Anspruch auf Regelaltersrente; früherer Rentenbeginn und rückwirkende Gewährung einer Rente mit Ghetto-Beitragszeiten nach
dem ZRBG
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über einen früheren Beginn der dem Kläger gewährten Regelaltersrente.
Der am 1927 in R., P. geborene Kläger ist als Verfolgter des Nationalsozialismus anerkannt. Er besitzt die israelische Staatsangehörigkeit
und lebt seit 1948 in Israel.
Während seines zwangsweisen Aufenthalts im Ghetto R. arbeitete er aus eigenem Willensentschluss vom 1.4.1941 bis 17.8.1942
in der Armeeversorgung und erhielt hierfür Sachbezüge.
Am 8.11.1999 beantragte der Kläger erstmals wegen der im Zusammenhang mit seiner Ghettoinhaftierung verrichteten Tätigkeit
eine Rente aus der Deutschen Rentenversicherung. Mit Bescheid vom 14.5.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.6.2002
lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil der Kläger keine entgeltliche, aus freiem Willen aufgenommene Beschäftigung verrichtet
habe. Hiergegen erhob der Kläger beim SG Düsseldorf - S 11 RJ 177/02 - Klage. Während des Klageverfahrens stellte er am 25.7.2002 gestützt auf das zwischenzeitlich in Kraft getretene Gesetz
zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) vom 20.6.2002 (BGBl I 2074) erneut einen Rentenantrag,
den die Beklagte mit Bescheid vom 17.4.2003 im Wesentlichen aus den gleichen Gründen wie den ersten Rentenantrag ablehnte.
Mit Urteil vom 29.11.2004 wies das SG Düsseldorf die zuletzt nur noch gegen den Bescheid vom 17.4.2003 gerichtete Klage ab,
da jedenfalls kein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis iS des § 1 ZRBG ausreichend glaubhaft gemacht worden
sei. Die hiergegen beim LSG Nordrhein-Westfalen eingelegte Berufung - L 14 R 55/05 - nahm der Kläger mit Schriftsatz vom 17.12.2006 zurück.
Am 1.9.2009 beantragte der Kläger unter Hinweis auf die Urteile des BSG vom 2.6. und 3.6.2009 (ua BSGE 103, 190, 201 und 220 = SozR 4-5075 § 1 Nr 7, 5 und 8) eine Überprüfung der Ablehnungsbescheide nach § 44 SGB X. Mit Bescheid vom 1.4.2010 gewährte die Beklagte dem Kläger unter Anerkennung einer Ghetto-Beitragszeit vom 1.4.1941 bis
17.8.1942 (Zeitraum des Bestehens des Ghettos R.) Regelaltersrente ab 1.1.2005. Den Widerspruch des Klägers, mit dem dieser
insbesondere den Zeitpunkt des Rentenbeginns beanstandete, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 13.7.2010 zurück.
Hiergegen hat der Kläger Klage beim SG Düsseldorf erhoben, mit der er eine Rentengewährung bereits ab 1.7.1997 begehrt hat.
Mit Urteil vom 24.3.2011 hat das SG Düsseldorf die Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Neufeststellung der Regelaltersrente
Rente bereits ab 1.7.1997 zu gewähren und die Rente für die Zeit vom 1.7.1997 bis 31.12.2004 nachzuzahlen. Zur Begründung
hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die ursprünglichen ablehnenden Rentenbescheide seien rechtswidrig und dementsprechend gemäß
§ 44 Abs 1 SGB X zurückzunehmen gewesen. Entgegen der Ansicht der Beklagten stehe dem Kläger die Regelaltersrente bereits ab dem geltend gemachten
Zeitpunkt zu, weil nach § 3 Abs 1 ZRBG der vor Juli 2003 gestellte Rentenantrag fiktiv als schon am 18.6.1997 gestellt gelte.
