Fragerecht an einen Sachverständigen
Sachdienlichkeit einer Frage
Zweck des Fragerechts
Gründe:
I
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Im Mai 2011 beantragte der Kläger die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte holte darauf das Gutachten
des Chirurgen K. vom 20.11.2011 ein, nach dem der Kläger über ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte bis mittelschwere
Tätigkeiten verfügt. Mit Bescheid vom 11.11.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.2.2012 lehnte die Beklagte
den Rentenantrag insbesondere wegen Nichterfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen ab. Im Klageverfahren, in
dem der Kläger eine nicht abgeklärte Alkoholkrankheit geltend gemacht hat, hat das SG Hannover das nervenfachärztliche Gutachten
des Sachverständigen Dr. St. vom 14.5.2014 eingeholt. Dieser ist ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass dem Kläger weiterhin
körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten vollschichtig zumutbar sind. Während des Klageverfahrens hat das Amtsgericht
Syke auf Empfehlung des fachpsychiatrischen Gutachtens des Dr. M. vom 23.3.2011 für den Kläger einen Betreuer bestellt. Der
Sachverständige Dr. M. ist zu dem Ergebnis gelangt, dass bei dem Kläger eine schwere chronifizierte Alkoholabhängigkeit mit
einem beginnenden Korsakow-Syndrom vorliegt. Ferner hat Dr. M. den Kläger als bei der Untersuchung mindestens teilweise desorientiert
bei erheblichen Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie als körperlich und seelisch völlig verwahrlost beschrieben.
Daraufhin hat das SG Hannover das fachärztliche psychiatrische Gutachten des Sachverständigen Dr. D. vom 13.3.2015 eingeholt.
Dieser hat ebenfalls ein beginnendes Korsakow-Syndrom bei chronischer psychischer Alkoholabhängigkeit diagnostiziert und ist
von einem aufgehobenen Leistungsvermögen des Klägers jedenfalls seit Rentenantragstellung ausgegangen. Auf Nachfrage des SG hat der Sachverständige Dr. D. mit Schreiben vom 10.6.2015 mitgeteilt, dass möglicherweise bereits 2007 eine teilweise oder
auch volle Erwerbsminderung des Klägers vorgelegen habe. Es gebe jedoch keine Anknüpfungstatsachen, die eine solche Annahme
beweisen könnten. Der Kläger hat daraufhin die eidesstattliche Versicherung seines Sohnes B. vom 19.10.2015 vorgelegt, nach
der der Kläger regelmäßig bis zur Bewusstlosigkeit getrunken habe, was sich nach der Scheidung der Eltern 2002/2003 noch verschlimmert
habe. Danach sei der Vater total verwahrlost. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 5.11.2015 hat der Sachverständige Dr.
D. erklärt: "Legt man die eidesstattliche Erklärung als zutreffend zugrunde, so gibt es darüber ausreichende Anknüpfungstatsachen
dafür, dass die Leistungsfähigkeit von Herrn D. bereits seit 2005 ... aufgehoben war." Mit Urteil vom 10.5.2016 hat das SG die Klage abgewiesen. Es lasse sich nicht feststellen, dass die medizinischen Voraussetzungen einer Erwerbsminderung bereits
zu einem Zeitpunkt vor Ende Juli 2007 vorgelegen hätten, zu dem die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen noch erfüllt
gewesen seien. Von einer bereits damals eingetretenen gänzlichen Verwahrlosung des Klägers könne nach Aktenlage nicht die
Rede sein.
Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt. Das LSG hat mit Beschluss vom 9.8.2016 den Antrag des Klägers auf Gewährung von
Prozesskostenhilfe (PKH) mangels Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung abgelehnt und darauf hingewiesen, dass
eine Zurückweisung der Berufung durch Beschluss gemäß §
153 Abs
4 SGG erwogen werde. Der Kläger hat sich - innerhalb der vom LSG gesetzten Frist - mit Schriftsatz vom 8.9.2016 gegen eine Entscheidung
im schriftlichen Verfahren verwahrt und die Vernehmung seines Sohnes B. zu seinem Alkoholkonsum und seiner Verwahrlosung ab
2002/2003 sowie die Vernehmung seiner Arbeitgeber im Zeitraum 1997 bis 2011 H. V., L. Sch. und A. L. zu seinem rudimentären
Leistungsvermögen (stundenweise auf Abruf durchschnittlich neun Stunden wöchentlich) als Zeugen beantragt. Ferner hat er unter
Angabe der zu erläuternden Punkte die Anhörung der Sachverständigen Dr. St. und Dr. D. zu den von ihnen erstellten Gutachten
beantragt.
Mit Beschluss vom 28.6.2017 hat das LSG die Berufung zurückgewiesen. Im Zeitpunkt August 2007, in dem die besonderen versicherungsrechtlichen
Voraussetzungen zuletzt erfüllt gewesen seien, habe bei dem Kläger keine rentenrelevante Minderung der Erwerbsfähigkeit vorgelegen.
