Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens im sozialgerichtlichen Verfahren durch einen unzutreffenden richterlichen
Hinweis bezüglich eines eingeholten Gutachtens
Gründe:
I. Mit Urteil vom 26.10.2005 hat das Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern (LSG) einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung
von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise Berufsunfähigkeit bzw wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung bis 30.11.2003
verneint und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin sei nicht berufsunfähig gewesen. Sie habe im streitigen
Zeitraum vollschichtig zumindest leichte körperliche Arbeiten unter Beachtung verschiedener qualitativer Leistungseinschränkungen
verrichten können. Dieses Leistungsvermögen ergebe sich aus den Gutachten Prof. Dr. K., Dr. M. und Dr. K. sowie den damit
übereinstimmenden Befundberichten der behandelnden Ärzte der Klägerin. Dem hiervon abweichenden, nach §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) eingeholten Gutachten Prof. Dr. E. habe sich der Senat nicht anschließen können. Das vom Gutachter angenommene aufgehobene
Leistungsvermögen der Klägerin sei angesichts der von ihm selbst erhobenen Befunde und Diagnosen nicht nachvollziehbar. Zudem
sei das Gutachten in sich widersprüchlich, da es sich trotz der Annahme eines aufgehobenen Leistungsvermögens teilweise mit
dem Gutachten Dr. M. und weitestgehend mit dem Gutachten Dr. K. einverstanden erklärt habe. Unter Berücksichtigung ihres bisherigen
Berufes als Empfangshelferin, der allenfalls eine einfache Angestelltentätigkeit darstelle, sei die Klägerin auf den allgemeinen
Arbeitsmarkt verweisbar, ohne dass es der konkreten Benennung einer Verweisungstätigkeit bedürfe. Ihr ursprünglicher Ausbildungsberuf
als Verkäuferin sei nicht maßgeblich, da nicht feststellbar sei, dass sie diesen 1963 gesundheitsbedingt aufgegeben habe.
Eine Vernehmung des Ehemanns der Klägerin als Zeugen hierzu sei nicht in Betracht gekommen, da dieser kein Mediziner sei und
damit nicht beurteilen könne, ob sie ihre damalige Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen habe aufgeben müssen. Mit dem festgestellten
Leistungsvermögen sei die Klägerin auch nicht erwerbsunfähig und erst recht nicht erwerbsgemindert im Sinne der ab 1.1.2001
geltenden rentenrechtlichen Vorschriften.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundessozialgericht
(BSG) eingelegt. Sie beruft sich auf das Vorliegen von Verfahrensmängeln iS von §
160 Abs
2 Nr
3 SGG. Das LSG habe in zweifacher Hinsicht ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Der Berufungssenat habe erst
in der mündlichen Verhandlung erklärt, das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. E. sei unbrauchbar, seine Schlussfolgerungen
seien nicht nachvollziehbar. Die daraufhin angeregte Anhörung des Gutachters habe das LSG mit dem Hinweis abgelehnt, bei einer
Beweiserhebung nach §
109 SGG sei es Sache der Klägerin, für ein schlüssiges Gutachten zu sorgen. Unter Zugrundelegung dieser Auffassung habe der Senat
auf seiner Meinung nach bestehende Unklarheiten vor der mündlichen Verhandlung hinweisen müssen, um ihr, der Klägerin, Gelegenheit
zu geben, selbst diese Unklarheiten durch Nachfrage bei dem Gutachter zu klären, "... ggf den Gutachter zu laden". Ferner
habe das Berufungsgericht ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs dadurch verletzt, dass es erst im Urteil darauf
hingewiesen habe, ihr Ehemann sei nicht geeignet, die gesundheitsbedingte Aufgabe des Berufs der Fachverkäuferin zu bezeugen.
II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
Die Klägerin hat eine Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß §
62 SGG, Art
103 Abs
1 Grundgesetz - hier in der Gestalt des unfairen Verfahrens - hinreichend bezeichnet. Nach ihrer Darstellung hat das LSG sie über ihre
prozessualen Möglichkeiten bei einem angeblich unklaren und unvollständigen Sachverständigengutachten nach §
109 SGG falsch informiert. Deshalb ist es ihr nicht anzulasten, dass sie in der Beschwerdebegründung das dadurch verhinderte, aber
ihr nach zutreffender Rechtsauffassung zu Gebote stehende Mittel - einen weiteren Beweisantrag - nur wenig präzise herausgestellt
hat. Andernfalls würde die unrichtige prozessuale Behandlung des LSG das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde präjudizieren.
Dies wäre mit dem Anspruch auf ein faires Verfahren, der instanzübergreifend wirkt, nicht vereinbar.
Die Rüge trifft auch zu. Das LSG hat sich zu Unrecht geweigert, den Sachverständigen Prof. Dr. E. anzuhören.
Gemäß §
118 Abs
1 Satz 1
SGG iVm §
411 Abs
3 Zivilprozessordnung (
ZPO) kann das Gericht das Erscheinen des Sachverständigen anordnen, damit er das schriftliche Gutachten erläutere. Diese dem
Tatsachengericht obliegende Ermessensentscheidung unterliegt der Überprüfung dahin, ob das Gericht sein Ermessen rechtsfehlerfrei
gebraucht hat. Die mündliche Erörterung ist jedenfalls dann geboten, wenn sie zur Klärung von Zweifeln oder zur Beseitigung
von Unklarheiten unumgänglich ist (BGH NJW 2001, 3269, 3270 = Juris RdNr 15 mwN); je nach den Umständen kann auch eine schriftliche Erläuterung des Gutachtens genügen (BSG SozR
3-1750 § 411 Nr 1 S 5 f mwN). Ein Anlass zu weiterer Klärung in diesem Sinne hat nach den eigenen Feststellungen des LSG bestanden.