Gemäß §
99 Abs
1 SGB VI sei daher Rente bereits seit 1.7.1997 zu gewähren. § 44 Abs 4 SGB X und §
100 Abs
4 SGB VI seien nicht anwendbar. Der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz des Art
3 Abs
1 GG gebiete es, im Wege richterlicher Rechtsfortbildung diese allgemeinen, die Rechte von Versicherten beschränkenden Verfahrens-
und Ausschlussvorschriften nicht anzuwenden. Das hier vertretene Ergebnis ergebe sich des Weiteren aus dem Urteil des BSG vom 3.5.2005 (BSGE 94, 294 = SozR 4-2600 § 306 Nr 1) sowie der Entscheidung des BGH vom 22.2.2001 (IX ZR 113/00 - Juris = BGHReport 2001, 372 = LM BEG 1956 § 35 Nr 37 [5/2001]), die ebenfalls davon ausgingen, dass der Zweck von Entschädigungsregelungen
dahingehe, das zugefügte Unrecht sobald und soweit wie irgend möglich wieder gutzumachen.
Mit ihrer hiergegen eingelegten Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 44 Abs 4 SGB X. Im Fall der rückwirkenden Rücknahme von Verwaltungsakten nach § 44 Abs 1 SGB X auf Antrag sehe § 44 Abs 4 SBG X vor, dass Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des SGB längstens für einen Zeitraum von bis zu vier
Jahren vor Antragstellung erbracht würden. Diese Ausschlussregelung werde in den hier zu entscheidenden Fallkonstellationen
nicht durch eine spezialgesetzliche Sonderregelung verdrängt. Insbesondere enthalte das ZRBG keine abweichende Regelung. Abgesehen
davon sei Art
3 Abs
1 GG auch nicht verletzt. Denn zwischen den vom SG benannten zwei Personengruppen bestehe ein gewichtiger Unterschied, der eine ungleiche Behandlung rechtfertige. Dies sei
die bestandskräftige Ablehnung des ersten Rentenantrags. In der Rechtsprechung des BVerfG sei es darüber hinaus anerkannt,
dass eine fehlerhafte Rechtsanwendung erst dann gegen Art
3 Abs
1 GG verstoße, wenn sie bei verständiger Würdigung der das
GG beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich sei und sich daher der Schluss aufdränge, sie beruhe auf sachfremden Erwägungen.
Für das Vorliegen einer derartigen Willkür bestünden aber keine Anhaltspunkte.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 24. März 2011 (S 26 R 1963/10) aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Ergänzend beruft sich der Kläger auf das Urteil des BSG vom 19.4.2011 - B 13 R 20/10 R -, nach dem er aufgrund des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über Soziale Sicherheit
vom 17.12.1973 (BGBl II 1975, 246) idF des Änderungsabkommens vom 7.1.1986 (BGBl II 863) unabhängig von jeder Frist wegen Antragstellung in Israel und dortigem
Wohnsitz Anspruch auf eine Rentenzahlung ab 1.7.1997 habe.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das SG hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Dem Kläger steht ein Anspruch auf Zahlung
von Regelaltersrente bereits ab 1.7.1997 nicht zu.
Dies ergibt sich aus § 44 Abs 4 SGB X.
Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit auf Antrag zurückgenommen worden, werden gemäß § 44 Abs 4 SGB X Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuchs längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren
vor dem Antrag erbracht, wobei der Zeitpunkt des Antrags von Beginn des Jahres an gerechnet wird, in dem er gestellt worden
ist.
Die Beklagte hat mit Bescheid vom 1.4.2010 den Bescheid vom 14.5.2001, den Widerspruchsbescheid vom 11.6.2002 und den Bescheid
vom 17.4.2003, die bestandskräftig geworden sind, gemäß § 44 Abs 1 S 1 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Zwar ist dies nicht ausdrücklich erfolgt. Eine Zurücknahme der Verwaltungsakte
ist den Verlautbarungen im Bescheid vom 1.4.2010 jedoch gerade noch mit der gebotenen hinreichenden Bestimmtheit (§ 33 Abs 1 SGB X, §