Nach der Rechtsprechung des BSG habe die Tatsache der Ausübung einer zumutbaren Tätigkeit in der Regel einen höheren Beweiswert als dies scheinbar ausschließende
medizinische Befunde. Der Kläger habe schon nach dem Versicherungsverlauf bis 2013 immer wieder geringfügige berufliche Tätigkeiten
ausgeübt. Unter Berücksichtigung seiner Angaben gegenüber den Sachverständigen Dr. St. und Dr. D. sei aber davon auszugehen,
dass er seinerzeit in erheblichem Umfang Schwarzarbeit geleistet habe. Zudem sei er in der Lage gewesen, nach der Scheidung
eine neue Partnerschaft aufzubauen. Überdies hätten die Sachverständigen K. und Dr. St. noch mehrere Jahre später ein vollschichtiges
Leistungsvermögen angenommen. Von der Richtigkeit der eidesstattlichen Versicherung des Sohnes des Klägers könne sich der
Senat nicht überzeugen. Es bestehe kein Anlass, den Sohn als Zeugen zu vernehmen. Dieser Beweisantrag sei ins Blaue hinein
erfolgt und völlig unsubstantiiert. Letzteres gelte auch für die beantragte Vernehmung der Arbeitgeber. Eine ergänzende mündliche
Anhörung der erstinstanzlichen Sachverständigen Dr. St. und Dr. D. hätte der Kläger bereits in der vorangegangenen Instanz
beantragen müssen, was aber ausweislich des Sitzungsprotokolls nicht der Fall gewesen sei.
Mit seiner gegen die Nichtzulassung der Revision gerichteten Beschwerde rügt der Kläger ua einen Verstoß gegen §
103 SGG, eine Verletzung seines Fragerechts aus §
116 S 2, §
118 Abs
1 S 1
SGG iVm §§
397,
402,
411 Abs
4 ZPO sowie eine Verletzung von §
153 Abs
4 SGG.
II
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der Kläger hat die gerügten Verfahrensmängel iS von §
160 Abs
2 Nr
3 SGG ordnungsgemäß dargelegt. Sie liegen zudem überwiegend vor.
1. Das LSG hat die ihm obliegende tatrichterliche Sachaufklärungspflicht iS von §
103 SGG verletzt.
a) Der Kläger hat prozessordnungsgemäße Beweisanträge iS von §
118 Abs
1 S 1
SGG iVm §
373 ZPO gestellt. Hiernach sind die als Zeugen benannten Personen mit ladungsfähiger Anschrift und die zu beweisenden Tatsachen substantiiert
zu bezeichnen (Reichold in Thomas/Putzo,
ZPO, 39. Aufl 2018, §
373 RdNr 1).
Eine Partei genügt bei einem von ihr zur Rechtsverfolgung gehaltenen Sachvortrag ihren Substantiierungspflichten, wenn sie
Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltende Recht als in ihrer Person entstanden
erscheinen zu lassen (vgl BGH Beschluss vom 11.7.2007 - IV ZR 112/05 - Juris RdNr 6; vgl auch zu einem zur Rechtsverteidigung gehaltenen Sachvortrag BGH Beschluss vom 11.5.2010 - VIII ZR 212/07 - Juris RdNr 11). Dabei ist unerheblich, wie wahrscheinlich die Darstellung ist und ob sie auf eigenem Wissen oder auf einer
Schlussfolgerung aus Indizien beruht. Genügt das Parteivorbringen diesen Anforderungen an die Substantiierung, kann der Vortrag
weiterer Einzeltatsachen, die etwa den Zeitpunkt und den Vorgang bestimmter Ereignisse betreffen, nicht verlangt werden (vgl
BGH Beschlüsse vom 11.7.2007, aaO und vom 12.6.2008 - V ZR 223/07 - Juris RdNr 7). Es ist vielmehr Sache des Tatrichters, bei der Beweisaufnahme die benannten Zeugen nach Einzelheiten zu
befragen, die ihm für die Zuverlässigkeit der Bekundungen erforderlich erscheinen (BGH Beschlüsse vom 11.5.2010, aaO und vom
11.7.2007, aaO). Darüber hinaus darf die in das Gewand einer substantiierten Behauptung gekleidete, unter Beweis gestellte
Tatsache nicht "ins Blaue hinein" aufgestellt worden, dh aus der Luft gegriffen sein (vgl BGH Beschluss vom 1.6.2005 - XII ZR 275/02 - Juris RdNr 7).
aa) Der Kläger hat zum einen mit Schriftsatz vom 8.9.2016 beantragt, seinen Sohn B. D. unter Angabe der ladungsfähigen Anschrift
als Zeugen zu vernehmen. Aus dem Kontext des Antrags ergibt sich, dass der Sohn B. sowohl zu den von ihm in der eidesstattlichen
Versicherung vom 19.10.2015 gemachten Angaben zur Verwahrlosung des Klägers schon vor dem Jahr 2007 als auch zu dessen übermäßigem
Alkoholkonsum insbesondere ab 2002/2003 aussagen sollte.