Der Sachverständige Prof. Dr. E. ist zu dem Ergebnis gelangt, dass das Leistungsvermögen der Klägerin aufgehoben ist. Im angefochtenen
Urteil beurteilt das Berufungsgericht diese entscheidungserhebliche Einschätzung des Sachverständigen angesichts der von diesem
selbst erhobenen Befunde und Diagnosen als nicht nachvollziehbar und hält das Gutachten in Teilen für unverständlich, weil
der Sachverständige seinem Auftrag entweder nur unvollständig nachgekommen sei oder ihn nicht richtig verstanden habe. Von
seinem eigenen Standpunkt aus hätte das LSG mithin den Sachverständigen zur Aufklärung der festgestellten Unklarheiten bzw
zur Vervollständigung der angeblich lückenhaften Beantwortung der Beweisfragen hören müssen. Denn §
411 Abs
3 ZPO gilt nicht nur für Gutachten, die von Amts wegen eingeholt worden sind, sondern erfasst gleichermaßen Gutachten, die auf
Antrag eines Klägers nach §
109 SGG in Auftrag gegeben werden (BSG SozR 3-1750 § 411 Nr 1 S 5 mwN).
Mit ihrer Rüge ist die Klägerin im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nicht ausgeschlossen, obwohl sie im Berufungsverfahren
keinen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag gemäß §
118 Abs
1 Satz 1
SGG iVm §
411 Abs
3 ZPO auf Anhörung des Sachverständigen gestellt und bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung aufrechterhalten hat (vgl §
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 2
SGG). Das Urteil bestätigt zwar indirekt ihre in der mündlichen Verhandlung geäußerte Anregung, das LSG möge für die Vervollständigung
des Gutachtens sorgen. Ein diesbezüglicher Beweisantrag mit einem konkreten Beweisthema ist jedoch weder behauptet noch in
irgendeiner Form belegt, sodass eine auf den Aufklärungsmangel zielende Rüge auch dann keinen Erfolg haben könnte, wenn sie
- wie hier - als Gehörsrüge dargestellt wird, da ansonsten die Voraussetzungen des §
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 2
SGG umgangen würden. Da sich der Verfahrensfehler im konkreten Fall indessen nicht in einem Aufklärungsmangel erschöpft, gilt
hier ausnahmsweise etwas anderes.
Das Berufungsgericht hat nicht nur gegen die Pflicht verstoßen, den Sachverständigen Prof. Dr. E. anzuhören, sondern hat darüber
hinaus das Gebot eines fairen Verfahrens verletzt. Im Rahmen der Gewährung rechtlichen Gehörs darf das Gericht die Beteiligten
nicht mit einer Rechtsauffassung überrumpeln oder in sonstiger Weise unfair behandeln (BSG vom 6.9.1989 - 9 BV 64/88 - SozR 1500 § 160 Nr 70 S 78 = Juris RdNr 4); es darf aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine
Verfahrensnachteile für den Betroffenen ableiten (BVerfGE 78, 123, 126 = NJW 1988, 2787 = Juris RdNr 8).
Das LSG hat der Klägerin entgegen der Rechtslage erklärt, es sei Sache des Antragstellers, für die Schlüssigkeit eines nach
§
109 SGG eingeholten Gutachtens zu sorgen. Die Ausführungen, es sei nicht Aufgabe des Gerichts, Unklarheiten in einem solchen Gutachten
durch Nachfragen aufzuklären, mussten bei der Klägerin den Eindruck erwecken, sie selbst habe - ohne Einschaltung des Gerichts
- eine Erläuterung oder Ergänzung des Gutachtens beizubringen. Dementsprechend heißt es auch im schriftlichen Urteil, dass
bei einem Gutachten nach §
109 SGG Unklarheiten zu Lasten des Antragstellers gingen. Dieser Verfahrensfehler wiegt umso schwerer, als der Berufungssenat seinen
Rechtsstandpunkt der Klägerin ausweislich der Akten nicht schriftlich vor der mündlichen Verhandlung mitgeteilt hat, sodass
diese keine Gelegenheit hatte, der Rechtsauffassung des Gerichts folgend bis zur mündlichen Verhandlung weitere schriftliche
Ausführungen des Sachverständigen vorzulegen oder seine persönliche Anwesenheit zu veranlassen. Vielmehr war es für jeden
Versuch zur Nachbesserung des angeblich untauglichen Gutachtens seitens der Klägerin zu spät. Die erst während der mündlichen
Verhandlung erteilten und überdies unrichtigen rechtlichen Hinweise waren dazu geeignet, die Klägerin von der Stellung des
eigentlich erforderlichen Beweisantrags abzuhalten, sodass ihr dessen Fehlen im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nicht
zum Nachteil gereichen darf.
Die prozessrechtswidrige Weigerung des LSG, den Sachverständigen Prof. Dr. E. anzuhören, kann die Entscheidung beeinflusst
haben. Im Falle seiner Anhörung hätte der Sachverständige möglicherweise die vom Berufungssenat gestellten Beweisfragen vollständig
und schlüssig beantwortet. Es ist nicht auszuschließen, dass das Gericht dann zu einem für die Klägerin günstigeren Ergebnis
gelangt wäre oder den Sachverhalt hätte weiter aufklären müssen. Da die Beschwerde bereits aus den dargelegten Gründen erfolgreich
ist, bedarf es keiner Entscheidung des Senats, ob die weitere Gehörsrüge der Klägerin ebenfalls zulässig und begründet ist.
Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerung hat der Senat die Sache im Beschlusswege nach §
160a Abs
5 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Die Kostentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.