Erstattung der notwendigen Kosten eines Widerspruchsverfahrens; Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts gegen eine
Mahnung der ARGE
Gründe:
I
Streitig sind die Erstattung der Kosten eines Widerspruchsverfahrens sowie die Notwendigkeit der Zuziehung eines Rechtsanwalts.
Die Klägerin steht seit 2005 im laufenden Bezug von Leistungen nach dem SGB II durch die Arbeitsgemeinschaft für Beschäftigung München GmbH - ARGE - (nunmehr Jobcenter Landeshauptstadt München). Im Mai
2008 wurde für die Klägerin vom AG München eine Betreuerin bestellt. Der Aufgabenkreis umfasst ua die gerichtliche und außergerichtliche
Vertretung für den Bereich der Vermögenssorge einschließlich Schuldenregulierung, Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen,
Renten- und Sozialleistungsträgern.
Bereits mit Bescheid vom 17.4.2007 machte die Arbeitsgemeinschaft für Beschäftigung München GmbH gegenüber der Klägerin eine
Erstattungsforderung wegen überzahlter Leistungen in Höhe von 351,87 Euro geltend. Dem hiergegen erhobenen Widerspruch half
die Arbeitsgemeinschaft mit Bescheid vom 9.7.2008 ab.
Mit Schreiben vom 20.5.2007, tituliert als "Mahnung", forderte die Beklagte die Klägerin zur Zahlung des von der ARGE geltend
gemachten Erstattungsbetrages auf und machte in diesem Schreiben zusätzlich Mahngebühren in Höhe von 2,05 Euro geltend. Hiergegen
legte die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten Widerspruch ein und führte zur Begründung aus, dass der gegen den Bescheid
vom 17.4.2007 erhobene Widerspruch aufschiebende Wirkung habe und die Forderung daher nicht fällig sei.
Nachdem die Beklagte am 13.7.2007 die Forderung gegen die Klägerin "mit Widerspruch eingelegt" kennzeichnete, wurde die Mahngebühr
storniert. Mit Bescheid vom 13.11.2007 verwarf die Beklagte den Widerspruch als unzulässig und lehnte die Erstattung der im
Widerspruchsverfahren entstandenen notwendigen Aufwendungen ab.
Auf die Klage änderte das SG den Widerspruchsbescheid vom 13.11.2007 im Tenor unter Ziffer 2 dahingehend ab, dass die Beklagte die notwendigen Kosten
des Widerspruchsverfahrens zu erstatten habe und die Zuziehung eines Bevollmächtigten für notwendig erklärt werde (Gerichtsbescheid
vom 5.11.2009). Die hiergegen vom SG zugelassene und von der Beklagten eingelegte Berufung wies das LSG zurück (Urteil vom 12.5.2010). Zur Begründung hat es im
Wesentlichen ausgeführt: Das SG habe die Beklagte zu Recht verurteilt, die Kosten des Widerspruchsverfahrens zu erstatten und die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts
für erforderlich erklärt. Dies folge aus § 63 SGB X. Das Schreiben der Beklagten vom 20.5.2007 enthalte insoweit einen Verwaltungsakt, als gegenüber der Klägerin Mahngebühren
festgesetzt worden seien. Es handele sich aufgrund gesetzlicher Grundlage um ein hoheitliches Handeln mit Außenwirkung zur
Regelung eines Einzelfalls. Die Regelung bestehe darin, dass der Adressat unmittelbar verpflichtet werde, die Mahngebühr zu
zahlen. Der Rechtsgrund für das Entstehen der Mahngebühr werde erst durch die Mahnung selbst begründet, daher teile die Mahngebühr,
als von der Mahnung unabhängig, nicht den Rechtscharakter der Mahnung. Der auf Aufhebung gerichtete Widerspruch der Klägerin
sei daher zulässig und begründet. Die der Mahngebühr zugrundeliegende Forderung sei nicht fällig gewesen und die Beklagte
habe die Mahngebühr aufgehoben. Angesichts dessen komme es auch nicht darauf an, ob die Beklagte überhaupt in eigenem Namen
Mahngebühren erheben könne. Die Beklagte habe die Mahngebühr aufgehoben, sodass der Widerspruch erfolgreich gewesen sei und
die Beklagte die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten habe. Eine ursächliche Verknüpfung zwischen der Widerspruchserhebung
und der begünstigenden Entscheidung der Beklagten bestehe insoweit, als die Beklagte die Mahngebühr nach Bestätigung der Widerspruchseinlegung
durch die ARGE und entsprechender Kennzeichnung der Forderung aufgehoben habe. Auch sei die Hinzuziehung des Rechtsanwalts
notwendig gewesen. Der Klägerin sei aufgrund ihrer individuellen Fähigkeiten nicht zuzumuten gewesen, das Verfahren alleine
zu betreiben. Dies habe sich durch die Ausführungen des Prozessbevollmächtigten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung
- die Klägerin sei Analphabetin und stehe zwischenzeitlich sogar unter Betreuung - zur Überzeugung des Senats verfestigt.