Der benannte Zeuge hat bereits in seiner eidesstattlichen Versicherung darauf hingewiesen, dass der Kläger regelmäßig nach
Feierabend und insbesondere am Wochenende bis zur Bewusstlosigkeit getrunken habe. Er habe alles konsumiert, was er bekommen
konnte - Bier, Wodka, Springer. Der Alkoholkonsum habe sich nach der Scheidung seiner Eltern, als er 18 oder 19 Jahre alt
gewesen sei - dh 2002/2003 -, noch verschlimmert. Der Vater sei danach total verwahrlost, habe sich um keinen Papierkram,
Rechnungen oder sonst was gekümmert.
Der Sohn des Klägers hat insoweit konkrete Tatsachen beschrieben, die Rückschlüsse auf das Leistungsvermögen seines Vaters
und damit die Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung
bereits vor September 2007 zulassen. So hat der Sachverständige Dr. D. in seiner ergänzenden fachärztlichen Stellungnahme
vom 5.11.2015 die Angaben in der eidesstattlichen Versicherung, wenn man diese als zutreffend zugrunde lege, als ausreichende
Anknüpfungstatsachen dafür bewertet, dass die Leistungsfähigkeit des Klägers bereits seit 2005 aufgehoben war.
Der Beweisantrag ist auch nicht deshalb unsubstantiiert, weil aus der eidesstattlichen Versicherung nicht hervorgeht, "was
genau der Sohn an welchen Tagen oder jedenfalls in welchen konkreten Zeiträumen persönlich beobachtet haben will." Derartige
Einzeltatsachen - sollten sie für die Zuverlässigkeit der Bekundungen erforderlich erscheinen - hat vielmehr der Tatsachenrichter
entsprechend der Funktion der Beweisaufnahme in einer solchen durch Befragung des Zeugen festzustellen. Aus diesem Grund rechtfertigt
sich ebenso wenig die Annahme der Unsubstantiiertheit, weil sich nicht erschließe, auf welcher Grundlage der Sohn des Klägers
"hilfreiche eigene Beobachtungen im Zusammenhang mit der Frage eines dauerhaft reduzierten beruflichen Leistungsvermögens
des Klägers insbesondere in den Jahren 2005 bis 2007 gemacht haben könnte".
Die vom Kläger unter Beweis gestellten Tatsachenbehauptungen sind auch nicht "ins Blaue hinein" erfolgt.
Vielmehr enthalten die Akten Hinweise auf eine Verwahrlosung des Klägers bereits vor dem nach den Feststellungen des LSG entscheidungserheblichen
Zeitpunkt September 2007. So erwähnt etwa der Sachverständige Dr. D. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 5.11.2015 gehäufte
alkoholbedingte Verletzungen des Klägers ab 2005, beschreibt das Operationsprotokoll des St. Marienhospitals V. vom 11.9.2006
den Kläger nicht nur als ungepflegt, sondern als völlig verschmutzt und eingekotet und weist das fachpsychiatrische Gutachten
des Dr. M. vom 23.3.2014 auf eine jahrzehntelange Alkoholabhängigkeit des Klägers ohne adäquate Behandlung hin.
Auch das LSG räumt im Übrigen ein, dass der Kläger schon vor 2008 in sehr deutlichem Maße Alkohol konsumiert hat und es vermehrt
zu Unfällen gekommen ist. Zwar begründet auch ein erheblicher Alkoholkonsum nicht zwingend eine rentenrelevante Erwerbsminderung.
Eine jahrzehntelange Alkoholabhängigkeit kann aber diese Folge haben. Im Fall des Klägers liegen ausweislich der aufgeführten
Umstände genügend Anhaltspunkte dafür vor, dass eine rentenrelevante Einschränkung seines Leistungsvermögens vor September
2007 eingetreten sein kann.
bb) Der Kläger hat ferner mit Schriftsatz vom 8.9.2016 beantragt, seine früheren Arbeitgeber H. V. (dortige Beschäftigung
bis 2001), L. Sch. (dortige Beschäftigung von 2005 bis 2006) und A. L. (dortige Beschäftigung von 2008 bis 2011) unter Angabe
ihrer ladungsfähigen Anschriften dazu zu vernehmen, dass er seinerzeit nur noch einer rudimentären Tätigkeit, dh stundenweise
auf Abruf durchschnittlich neun Stunden wöchentlich, nachgehen konnte.
Entgegen der Ansicht des LSG sind auch diese Beweisanträge ausreichend substantiiert.
Die Behauptung, nur noch durchschnittlich neun Stunden pro Woche gearbeitet zu haben bzw nur noch in diesem Zeitumfang imstande
gewesen zu sein, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen, stellt eine konkrete Tatsachenbehauptung dar. Sie ist auch geeignet,
Rückschlüsse auf das quantitative Leistungsvermögen des Klägers und damit auf eine rentenrelevante Einschränkung seines Leistungsvermögens
im hier maßgeblichen Zeitraum vor September 2007 zuzulassen. Auch nicht medizinisch geschulte Personen können durch die Beschreibung
des von ihnen wahrgenommenen körperlichen und psychischen Zustands eines Menschen Tatsachen beschreiben, die einem medizinischen
Sachverständigen unter Zugrundelegung dieser Wahrnehmungen eine medizinische Beurteilung des Leistungsvermögens des Betroffenen
erlauben. Dies zeigt schon die ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. D. vom 5.11.2015.
b) Der Kläger hat die Beweisanträge auch bis zuletzt aufrechterhalten.