117 SGB VI) zu entnehmen.
Für die ausgehend von seinem Verfügungssatz vorzunehmende Auslegung eines Verwaltungsaktes ist der in §
133 BGB ausgedrückte allgemeine Rechtsgedanke heranzuziehen, dass es nicht auf den Buchstaben, sondern auf den wirklichen Willen
der Behörde bzw des Verwaltungsträgers ankommt, soweit er im Bescheid greifbar seinen Niederschlag gefunden hat. Für die Ermittlung
des erklärten Willens sind dabei auch die Umstände und Gesichtspunkte heranzuziehen, die zur Aufhellung des Inhalts der Verfügung
beitragen können und die dem Beteiligten bekannt sind, wenn der Verwaltungsakt sich erkennbar auf sie bezieht. Maßstab der
Auslegung ist insofern der verständige und die Zusammenhänge berücksichtigende Beteiligte (vgl Badura in Erichsen/Ehlers,
Allg VerwR, 12. Aufl 2002, § 38 RdNr 17).
Der Bescheid vom 1.4.2010 nimmt erkennbar auf die bereits bestandskräftig abgeschlossenen Verwaltungsverfahren Bezug. Auf
dessen Seite 1 wird geregelt, dass der Kläger - auf seinen Antrag vom 1.9.2009 - rückwirkend Regelaltersrente erhält und die
Zahlung der Rente am 1.1.2005 beginnt. Bei dem Antrag vom 1.9.2009 handelt es sich um einen "Überprüfungsantrag gemäß § 44 SGB X". In Übereinstimmung mit Absatz 4 dieser Vorschrift wird die Rente für einen Zeitraum von vier Jahren vor dem Antrag erbracht, wobei der Zeitpunkt des Antrags
von Beginn des Jahres an gerechnet worden ist, in dem der Antrag gestellt wurde. Auf Seite 2 des Bescheides vom 1.4.2010 wird
schließlich - wenngleich verkürzt - der Wortlaut des § 44 Abs 4 SGB X angegeben. Unter Berücksichtigung dieser im Bescheid verlautbarten Umstände war erkennbar, dass die früheren, die Regelaltersrente
ablehnenden Bescheide, dh der Bescheid vom 14.5.2001, der Widerspruchsbescheid vom 11.6.2002 und der Bescheid vom 17.4.2003
gemäß § 44 Abs 1 S 1 SGB X zurückgenommen worden sind.
Dass § 44 Abs 4 SGB X die rückwirkende Erbringung von Leistungen im Fall der Aufhebung von gesetzeswidrigen, Sozialleistungen zu Unrecht verweigernden
Ablehnungsentscheidungen auf einen Zeitraum von längstens vier Jahren beschränkt, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Dem
Grundgesetz ist nicht zu entnehmen, dass die vollziehende Gewalt allgemein verpflichtet wäre, rechtswidrig belastende oder auch rechtswidrig
begünstigende Verwaltungsakte unbeschadet des Eintritts ihrer formellen Bestandskraft von Amts wegen oder auf Antrag des Adressaten
aufzuheben oder abzuändern (vgl BVerfGE 20, 230, 235; 116, 24, 55; 117, 302, 315). Dementsprechend besteht auch keine allgemeine Verpflichtung der vollziehenden Gewalt,
die Folgen einer rechtswidrigen Entscheidung im Nachhinein zu beseitigen. Tritt das Prinzip der Rechtssicherheit, aus dem
sich die grundsätzliche Rechtsbeständigkeit in Bestandskraft erwachsender Akte der öffentlichen Gewalt ergibt, mit dem Gebot
der Gerechtigkeit im Einzelfall in Widerstreit, so hat der Gesetzgeber beide Grundsätze abzuwägen und zu entscheiden, welchem
von beiden Prinzipien der Vorrang gegeben werden soll (vgl BVerfGE 15, 313, 319; 35, 41, 47). Dieses Gebot konkretisiert § 44 SGB X dahingehend, dass im Interesse des Betroffenen an der richtigen Anwendung des Gesetzesrechts die rechtswidrige Entscheidung
aufzuheben ist (Abs 1) und rückwirkend Sozialleistungen erbracht werden, wobei die Rückwirkung im Interesse der Rechtssicherheit
auf vier Jahre begrenzt wird (Abs 4). Gegen die Begrenzung der rückwirkenden Leistungserbringung auf diese Zeitspanne kann
unter dem Gesichtspunkt des Art
3 Abs
1 GG nicht der Vorwurf der Willkür erhoben werden (vgl hierzu allgemein BVerfGE 15, 313, 319 f; 35, 41, 47). Innerhalb eines Zeitraums von vier Jahren verjähren grundsätzlich sowohl Ansprüche auf Sozialleistungen
als auch auf Beiträge (vgl §
25 Abs
1 S 1
SGB IV). Damit hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass gleichermaßen zu Lasten wie auch zu Gunsten des Versicherten Rechte
und Pflichten aus einem Sozialleistungsverhältnis nach Ablauf dieser Zeitspanne nicht mehr geltend gemacht werden können.
