenen Überbrückungsgeldes zu.
Das Überbrückungsgeld stellt im Zeitpunkt der Antragstellung am 28.3.2008 Vermögen dar, das den Grundfreibetrag nach § 12
Abs 2 Nr 1 SGB II nicht übersteigt und bei der Leistungsberechnung nicht als Einkommen iS von § 11 SGB II berücksichtigt werden
durfte.
a) Nach den Feststellungen des LSG erfüllt der Kläger als erwerbsfähiger Hilfebedürftiger die Voraussetzungen des § 7 Abs
1 Satz 1 SGB II. Insbesondere war er im streitgegenständlichen Zeitraum hilfebedürftig iS von § 7 Abs 1 Nr 3 iVm § 9 Abs 1
SGB II. Als monatlicher Gesamtbedarf ergibt sich ein Betrag in Höhe von 480,60 Euro (347 Euro Regelleistung, 118,31 Euro Krankenversicherung
und 15,29 Euro Pflegeversicherung). Diesen Bedarf konnte der Kläger nicht aus eigenen Kräften und Mitteln decken.
b) Der Hilfebedürftigkeit des Klägers steht nicht entgegen, dass ihm zwei Tage vor Antragstellung Überbrückungsgeld nach §
51 StVollzG in Höhe von 1794 Euro ausgezahlt worden ist. Nach den allgemeinen Grundsätzen des Leistungsrechts des SGB II stellt das Überbrückungsgeld
hier Vermögen dar (dazu unter aa). Die gesetzliche Zweckbestimmung des §
51 StVollzG führt nicht zu einem Ausschluss des Leistungsanspruchs (dazu unter bb). Auf die Rechtsauffassung des LSG, dass jedenfalls
das vor Antragstellung zur Schuldentilgung verwandte Überbrückungsgeld nicht als Einkommen zu berücksichtigen ist, kommt es
danach nicht mehr an (dazu unter c).
aa) Das nach §
51 StVollzG gewährte Überbrückungsgeld ist vorliegend, ausgehend von den von den Grundsicherungssenaten des Bundessozialgerichts (BSG)
entwickelten Kriterien, als Vermögen einzuordnen. Maßgeblich für diese Abgrenzung ist allein der Zeitpunkt der Antragstellung
gemäß § 37 SGB II. Einkommen iS des § 11 Abs 1 SGB II ist grundsätzlich alles das, was jemand nach Antragstellung wertmäßig
dazu erhält, und Vermögen das, was er vor Antragstellung bereits hatte (stRspr grundlegend BSG Urteile vom 30.7.2008 - B 14 AS 26/07 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 17 und vom 30.9.2008 - B 4 AS 29/07 R - BSGE 101, 291 = SozR 4-4200 § 11 Nr 15). Da das Überbrückungsgeld nach den Feststellungen des LSG vor Antragstellung zugeflossen ist und
der Höhe nach die Freibeträge nach § 12 Abs 2 SGB II nicht überschreitet, war es nicht leistungsmindernd zu berücksichtigen.
bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der allgemeinen Zweckbestimmung des Überbrückungsgeldes. Nach §
51 Abs
1 StVollzG ist das Überbrückungsgeld aus Bezügen des Gefangenen zu bilden, die dieser während der Haftzeit, zB durch Beschäftigungsverhältnisse,
erhält. Es soll den notwendigen Lebensunterhalt des Gefangenen und seiner Unterhaltsberechtigten für die ersten vier Wochen
nach der Haftentlassung sichern. Durch §
51 StVollzG ist die Verfügungsbefugnis des Gefangenen über seine Bezüge eingeschränkt, diese werden aber zugleich vor dem Zugriff der
Gläubiger geschützt, um den Gesetzeszweck sicherzustellen (vgl zu diesem Komplex Calliess/Müller-Dietz,
StVollzG, 11. Aufl 2008, §
51 RdNr 1 ff). Eine vorzeitige Inanspruchnahme des Überbrückungsgeldes ist nur unter engen Einschränkungen möglich (vgl hierzu
Arloth,
StVollzG, 3. Aufl 2011, §
51 Nr 10 mwN).
Aus dem genannten Normzweck des §
51 StVollzG hat das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 21.6.1990 - 5 C 64/86 - Buchholz 436.0 § 88 BSHG Nr 19) den Schluss gezogen, dass - unabhängig von der Einordnung des Überbrückungsgeldes als Einkommen oder Vermögen - dieses
der Freistellung von der Sozialhilfe diene. Der Festlegung einer bestimmten Höhe des Überbrückungsgeldes komme die Funktion
zu, einen ohne Überbrückungsgeld bestehenden Sozialhilfeanspruch zu beseitigen. Demgegenüber hat die Rechtsprechung des BSG
unter dem im Vergleich zum Bundessozialhilfegesetz veränderten Blickwinkel des SGB II den Grundsatz entwickelt, dass es nicht auf die Funktion der Leistung ankommt, sondern
die Berücksichtigungsfähigkeit unter Zuordnung der erhaltenen Summe als Einkommen oder Vermögen allein an das konstitutive
Antragserfordernis gemäß § 37 SGB II gekoppelt ist (BSG Urteil vom 30.7.2008 - B 14 AS 26/07 R SozR, aaO). Dementsprechend werden auch Leistungen nach dem Zeitpunkt des Zuflusses als Einkommen oder Vermögen gewertet,
deren Zweck die Sicherung des Lebensunterhalts ist (vgl zum Krankengeld BSG Urteil vom 16.12.2008 - B 4 AS 70/07 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 19; zu Abfindungszahlungen aus arbeitsgerichtlichem Vergleich BSG Urteil vom 3.3.2009 - B 4 AS 47/08 R - BSGE 102, 295 = SozR 4-4200 § 11 Nr 24; zum Insolvenzgeld BSG Urteil vom 13.5.2009 - B 4 AS 29/08 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 22; für das Überbrückungsgeld nach § 57 Sozialgesetzbuch Drittes Buch [SGB III] in der bis zum 31.7.2006
geltenden Fassung BSG Urteil vom 30.7.2008 - B 14/11b AS 17/07 R). Der Senat sieht keinen Anlass, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Die Zweckbestimmung des §
51 StVollzG geht nicht über das hinaus, was bei Entgeltersatzleistungen (etwa im Anschluss an Beschäftigung oder bei Aufnahme einer selbstständigen
Tätigkeit) als Zweck dient, nämlich letztlich die Sicherung des Lebensunterhalts.
c) Da im vorliegenden Fall der Geldzufluss vor Antragstellung lag, kommt es auf die vom LSG aufgeworfene Frage, ob das wegen
seiner besonderen Zweckbestimmung die Hilfebedürftigkeit für einen bestimmten Zeitraum grundsätzlich ausschließende Überbrückungsgeld
nach §
51 StVollzG dann ausnahmsweise nicht zu berücksichtigen ist, wenn dieses vor Antragstellung zur Schuldentilgung verwendet wird, nicht
mehr an.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.