Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren, Verfahrensfehler bei der Beweiserhebung
Gründe:
Das Thüringer Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 29.5.2006 einen Anspruch des Klägers auf Gewährung von Rente wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit im Wesentlichen mit folgender Begründung verneint: Es könne offenbleiben, ob der Kläger seine
letzte versicherungspflichtig ausgeübte Tätigkeit als Hilfsarbeiter (Lackierer und Grundierer in einer Tischlerei) noch ausüben
könne. Er sei jedenfalls sowohl sozial zumutbar als auch nach seinem gesundheitlichen Leistungsvermögen auf die Tätigkeit
eines Produktionshelfers verweisbar. Diese Tätigkeit könne er trotz seiner vorhandenen gesundheitlichen Beschwerden ausüben.
Es handele sich um einfachste wiederkehrende und körperlich leichte Tätigkeiten, die sich nicht aus dem Kreis der ungelernten
Tätigkeiten hervorhöben und ohne jegliche Ausbildung nach einer Unterweisungszeit von in der Regel drei Tagen ausgeführt werden
könnten. Ein konkretes Beispiel für diese Tätigkeiten seien leichte Verpackungstätigkeiten in einem Unternehmen der Dentalbranche.
Dem Anforderungsprofil derartiger Tätigkeiten entspreche das von dem Sachverständigen Prof. Dr. W. festgestellte Leistungsvermögen
des Klägers. Danach sei der Kläger in der Lage, vollschichtig acht Stunden täglich an fünf Tagen in der Woche mittelschwere
Arbeiten und somit auch die Produktionshelfertätigkeiten ohne besondere Einschränkungen durchzuführen. Angesichts der Feststellungen
von Prof. Dr. W. vermöge der Berufungssenat dem Gutachten von Prof. Dr. F. vom 15.8.2001, dem Gutachten des Arztes F. vom
27.10.2004, den berufsgenossenschaftlichen Rentengutachten von Prof. Dr. E. vom 27.4.2001 und 26.5.2004 sowie dem Privatgutachten
von Dr. Fi. vom 12.9.2002 nicht zu folgen. Auch die von dem behandelnden Arzt Dr. M. unter dem 21.10.2002 berichtete Hirnstammbeteiligung
einer zentralen Gleichgewichtsstörung habe der Sachverständige nicht verifizieren können. Ebenso wenig habe er die von Dr.
K. unter dem 15.8.2003 gestellten Diagnosen einer multisensorischen neurootologischen Funktionsstörung, einer zentralen Gleichgewichtsfunktionsstörung
vom Typ der labilen Hirnstammenthemmung, der Hirnstamm-taumeligkeit, der zentralen Reaktionshemmung des optokinetischen Systems
und der pontomedullären Hörbahnstörung feststellen können. Angesichts der vorliegenden medizinischen Unterlagen sehe sich
der Berufungssenat nicht gedrängt, ein neurootologisches Sachverständigengutachten eines HNO-Arztes einzuholen.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil rügt der Kläger als Verfahrensfehler, das LSG
sei seinem im Termin zur mündlichen Verhandlung gestellten Antrag auf Einholung eines neurootologischen Gutachtens bei der
Universität Würzburg zur Abklärung der bestehenden erheblichen Gleichgewichtsstörungen und deren Auswirkungen auf das Leistungsvermögen
ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt. Außerdem werde die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs gerügt,
weil das LSG auf den neurootologischen Befundbericht von Dr. M. vom 11.5.2006 mit keinem Wort eingegangen sei.
In diesem Befundbericht werde eine Verschlechterung gegenüber den im Jahre 2002 erhobenen Befunden festgestellt und das Vorliegen
einer neurootologischen Funktionsstörung im Sinne einer Wahrnehmungsstörung und zentralen Gleichgewichtsstörung mit Stammhirnbeteiligung
bescheinigt. Im Hinblick darauf, dass die neurologische Untersuchung durch den Sachverständigen Prof. Dr. W. vom 13.1.2003
datiere und möglicherweise als nicht mehr aktuell zu erachten sei, habe der Berufungssenat die festgestellte Befundverschlechterung
diskutieren müssen.