Das LSG hat mit Beschluss vom 9.8.2016 den PKH-Antrag des anwaltlich vertretenen Klägers abgelehnt und darauf hingewiesen,
dass eine Zurückweisung der Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung gemäß §
153 Abs
4 SGG erwogen werde. Dem Kläger ist eine (verlängerte) Frist zur Stellungnahme bis zum 14.9.2016 eingeräumt worden.
Mit Schriftsatz vom 8.9.2016 - eingegangen per Fax am 9.9.2016 - hat der Kläger die Beweisanträge gestellt. Dass das Berufungsgericht
mit Verfügung vom 7.4.2017 den Hinweis auf §
153 Abs
4 SGG wiederholt hat, ohne dass der Kläger seine Beweisanträge erneut gestellt hat, ist unschädlich, weil dieser Hinweis ohne nähere
Begründung erfolgt ist (vgl BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 12 RdNr 7 mwN).
c) Das LSG ist den Beweisanträgen des Klägers ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt. Es hat gemeint, nicht feststellen
zu können, dass der Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr sechs Stunden täglich arbeiten könne. Damit hat es eine
Beweislastentscheidung getroffen, ohne die vom Kläger angebotenen Ermittlungsmöglichkeiten auszuschöpfen. Zureichende Gründe
bestanden dafür nicht. Das LSG hätte sich vielmehr zu der beantragten Beweiserhebung gedrängt fühlen müssen.
Das LSG durfte nicht ohne weitere Beweiserhebungen von einem "jedenfalls bis Ende 2007" fortbestehenden Erwerbsvermögen des
Klägers ausgehen, weil dieser seinerzeit noch "in erheblichem Umfang am Erwerbsleben teilgenommen" habe. Zu dieser Einschätzung
ist das Berufungsgericht gelangt, weil der Kläger gegenüber dem Sachverständigen Dr. St. die Ausübung von Schwarzarbeit eingeräumt
und gegenüber dem Sachverständigen Dr. D. ausdrücklich erklärt habe, in den Jahren ab 2005 "gut verdient" zu haben. Nur aufgrund
nachhaltiger und erheblicher Einkünfte aus Schwarzarbeit lasse sich - so das LSG weiter - auch erklären, dass der Kläger seinerzeit
seinen Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme von Sozialleistungen habe bestreiten können.
In einem Gutachten erwähnte nichtmedizinische Tatsachen dürfen indes nicht ohne Weiteres übernommen werden, vor allem dann
nicht, wenn Beteiligte sie substantiiert bestreiten und dem Gericht weitere zur Aufklärung des Sachverhalts geeignete Beweismittel
zur Verfügung stehen (BSG SozR Nr 59 zu §
128 SGG; B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl 2017, §
103 RdNr 11a). Das LSG durfte sich nach diesen Vorgaben nicht allein auf die von ihm angenommenen Angaben des Klägers zur Schwarzarbeit
stützen. Der Kläger hat insbesondere im Schriftsatz vom 8.9.2016 bestritten, mehr als neun Stunden wöchentlich arbeiten zu
können. Zudem standen dem LSG weitere geeignete Beweismittel, die benannten Zeugen, zur Verfügung. Es lagen zudem Anhaltspunkte
dafür vor, dass der Kläger gegenüber Sachverständigen seine beruflichen Fähigkeiten in Verkennung der Realität unrichtig darstellt.
Nach dem Gutachten des Dr. M. vom 23.3.2014 leidet der Kläger an einer schweren chronifizierten Alkoholabhängigkeit mit einem
beginnenden Korsakow-Syndrom und hat sich bei der Untersuchung mindestens teilweise desorientiert bei erheblichen Konzentrations-
und Gedächtnisstörungen in einer körperlich sowie seelisch völlig verwahrlosten Situation gezeigt. Trotz dieser Befundlage
hat der Kläger dem Sachverständigen Dr. M. erklärt, er gehe wieder arbeiten, der Arbeitgeber werde für ihn ein Konto bei der
Sparkasse einrichten, Angaben, die der Sachverständige als völlig realitätsfern eingestuft hat. Ferner hat Dr. M. darauf hingewiesen,
dass der Kläger so schwer krank sei, dass er seine Situation nicht richtig einschätze.
Soweit das LSG darüber hinaus davon ausgegangen ist, dass der Kläger seinerzeit noch in der Lage gewesen sei, eine neue Partnerschaft
aufzunehmen, was ebenfalls gegen eine völlige Verwahrlosung spreche, ist der Kläger diesen bereits im Beschluss vom 9.8.2016
angestellten Erwägungen substantiiert entgegengetreten. Im Schriftsatz vom 8.9.2016 hat er vorgetragen, dass er keine Partnerschaft
eingegangen sei, sondern es sich um eine reine Notgemeinschaft gehandelt habe mit einer Partnerin, die ebenfalls dem Alkohol
zugesprochen und darüber hinaus erhebliche psychische Probleme gehabt habe. Angesichts dieser Einlassung des Klägers durfte
das LSG nicht unter dem Gesichtspunkt einer neu aufgebauten Partnerschaft eine weitere Beweisaufnahme begründet unterlassen.