Die Beklagte rügt - nach Zulassung der Revision durch den Senat mit Beschluss vom 6.4.2011 (B 4 AS 160/10 B) - nur noch die Verletzung materiellen Rechts - des § 63 Abs 2 SGB X. Zwar habe das BSG mit Urteil vom 26.5.2011 - B 14 AS 54/10 R - inzwischen entschieden, dass es sich bei der Festsetzung von Mahngebühren um einen Verwaltungsakt handele, der mit Widerspruch
und Anfechtungsklage angefochten werden könne. Die Rechtsauffassung des LSG zu diesem Punkt sei daher nicht zu beanstanden.
Unabhängig von der Frage, ob der Widerspruch vorliegend "erfolgreich" iS des § 63 Abs 1 S 1 SGB X gewesen sei, sei jedenfalls die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts nicht "notwendig" iS des § 63 Abs 2 SGB X gewesen. Der Klägerin sei zuzumuten gewesen, das Verfahren selbst zu führen. So habe sie noch vor Widerspruchserhebung durch
ihren Prozessbevollmächtigten bei der Beklagten telefonisch eine Ratenzahlungsvereinbarung, die auch die Mahngebühr beinhaltet
habe, geschlossen. Dies zeige, dass sie durchaus auch ohne anwaltliche Beratung imstande gewesen sei, ihre Rechte eigenständig
wahrzunehmen. Zudem impliziere bereits das Verhältnis der Höhe der Mahngebühr an sich als auch im Verhältnis zur Hauptforderung,
dass bei objektiver Betrachtung ein vernünftiger Bürger sich keines Rechtsanwalts bedient hätte.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. Mai 2010 sowie den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom
5. November 2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Eine Verletzung des § 63 SGB X durch das LSG sei nicht ersichtlich. Ein rechtswidriger Verwaltungsakt müsse nicht hingenommen werden. Auch die Geringfügigkeit
der Mahngebühr rechtfertige nicht, von einem Kostenübernahmeerfordernis abzusehen. Allenfalls sei denkbar, im Rahmen der Entscheidung
bezüglich der Höhe der geltend gemachten Anwaltsgebühr Abstriche zu machen, nicht jedoch dem Grunde nach.
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet.
Das LSG hat zu Recht entschieden, dass die Beklagte der Klägerin die für den Widerspruch mit Schreiben vom 18.6.2007 entstandenen
notwendigen Aufwendungen zu erstatten hat.
1. Von Amts wegen zu beachtende Verfahrensfehler liegen nicht vor. An der Prozessfähigkeit der Klägerin bestehen keine durchgreifenden
Zweifel. Jedenfalls wäre ein etwaiger Mangel in der Prozessführung durch ausdrückliche Genehmigung der Betreuerin geheilt.
2. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist ausschließlich die Entscheidung über die Erstattung der zur zweckentsprechenden
Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen im Widerspruchsbescheid vom 13.11.2007 für das Vorverfahren gegen die Festsetzung
der Mahngebühren mit Schreiben vom 20.5.2007. Die Klägerin hat ihr Begehren ausdrücklich hierauf beschränkt. Sie verfolgt
ihr Begehren zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§
54 Abs
4 SGG).
3. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, dass die Klägerin gegen die Beklagte Anspruch auf Aufwendungsersatz gemäß
§ 63 Abs 1 S 1 SGB X hat.