Hierbei handelt es sich um eine ausgewogene Gesamtregelung, innerhalb derer sich § 44 Abs 4 SGB X als sachlich begründete Bestimmung darstellt. Unter dem Gesichtspunkt des Art
14 Abs
1 GG ist § 44 Abs 4 SGB X eine verhältnismäßige und damit zulässige Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums iS des Art
14 Abs
1 S 2
GG (vgl BSGE 60, 158, 163).
Für Fälle der vorliegenden Art enthält § 44 Abs 4 SGB X eine abschließende Regelung. Die Beklagte hat sie bei Vorliegen der Voraussetzungen anzuwenden, ohne dass hiergegen der Einwand
der unzulässigen Rechtsausübung erhoben oder ein Verstoß gegen Treu und Glauben geltend gemacht werden könnte (BSGE 60, 158, 160; 62, 10, 14).
Dem steht § 3 Abs 1 S 1 ZRBG nicht entgegen.
Nach dieser Vorschrift gilt ein bis zum 30.6.2003 gestellter Antrag auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung als
am 18.6.1997 gestellt, mit der Folge, dass die Rente bei Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen ab 1.7.1997, dem Tag des Inkrafttretens
des ZRBG (Art 3 Abs 2 ZRBG/SGB VI-Änderungsgesetz), zu leisten ist (vgl BSGE 103, 190 = SozR 4-5075 § 1 Nr 7, RdNr 57-58; BT-Drucks 14/8583, S 6). Schon unter Berücksichtigung seines Wortlauts regelt § 3 Abs
1 S 1 ZRBG allein die Wirkung der erstmaligen Antragstellung und hat keinen Bezug zum Verfahrensrecht (anders zB §
307b Abs
2 S 4
SGB VI). Auch ist nicht erkennbar, dass im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens verfahrensrechtliche Probleme erörtert worden wären
(vgl BT-Drucks 14/8583, S 1 ff; BT-Drucks 14/8602, S 1 ff).
Systematische Erwägungen bestätigen dieses Verständnis. Das ZRBG ergänzt die Vorschriften des
SGB VI (Senatsurteil vom 12.2.2009 - B 5 R 70/06 R - SozR 4-5075 § 1 Nr 6 RdNr 11). Verwaltungsakte, die unter Berücksichtigung des ZRBG ergehen, richten sich dementsprechend
nach demselben Verfahrensrecht, das für Verwaltungsakte maßgeblich ist, deren Regelungsgegenstand ausschließlich dem
SGB VI entstammt. Danach ist auch bei Rentenbescheiden mit ZRBG-Bezug das SGB X heranzuziehen, es sei denn, dem ZRBG ließe sich für bestimmte Verfahrensbestimmungen etwas anderes entnehmen. Dies ist indes
nicht der Fall.