Ferner konnte das LSG auch nicht deswegen von der beantragten Beweisaufnahme begründet Abstand nehmen, weil die Sachverständigen
K. und Dr. St. noch in den Jahren 2011 und 2014 ein vollschichtiges Leistungsvermögen des Klägers für leichte bis mittelschwere
Tätigkeiten bejaht haben. Der Sachverständige K. ist Chirurg; dass er eine hinsichtlich der hier infrage stehenden Krankheiten
erforderliche psychiatrische Fachkompetenz besitzt, ist den Akten nicht zu entnehmen. Das Gutachten des Dr. St. ist nach der
Beurteilung des Sachverständigen Dr. D. nicht nachvollziehbar. Dass das LSG über eine medizinische Kompetenz verfügt, die
es in die Lage versetzt, diese Beurteilung als unrichtig bewerten zu können, ist eben-falls nicht aufgezeigt.
Ebenso wenig ist die Nichtdurchführung der Beweisaufnahme unter Berücksichtigung des vom LSG herangezogenen Urteils des Senats
vom 26.6.1980 (5 RJ 66/79 - Juris) gerechtfertigt. Zwar hat der Senat in dieser Entscheidung (aaO RdNr 19) darauf hingewiesen, dass die Tatsache der
Ausübung einer zumutbaren Arbeit in der Regel einen stärkeren Beweiswert habe als dies scheinbar ausschließende medizinische
Befunde. Gleichzeitig hat er aber hervorgehoben, dass ein Versicherter zur Ausübung einer Tätigkeit gesundheitlich nicht in
der Lage sei, wenn er diese Tätigkeit nur unter unzumutbaren Schmerzen, einer unzumutbaren Anspannung seiner Willenskräfte,
unter Gefährdung oder auf Kosten seiner Gesundheit verrichten könne, was auch dann gelte, wenn der Versicherte unter den genannten
Umständen eine zumutbare Tätigkeit tatsächlich ausübe. Da hier sowohl der Gesundheitszustand des Klägers als auch die "Umstände"
seiner Tätigkeiten für die Zeit vor September 2007 nicht aufgeklärt worden sind, konnte das LSG aus der genannten Beweisregel
keine Schlussfolgerungen ableiten.
d) Bei einer Vernehmung der beantragten Zeugen ist nicht auszuschließen, dass das LSG den Gesundheitszustand des Klägers und
sein Leistungsvermögen vor September 2007 anders gewürdigt und/oder eine weitere Sachaufklärung für notwendig gehalten hätte.
2. Des Weiteren hat das LSG das Fragerecht des Klägers nach §
116 S 2, §
118 Abs
1 S 1
SGG iVm §§
397,
402,
411 Abs
4 ZPO verletzt.
a) Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 8.9.2016 beantragt, den Sachverständigen Dr. St. zur Erläuterung seines Gutachtens und
ergänzenden Befragung zu laden. Diesem Antrag ist das LSG zu Unrecht nicht nachgekommen.
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des BSG, dass unabhängig von der nach §
411 Abs
3 ZPO im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegenden Möglichkeit, das Erscheinen des Sachverständigen zum Termin von Amts wegen
anzuordnen, jedem Beteiligten gemäß §
116 S 2
SGG, §
118 Abs
1 S 1
SGG iVm §§
397,
402,
411 Abs
4 ZPO das Recht zusteht, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die er zur Aufklärung der Sache für dienlich
erachtet (vgl nur BSG Beschluss vom 17.4.2012 - B 13 R 355/11 B - Juris RdNr 13; BSG Beschluss vom 27.9 2018 - B 9 V 14/18 B - Juris RdNr 12).
Sachdienlichkeit iS von §
116 S 2
SGG ist zu bejahen, wenn sich die Fragen im Rahmen des Beweisthemas halten und nicht abwegig oder bereits eindeutig beantwortet
sind. Weitergehende Anforderungen sind hingegen nicht zu stellen. Unabhängig davon, ob das Gericht ein Gutachten für erläuterungsbedürftig
hält, soll das Fragerecht dem Antragsteller erlauben, im Rahmen des Beweisthemas aus seiner Sicht unverständliche, unvollständige
oder widersprüchliche Ausführungen eines Sachverständigen zu hinterfragen, um auf das Verfahren Einfluss nehmen und die Grundlagen
der gerichtlichen Entscheidung verstehen zu können. Nur dieses Verständnis trägt der Bedeutung des Fragerechts im Rahmen des
Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs hinreichend Rechnung (BSG Beschluss vom 17.4.2012 - B 13 R 355/11 B - Juris RdNr 14; BSG Beschluss vom 23.6.2016 - B 3 P 1/16 B - Juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 27.9.2018 - B 9 V 14/18 B - Juris RdNr 13). Abgelehnt werden kann ein solcher Antrag prozessordnungsgemäß nur dann, wenn er rechtsmissbräuchlich gestellt
ist, wenn die an den Sachverständigen zu richtenden Fragen nicht hinreichend genau benannt oder nur beweisunerhebliche Fragen
angekündigt werden (vgl BVerfG vom 29.8.1995 - 2 BvR 175/95 - Juris RdNr 29 mwN). Insofern steht beim Fragerecht nach §
116 S 2
SGG ein anderes Ziel im Vordergrund als bei der Rückfrage an den Sachverständigen nach §
118 Abs
1 S 1
SGG iVm §
411 Abs
3 ZPO; diese dient in erster Linie der Sachaufklärung und nicht der Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl BSG SozR 4-1500 § 116 Nr 1 RdNr 11 mwN).