Nach § 63 Abs 1 S 1 SGB X hat der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat,
die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten, soweit der Widerspruch
erfolgreich ist.
Der Anwendungsbereich des § 63 Abs 1 S 1 SGB X ist eröffnet, weil die Verwerfung des Widerspruchs als unzulässig durch die Beklagte zu Unrecht erfolgte. Vielmehr handelt
es sich bei der in der Mahnung enthaltenen Festsetzung von Mahngebühren um einen Verwaltungsakt gemäß § 31 SGB X, der mit Widerspruch und Anfechtungsklage angefochten werden kann. Der erkennende Senat schließt sich insoweit der Auffassung
des 14. Senats des BSG, die Festsetzung von Mahngebühren enthalte eine für den betroffenen Schuldner verbindliche Einzelfallregelung, ausdrücklich
an (s zur Verwaltungsaktqualität der Festsetzung von Mahngebühren und zur Unzulässigkeit der Übertragung der Aufgabe "Forderungseinzug"
auf die BA: BSG Urteil vom 26.5.2011 - B 14 AS 54/10 R - BSGE 108, 229 = SozR 4-4200 § 44b Nr 3). Es kann deshalb unentschieden bleiben, ob die Rechtsprechung des BSG, dass die Geltendmachung einer Forderung selbst durch Mahnung kein Verwaltungsakt sei (vgl BSG Beschluss vom 5.8.1997 - 11 BAr 95/97 - juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 7.6.1999 - B 7 AL 264/98 B - juris RdNr 8) auch Fallgestaltungen erfasst, bei denen die Mahnung durch eine unzuständige Behörde erfolgt (hierzu BSG Urteil vom 26.5.2011 - B 14 AS 54/10 R - BSGE 108, 229 = SozR 4-4200 § 44b Nr 3, jeweils RdNr 18 ff).
Der Widerspruch der Klägerin gegen das Schreiben der Beklagten vom 20.5.2008 war auch erfolgreich. Erfolg iS des § 63 Abs 1 S 1 SGB X hat nach der ständigen Rechtsprechung des BSG der Widerspruch dann, wenn die Behörde ihm stattgibt (vgl zuletzt BSG Urteil vom 19.6.2012 - B 4 AS 142/11 R sowie BSG Urteile vom 21.7.1992 - 4 RA 20/91 - SozR 3-1300 § 63 Nr 3, S 13; vom 17.10.2006 - B 5 RJ 66/04 R - SozR 4-1300 § 63 Nr 5 RdNr 14; vom 20.10.2010 - B 13 R 15/10 R - SozR 4-1500 § 193 Nr 6 RdNr 30; vom 2.5.2012 - B 11 AL 23/10 R - zur Veröffentlichung vorgesehen). Dabei ist der Erfolg oder Misserfolg eines eingelegten Widerspruchs am tatsächlichen
(äußeren) Verfahrensgang der §§
78 ff
SGG zu messen. Die Beklagte hat ihm dadurch stattgegeben, dass sie die Mahngebühr storniert hat und dies gegenüber der Klägerin
verlautbart hat. Unerheblich ist insoweit, aus welchen Gründen der Widerspruch in der Sache Erfolg hatte.
4. Die Beklagte kann sich insoweit auch nicht darauf berufen, dass ein Kostenerstattungsanspruch der Klägerin gegen die Beklagte
hinsichtlich der Gebühren und Auslagen des bevollmächtigten Rechtsanwalts mit Rücksicht auf die geringe Höhe der Mahngebühr
ausscheide. Insoweit ist mit den Tatsacheninstanzen zu erkennen, dass die Zuziehung eines Rechtsanwalts notwendig iS des §
63 Abs 2 SGB X gewesen ist. Nach dieser Vorschrift sind die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Bevollmächtigten
erstattungsfähig, wenn die Zuziehung eines Bevollmächtigten notwendig ist. Es ist insoweit auf die Sicht eines verständigen
Beteiligten im Zeitpunkt der Beauftragung abzustellen (vgl nur Roos in von Wulffen, 7. Aufl 2010, § 63 RdNr 26; Feddern in jurisPK-SGB X § 63 RdNr 33 f).