Die Beschwerde ist zulässig und auch begründet.
Der vom Kläger gerügte Verfahrensverstoß der mangelnden Sachaufklärung liegt vor.
Der Kläger hat die Verletzung des §
103 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) hinreichend bezeichnet; die Rüge trifft auch zu. Das LSG ist einem vom Kläger im Berufungsverfahren gestellten und bis zuletzt
aufrechterhaltenen Beweisantrag auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens zu Unrecht nicht gefolgt.
Zutreffend führt der Kläger aus, er habe in der mündlichen Verhandlung den Antrag auf Einholung eines neurootologischen Gutachtens
gestellt. Dies belegt das Protokoll der mündlichen Verhandlung; auch ist das LSG auf diesen Antrag - jedenfalls sinngemäß
- in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils eingegangen. Bei dem Antrag des Klägers handelte es sich um einen
Beweisantrag iS des §
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 2
SGG. Denn mit ihm hat der Kläger dem LSG in der mündlichen Verhandlung hinreichend deutlich vor Augen geführt, dass er die gerichtliche
Aufklärungspflicht in einem bestimmten Punkt noch nicht als erfüllt angesehen hat (so genannte Warnfunktion, vgl BSG SozR
3-1500 § 160 Nr 9 S 21). Es handelte sich auch um einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag, der - jedenfalls zusammen mit
den übrigen Ausführungen des Klägers im Berufungsverfahren - den Beweisgegenstand bzw das Beweisthema ausreichend bezeichnet
hat. Aus dem Antrag selbst ergibt sich zwar nicht bereits das Ziel der beantragten Beweiserhebung, doch hat der Kläger in
der mündlichen Verhandlung ersichtlich nur den im Schriftsatz vom 15.5.2006 angekündigten Beweisantrag quasi in Kurzform wiederholt.
In dem Schriftsatz vom 15.5.2006 hatte der Kläger unter Hinweis auf die vorgelegte ärztliche Stellungnahme von Dr. M. vom
11.5.2006 beantragt, zur Abklärung der Schwindelerscheinungen und Gleichgewichtsstörungen ein Gutachten bei der Universität
Würzburg, Abteilung Neurootologie, einzuholen.
Das LSG ist diesem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt und hat eine weitere Beweiserhebung ohne objektiv
ausreichenden Grund unterlassen (vgl hierzu Meyer-Ladewig in ders/Keller/Leitherer,
SGG, 8. Aufl 2005, §
160 RdNr 18). Das Gericht muss von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, Gebrauch machen
(BSGE 30, 192, 205 = SozR Nr 20 zu § 1247
RVO S Aa 25R). Von einer Beweisaufnahme darf es nur dann absehen bzw einen Beweisantrag nur dann ablehnen, wenn es auf die ungeklärte
Tatsache nicht ankommt, wenn sie also als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder unerreichbar
ist, wenn die behauptete Tatsache bzw ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig
ist (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 8. Aufl 2005, §
103 RdNr 8 mwN).
Das LSG durfte den Beweisantrag nicht mit der Begründung übergehen, der Sachverhalt sei angesichts der umfangreichen neurologischen
Begutachtung durch Prof. Dr. W. im Januar 2003 geklärt. Eine Stammhirnschädigung sei aus neurologischer Sicht ausgeschlossen
und könne somit durch ein weiteres neurootologisches Sachverständigengutachten nicht nachgewiesen werden. Das LSG hätte sich
vielmehr gedrängt fühlen müssen aufzuklären, ob eine Verschlechterung im Gesundheitszustand des Klägers hinsichtlich seiner
Schwindelzustände und Gleichgewichtsstörungen eingetreten ist. Denn mit dem vom Kläger vorgelegten Bericht von Dr. M. vom
11.5.2006 wird eine Verschlechterung im Gesundheitszustand des Klägers beschrieben, deren Abklärung - unabhängig von der Ursache
der Erkrankung - nicht offenbleiben durfte. Dr. M. verweist in seinem Bericht auf massive Gleichgewichtsstörungen, während
der Sachverständige in seinem im Januar 2003 erstellten Gutachten derartige Störungen nicht festgestellt hatte. Zwar zwingt
allein der Umstand, dass die Erstellung eines Sachverständigengutachtens schon länger zurückliegt, nicht bereits zu einer
erneuten Beweiserhebung, wenn neuere Untersuchungsergebnisse vorgelegt werden. Ebenso wenig vermögen einander widersprechende
Bewertungen des gesundheitlichen Leistungsvermögens eines Rentenantragstellers durch verschiedene Ärzte das Gericht in jedem
Fall zu weiteren Begutachtungen verpflichten (vgl BSG vom 19.11.2007 - B 5a/5 R 382/06 B - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Die Entscheidung der Tatsacheninstanz ist aber dann vom Grundsatz der freien
Beweiswürdigung nicht mehr gedeckt, wenn deren Tatsachengrundlage erschüttert wird - etwa indem eine erhebliche Befundverschlechterung
oder eine bisher nicht berücksichtigte gravierende Gesundheitsstörung bescheinigt wird. Denn solche neuen Befunde können von
einem mehrere Jahre zuvor erstellten Gutachten nicht als mitbewertet angesehen werden. Es liegen auch keine Anzeichen dafür
vor, dass der von Dr. M. vorgelegte Bericht aus bloßer Gefälligkeit gegenüber dem Kläger abgegeben worden ist. Der behandelnde
Arzt hat darauf hingewiesen, dass sich die Verschlechterung auf Grund einer aktuellen neurootologischen Untersuchung ergeben
habe. Allein dieser Umstand hätte das LSG veranlassen müssen, dem näher nachzugehen. Dagegen hat sich das LSG mit diesem Bericht
nicht auseinandergesetzt und ihn noch nicht einmal in seinem Urteil erwähnt. Auch die zuletzt von Prof. Dr. W. abgegebene
Stellungnahme vom 15.5.2006 zur Fähigkeit des Klägers, als Produktionshelfer tätig sein zu können, hat den Bericht von Dr.
M. vom 11.5.2006 nicht berücksichtigen können, weil dieser dem Sachverständigen nicht vorgelegt worden war.
Das LSG hätte sich vorliegend umso mehr gehalten sehen müssen, das beantragte neurootologische Gutachten einzuholen, weil
mit dem neuerlichen Befund von Dr. M. die Zweifel an der vollständigen Erfassung des Gesundheitszustands des Klägers durch
Prof. Dr. W. bestärkt wurden. Ungeachtet des umstrittenen Kausalzusammenhangs der vom Kläger geklagten Beschwerden mit seinem
Arbeitsunfall sind diese Beschwerden doch von einer Vielzahl von Ärzten vor und vor allem auch in der Zeit nach der Untersuchung
durch Prof. Dr. W. bestätigt worden. So ist ua auffällig, dass die für die Berufsgenossenschaft tätige Gutachterin Prof. Dr.
E. in ihrem Gutachten vom 27.4.2001 mit Rücksicht auf Koordinations- und Sehstörungen sowie Muskelzittern ungeachtet der Kausalitätsfrage
eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100 vH annimmt und diese Einschätzung auch in ihrem zweiten Gutachten vom 26.5.2004
bestätigt. Außerdem haben Prof. Dr. F. in dem Gutachten vom 15.8.2001, der Arzt F. im Gutachten vom 27.10.2004, Dr. Fi. in
seiner Stellungnahme vom 12.9.2002 und die behandelnde Ärztin Dr. St. in ihrem Bericht vom 31.3.2006 über Schwindelerscheinungen
und Leistungsschwäche beim Kläger berichtet. Zu all diesen medizinischen Stellungnahmen und Berichten ist ausschließlich Prof.