Das Fragerecht nach §
116 S 2
SGG bzw §
411 Abs
4 ZPO erfordert nicht die Formulierung von Fragen. Es reicht vielmehr aus, die erläuterungsbedürftigen Punkte hinreichend konkret
zu bezeichnen, zB auf Lücken oder Widersprüche hinzuweisen. Solche Einwendungen sind dem Gericht rechtzeitig mitzuteilen (§
411 Abs
4 S 1
ZPO). Da die Rüge der Verletzung des Rechts auf Befragung eines Sachverständigen eine Gehörsrüge darstellt, müssen zudem deren
Voraussetzungen erfüllt sein. Insbesondere muss der Beschwerdeführer alles getan haben, um eine Anhörung des Sachverständigen
zu erreichen. Dieser Obliegenheit ist ein Beteiligter dann nachgekommen, wenn er rechtzeitig den Antrag gestellt hat, einen
Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens anzuhören, und er schriftlich sachdienliche Fragen im oben dargelegten
Sinn angekündigt hat. Liegen diese Voraussetzungen vor, muss das Gericht grundsätzlich dem Antrag folgen, soweit er aufrechterhalten
bleibt. Dies gilt selbst dann, wenn das Gutachten nach Auffassung des Gerichts ausreichend und überzeugend ist und keiner
Erläuterung bedarf (BSG Beschluss vom 17.4.2012 - B 13 R 355/11 B - Juris RdNr 15; BSG Beschluss vom 27.9.2018 - B 9 V 14/18 B - Juris RdNr 14).
aa) Der Kläger hat sein Recht auf Befragung des Sachverständigen Dr. St. entgegen der Rechtsauffassung des LSG nicht wegen
verspäteter Antragstellung in der zweiten Instanz verloren.
Zwar besteht das Fragerecht grundsätzlich nur hinsichtlich solcher Gutachten, die innerhalb des Rechtszuges eingeholt worden
sind (BSG SozR 4-1500 § 116 Nr 2 RdNr 9). Dies gilt aber nicht ausnahmslos.
Die Anhörung eines bereits erstinstanzlich tätig gewordenen Sachverständigen ist in der zweiten Instanz dann zulässig, wenn
sich - wie hier - das LSG anders als das SG in seiner Entscheidung auf dessen Gutachten berufen will und auch berufen hat (in diese Richtung wohl BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 24 RdNr 16; vgl zu sonstigen Ausnahmefällen BSG SozR 4-1500 § 116 Nr 2 RdNr 9 mwN). Ansonsten würde bei einer derartigen Fallkonstellation das aus dem verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch
auf rechtliches Gehör (Art
103 Abs
1 GG) abgeleitete Recht des Beteiligten auf Anhörung eines Sachverständigen (dazu: BVerfG [Kammer] Beschluss vom 3.2.1998 - 1 BvR 909/94 - Juris RdNr 9 f; BVerfG [Kammer] Beschluss vom 24.8.2015 - 2 BvR 2915/14 - Juris RdNr 19) ausgehöhlt.
Art
103 Abs
1 GG verlangt nicht, einem rechtzeitigen und nicht missbräuchlichen Antrag auf Anhörung eines Sachverständigen ausnahmslos Folge
zu leisten. Die mündliche Anhörung ist zwar die nächstliegende, nicht aber die einzige mögliche Behandlung eines derartigen
Antrags (BVerfG [Kammer] Beschluss vom 3.2.1998, aaO, RdNr 13; BVerfG [Kammer] Beschluss vom 24.8.2015, aaO). Das Gericht
kann den Sachverständigen auch zu einer schriftlichen Ergänzung seines Gutachtens veranlassen oder nach §
412 ZPO ein weiteres Gutachten einholen (BGH Urteil vom 10.12.1991 - VI ZR 234/90 - Juris RdNr 12 mwN; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 24 RdNr 15). Wählt das erstinstanzliche Gericht - wie hier das SG - die letzte Möglichkeit und stützt sich bei der Sachentscheidung nicht auf das von einem Beteiligten als erläuterungsbedürftig
angesehene Gutachten, besteht für das Gericht keine Veranlassung, den Sachverständigen anzuhören. Will demgegenüber das Berufungsgericht
dieses Gutachten zur Grundlage seiner Entscheidung machen und wiederholt der Beteiligte seinen Antrag auf Anhörung des Sachverständigen,
kann der Antrag nicht mit der Begründung abgelehnt werden, die Antragstellung hätte erstinstanzlich erfolgen bzw aufrechterhalten
werden müssen. Anderenfalls würde dem Antragsteller sein Recht genommen, durch Befragung des Sachverständigen auf das Verfahren
Einfluss zu nehmen. Je wichtiger ein Sachverständigengutachten für das Ergebnis des Prozesses ist, desto mehr Gewicht kommt
dem Recht der Verfahrensbeteiligten zu, Einwendungen dagegen vorzutragen und den Sachverständigen mit ihnen zu konfrontieren
(BVerfG [Kammer] Beschluss vom 3.2.1998, aaO, RdNr 13).