Ob die Zuziehung eines Rechtsanwalts notwendig ist, kann nicht allein anhand des im Widerspruchsverfahren geltend gemachten
Betrages beurteilt werden. Insoweit kann sinngemäß zur weiteren Ausfüllung des Merkmals auf die Grundsätze zurückgegriffen
werden, die das BVerfG zum Merkmal der Erforderlichkeit von Prozesskostenhilfe entwickelt hat (BVerfG vom 24.3.2011 - 1 BvR 2493/10 - NZS 2011, 775; BVerfG vom 24.3.2011 - 1 BvR 1737/10 - NJW 2011, 2039). Entscheidender Maßstab ist hiernach nicht das Verhältnis von Streitwert und Kostenrisiko, sondern die Wahrung des Grundsatzes
der Waffengleichheit. Da dem Widerspruchsführer rechtskundige und prozesserfahrene Vertreter einer Behörde gegenüberstehen,
kann die Notwendigkeit einer Zuziehung nur ausnahmsweise verneint werden. Denn es ist davon auszugehen, dass die Beauftragung
eines Rechtsanwalts mit der Wahrnehmung der eigenen Interessen regelmäßig erfolgt, wenn im Kenntnisstand und Fähigkeiten der
Prozessparteien ein deutliches Ungleichgewicht besteht.
Die vorstehenden Grundsätze werden durch das Urteil des 14. Senats des BSG vom 12.7.2012 - B 14 AS 35/12 R - zur Veröffentlichung vorgesehen - nicht infrage gestellt. Zwar ist mit dieser Entscheidung das Rechtsschutzbedürfnis
für ein Klagebegehren in der Hauptsache verneint worden, das aus Sicht des Klägers denkbar allein auf die Verletzung der Rundungsregelung
des § 41 Abs 2 SGB II gestützt werden konnte. Gleichwohl hat der 14. Senat jedoch ausgeführt, dass die Höhe der geltend gemachten Forderung nicht
"schlechterdings und für sich allein betrachtet zum Fehlen des Rechtsschutzbedürfnisses" führe. Vielmehr fehle es am Rechtschutzbedürfnis
nur dann, wenn besondere Umstände vorlägen, die das subjektive oder objektive Interesse an der Durchführung des Rechtsstreits
entfallen ließen. Derartige besondere Umstände hat der 14. Senat bei einem isolierten Streit über die Anwendung der Rundungsregelung
angenommen, die nicht aus Gründen der Existenzsicherung sondern zur Vereinfachung verwaltungsinterner Abläufe geschaffen worden
sei. Eine Abkehr vom "Grundsatz der Waffengleichheit" kann aus dieser Entscheidung folglich nicht hergeleitet werden.
Die hier vorliegenden Gesamtumstände rechtfertigen die Annahme einer Ausnahme nicht. Ein derartiger - hier jedoch nicht vorliegender
- Ausnahmefall kann in Fällen der vorliegenden Art zB erwogen werden, wenn es um die Klärung tatsächlicher Fragen geht oder
aus dem angegriffenen Bescheid ersichtlich ist, dass die Entscheidung auf einem Missverständnis beruht, das vom Widersprechenden
leicht aufzuklären ist. Die Klägerin konnte der Mahnung insbesondere nicht entnehmen, dass die Geltendmachung der Forderung
einschließlich der Mahngebühren auf der Vorstellung beruhte, dass kein Widerspruch gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid
eingelegt worden war.
Der zu beurteilende Sachverhalt ist im Übrigen dadurch gekennzeichnet, dass sich die Klägerin der Geltendmachung des gesamten
Rückforderungsbetrages zuzüglich der fraglichen Mahngebühren durch eine unzuständige Behörde ausgesetzt sah. In einer derartigen
Situation lag die Einschaltung eines Rechtsanwalts für einen verständigen Betroffenen jedenfalls nahe.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.