Dr. W. immer wieder gehört worden, der seine gegenteilige Ansicht, eine Minderung der gesundheitlichen Leistungsfähigkeit
sei nicht objektivierbar, allein auf die von ihm selbst durchgeführte einmalige Untersuchung gestützt hat. Als einzige Bestätigung
für die Richtigkeit der Beurteilung durch Prof. Dr. W. vermochte sich das LSG demzufolge auch nur auf den Entlassungsbericht
vom 22.11.1996 und den Befundbericht des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. Fr. vom 28.11.1995 stützen. Diese letzteren
Berichte sind indes ungeeignet, die spätere Entwicklung im Krankheitsverlauf des Klägers im Sinne der Feststellungen von Prof.
Dr. W. zu untermauern.
Dabei geht es - wie schon erwähnt - nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie um die unterschiedliche Beurteilung des Leistungsvermögens
des Klägers durch den Sachverständigen Prof. Dr. W. einerseits und durch Prof. Dr. E., den Arzt F. und den Sachverständigen
Prof. Dr. F. andererseits. Die voneinander abweichenden Beurteilungen beruhen vielmehr auf völlig unterschiedlichen Diagnosen
und Befunden, sodass die Frage, ob der Kläger tatsächlich an den behaupteten Schwindelerscheinungen und Gleichgewichtsstörungen
leidet, trotz des Gutachtens von Prof. Dr. W. nicht als endgültig geklärt erscheint. Schließlich hat nicht nur Dr. M. in seinem
Bericht vom 11.5.2006 auf bestehende Gleichgewichtsstörungen und Schwindelerscheinungen hingewiesen. Zwar hat Prof. Dr. W.
als Neurologe diese Gesundheitsstörungen nicht objektivieren können, doch könnte im Hinblick darauf, dass gerade von HNO-ärztlicher
Seite (Dr. K., Dr. M.) und auch aus arbeitsmedizinischer Sicht (Prof. Dr. E.) das Vorhandensein dieser Gesundheitsstörungen
bescheinigt wird, ein neurootologisches Gutachten geeignet sein, zu einer endgültigen Klärung beizutragen. Insoweit sind -
wie der Kläger zu Recht rügt - nicht alle Ermittlungsmöglichkeiten ausgeschöpft. Der Beweisantrag des Klägers zielt nicht
nur auf die Wiederholung einer rein neurologischen Untersuchung, wie sie von Prof. Dr. W. durchgeführt wurde, sondern weist
auch auf die Möglichkeit der Objektivierung der behaupteten Gesundheitsstörungen von Seiten eines spezielleren, nämlich des
neurootologischen Fachgebiets hin. Das vom Kläger beantragte neurootologische Gutachten kann somit zur endgültigen Klärung
des Krankheitsbildes beitragen und zusammen mit den bereits eingeholten Gutachten eine besser geeignete Grundlage für eine
zuverlässige Einschätzung des Leistungsvermögens abgeben.
Auf dem oben aufgezeigten Verfahrensmangel kann die Entscheidung des LSG beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht
nach Einholung des beantragten Gutachtens zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre, weil bei einer Bestätigung
der vom Kläger geklagten Beschwerden die Tätigkeit eines Produktionshelfers nicht mehr in Betracht kommt. Da das LSG offengelassen
hat, ob eine Summierung von Leistungseinschränkungen vorliegt und deshalb eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen ist,
wäre es bei der Annahme einer Summierung unter Umständen gehalten, eine andere Verweisungstätigkeit zu benennen.
Die Voraussetzungen des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG liegen somit vor. Der Senat hebt gemäß §
160a Abs
5 SGG in Ausübung seines Ermessens die angefochtene Berufungsentscheidung auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung an das LSG zurück. Da es im Rechtsstreit hauptsächlich um Tatsachenfeststellungen geht, sprechen prozessökonomische
Gründe für eine unmittelbare Zurückverweisung der Sache, zumal ein durch Zulassung eröffnetes Revisionsverfahren zu keinem
anderen Ergebnis führen könnte.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.