bb) Die übrigen Voraussetzungen für die Anhörung des Sachverständigen Dr. St. sind ebenfalls erfüllt.
Der Kläger hat den Antrag auf Anhörung des Sachverständigen Dr. St. innerhalb der vom LSG gesetzten (verlängerten) Anhörungsfrist
iS von §
153 Abs
4 S 2
SGG mit Schriftsatz vom 8.9.2016 gestellt. Dabei hat er die zu erläuternden Punkte benannt: Unter anderem zusätzliche, vom Sachverständigen
trotz diagnostizierter Erinnerungslücken nicht festgestellte Krankheiten - Korsakow-Syndrom und Alkoholabhängigkeit als psychische
Erkrankung; Krankheitsbedingtheit der vom Sachverständigen Dr. St. beschriebenen beeinträchtigten Koordination des Klägers;
Aufklärung, ob die vom Sachverständigen Dr. St. festgestellte unscharfe Erinnerung auf einer alkoholtoxischen Gehirnschädigung
beruht.
Diese Punkte sind auch sachdienlich. Sie halten sich im Rahmen des Beweisthemas, sind nicht abwegig und auch nicht bereits
vom Gutachter lückenlos und widerspruchsfrei beantwortet worden. Insoweit ist auf die Beurteilung des Sachverständigen Dr.
D. im Gutachten vom 13.3.2015 zu verweisen, der im Gegensatz zum Sachverständigen Dr. St. eine chronische psychische Alkoholabhängigkeit
mit beginnendem Korsakow-Syndrom diagnostiziert und die übrigen vom Kläger angesprochenen Punkte als im Gutachten Dr. St.
ungeklärt kritisiert hat.
Auf dem Verfahrensmangel kann die Entscheidung des LSG beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht das
Gutachten des Dr. St. im Fall seiner Anhörung zu den vom Kläger gestellten sachdienlichen Fragen bei seiner Entscheidungsfindung
anders gewürdigt und/oder eine weitere Sachaufklärung für notwendig gehalten hätte.
b) Eine Anhörung des Sachverständigen Dr. D. hat das LSG hingegen schon deshalb zu Recht abgelehnt, weil der Kläger keine
sachdienlichen erläuterungsbedürftigen Punkte beschrieben hat. Die Frage, warum der Sachverständige seine Feststellungen im
Gegensatz zu denen des Dr. St. für zutreffend hält, ergibt sich bereits aus den medizinischen Ausführungen seines Gutachtens.
3. Schließlich liegt auch der vom Kläger gerügte Verfahrensmangel einer fehlerhaften Anwendung des §
153 Abs
4 S 1
SGG vor.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts, nach §
153 Abs
4 SGG vorzugehen, steht in dessen pflichtgemäßem Ermessen ("kann"). Sie wird daher vom BSG nur darauf überprüft, ob das Berufungsgericht von seinem Ermessen fehlerhaft Gebrauch gemacht hat, der Beurteilung etwa sachfremde
Erwägungen oder eine grobe Fehleinschätzung zugrunde liegen (vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1 S 4; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13 S 38; BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 7 RdNr 27; BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 14 RdNr 9). Das Vorliegen einer groben Fehleinschätzung ist anhand der gesamten Umstände des Falles zu beurteilen. Dabei
kommt es vor allem auch darauf an, ob die Funktion und Bedeutung der mündlichen Verhandlung als "Kernstück" des gerichtlichen
Verfahrens berücksichtigt worden ist (vgl BSG Beschluss vom 14.11.2013 - B 9 SB 31/13 B - Juris RdNr 7). Nur wenn die Sach- und Rechtslage eine mündliche Erörterung mit den Beteiligten überflüssig erscheinen lässt
und das Gericht nur noch darüber zu befinden hat, wie das Gesamtergebnis des Verfahrens gemäß §
128 SGG zu würdigen und rechtlich zu beurteilen ist, ist das Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß
§
124 Abs
2 SGG sinnvoll (vgl BSGE 44, 292, 293 = SozR 1500 §
124 Nr 2 S 2). Nicht erforderlich ist eine mündliche Verhandlung nur dann, wenn der Sachverhalt umfassend ermittelt worden ist,
sodass Tatsachenfragen in einer mündlichen Verhandlung nicht mehr geklärt werden müssen, oder wenn etwa im Berufungsverfahren
lediglich der erstinstanzliche Vortrag wiederholt wird. Diese Funktion und Bedeutung der mündlichen Verhandlung muss das Berufungsgericht
auch bei der Entscheidung berücksichtigen, ob es im vereinfachten Verfahren gemäß §
153 Abs
4 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden will. Demgemäß sind für diese Ermessensentscheidung die Schwierigkeit des Falles und
die Bedeutung von Tatsachenfragen relevant. Ist bei Abwägung aller danach zu berücksichtigenden Umstände die Wahl des vereinfachten
Verfahrens ohne mündliche Verhandlung gegen den ausdrücklichen Willen eines Beteiligten unter keinen Umständen zu rechtfertigen,
liegt eine grobe Fehleinschätzung im obigen Sinne vor (vgl BSG Beschluss vom 11.12.2002 - B 6 KA 13/02 B - Juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 27.12.2011 - B 13 R 253/11 B - Juris RdNr 13; BSG Beschluss vom 23.3.2018 - B 1 KR 80/17 B - Juris RdNr 8). So ist der vorliegende Fall zu beurteilen.
Angesichts der Komplexität des Sachverhalts und der Bedeutung des Rechtsstreits für den Kläger war eine Entscheidung nach
§
153 Abs
4 S 1
SGG nicht vertretbar. Der Sachverhalt des hiesigen Verfahrens ist - wie die Ausführungen unter Ziff 1 und 2 zeigen - nicht umfassend
ermittelt worden. Weder der Gesundheitszustand des Klägers noch sein Leistungsvermögen für den Zeitraum vor September 2007
sind ausreichend aufgeklärt worden. Auch ist die damit zusammenhängende und für das LSG entscheidungserhebliche Einnahmesituation
des Klägers in dieser Zeit unklar. Während der Kläger angegeben hat, nicht in der Lage gewesen zu sein, mehr als neun Stunden
wöchentlich arbeiten zu können und nur über ein geringes Einkommen verfügt zu haben, hat das LSG dem Kläger in der angefochtenen
Entscheidung nachhaltige und erhebliche Einkünfte aus Schwarzarbeit unterstellt. Zudem liegen widersprüchliche Gutachten vor.
Während das psychiatrische Sachverständigengutachten des Dr. St. vom 14.5.2014 ein vollschichtiges Leistungsvermögen des Klägers
annimmt, beschreibt das ebenfalls psychiatrische Sachverständigengutachten des Dr. D. vom 13.3.2015 den Kläger als "in keinster
Weise belastbar" und datiert die Aufhebung seiner Leistungsfähigkeit auf mindestens Ende Mai 2011. Bei dieser Sachlage durfte
das LSG eine mündliche Verhandlung nicht für verzichtbar halten. Auf die erforderliche weitere Aufklärung des Sachverhalts
hat der Kläger in seiner Stellungnahme zur Anhörungsmitteilung des Senats auf der Grundlage des §
153 Abs
4 S 2
SGG hingewiesen und sich ausdrücklich gegen eine Entscheidung im vereinfachten Verfahren ohne mündliche Verhandlung verwahrt.
Eine Verletzung von §
153 Abs
4 S 1
SGG führt zur unvorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts nur mit Berufungsrichtern und damit zum Vorliegen eines absoluten
Revisionsgrundes gemäß §
202 S 1
SGG iVm §
547 Nr 1
ZPO, bei dem eine Kausalität zwischen dem Verfahrensmangel und der angefochtenen Entscheidung vermutet wird, ohne dass es näherer
Darlegung bedarf.
4. Zur Vermeidung einer weiteren Verfahrensverzögerung hat der Senat die Sache im Beschlusswege nach §
160a Abs
5 SGG zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Die Verweisung an einen anderen Senat des LSG war hier gemäß §
202 S 1
SGG iVm §
563 Abs
1 S 2
ZPO ausnahmsweise geboten. Nach dem Vortrag des Klägers hat das Verhalten des 2. Senats des LSG Niedersachsen-Bremen sein Vertrauen
auf ein faires Verfahren erschüttert. Dies ist objektiv nachvollziehbar und vom BSG zu berücksichtigen (vgl BSG SozR 3-1750 § 565 Nr 2 S 6). Für die Entscheidung des Senats war insbesondere die Kumulation der Verfahrensfehler maßgeblich, die dazu geführt
hat, dass der Kläger keine Möglichkeit hatte, die Voraussetzungen des von ihm geltend gemachten Rentenanspruchs zu beweisen.
Hinzu kommt, dass sich das Berufungsgericht auf nicht bewiesene Umstände gestützt hat, die der Kläger ausdrücklich und nachhaltig
in Abrede gestellt hat. Dies wiegt umso schwerer, als der Rechtsstreit für den Kläger von existentieller Bedeutung ist.
In dem wieder eröffneten Berufungsverfahren wird das LSG die oben genannten Zeugen zu vernehmen und den Sachverständigen Dr.
St. anzuhören haben.
Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.