Sinn und Zweck des ZRBG erlauben kein anderes Ergebnis. Diese gehen zwar dahin, eine Lücke im Recht der Wiedergutmachung nationalsozialistischen
Unrechts zu schließen (vgl Ulrike Mascher, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung,
BT-StenBer 14. Wahlperiode, 233. Sitzung, 25.4.2002, Plenarprotokoll 14/233 S 23282 zu Punkt B). Selbst dieser Grund legitimiert
die Gerichte jedoch nicht dazu, sich im Wege der Auslegung einer Norm über eine indisponible Regelung eines anderen Gesetzes
hinwegzusetzen.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus §
2 Abs
2 Halbs 2
SGB I, nach dem bei der Auslegung dieses Gesetzbuchs sicherzustellen ist, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht
werden. Diese Auslegungsregel enthält keinen Widerspruch zu den anerkannten Prinzipien der Methodenlehre, sondern gebietet
eine bürgerfreundliche Gesetzesinterpretation, soweit eine solche unter Zugrundelegung der anerkannten Auslegungsmethoden
möglich ist (vgl BSG, Urteil vom 10.11.2011 - B 8 SO 12/10 R - RdNr 23 mwN, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen; Mrozynski,
SGB I, 4. Aufl 2010, § 2 RdNr 16). Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Im Übrigen enthält § 44 SGB X bereits eine Konkretisierung des in §
2 Abs
2 Halbs 2
SGB I enthaltenen Rechtsgedankens (vgl BSGE 63, 214, 218).
Das hier vertretene Ergebnis verstößt nicht gegen Art
3 Abs
1 GG.
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art
3 Abs
1 GG gebietet, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (BVerfGE 98, 365, 385; 103, 310, 318 jeweils mwN). Art
3 Abs
1 GG ist daher verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl
zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung
rechtfertigen könnten (BVerfGE 112, 50, 67; 117, 272, 301; stRspr).
Die Personengruppe, deren Rentenverfahren vor dem 2./3.6.2009 bereits rechtskräftig abgeschlossen war und die auf einen Überprüfungsantrag
rückwirkende Rentenzahlungen lediglich für einen Zeitraum von vier Jahren erhält, unterscheidet sich von der Personengruppe
mit noch anhängigen Rentenverfahren zu diesem Zeitpunkt und sodann anerkannten Rentenansprüchen ab 1.7.1997 durch das Vorliegen
eines bestandskräftigen Verwaltungsakts. Hierbei handelt es sich um einen Unterschied, der eine ungleiche Behandlung beider
Gruppen rechtfertigt. Hat das BVerfG die Nichtigkeit einer gesetzlichen Norm mit Gesetzeskraft festgestellt (vgl §§ 78, 82 Abs 1, 95 Abs 3 S 1 und 2 iVm § 31 Abs 2 BVerfGG), bleiben nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift (§ 79 Abs 2 S 1 iVm §§ 82 Abs 1 und 95 Abs 3 S 3 BVerfGG) die aufgrund der nichtigen Norm ergangenen, nicht mehr anfechtbaren gerichtlichen Entscheidungen (mit Ausnahme von Strafurteilen
- § 79 Abs 1 BVerfGG) und Verwaltungsakte unberührt. Diese Regelung hat das BVerfG wiederholt im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens
für verfassungsmäßig erklärt (BVerfGE 20, 230, 235 mwN). Ist aber selbst im Fall der Nichtigkeit einer gesetzlichen Bestimmung eine unterschiedliche Behandlung von rechtskräftig
bzw bestandskräftig abgeschlossenen und anhängigen Verfahren verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, obwohl die Betroffenen
auf die Verfahrensdauer keinen entscheidenden Einfluss haben, kann im Fall einer geänderten höchstrichterlichen Rechtsprechung
nichts anderes gelten. Unter dem Blickwinkel des Art
3 Abs
1 GG erweist sich die rechtskräftige Entscheidung bzw der bestandskräftige Verwaltungsakt vielmehr als sachlich rechtfertigender
Grund für eine Ungleichbehandlung. Ob ausnahmsweise etwas anderes gilt, wenn unanfechtbare gerichtliche Entscheidungen oder
Verwaltungsakte auf einer sachlich nicht mehr nachvollziehbaren Gesetzesauslegung durch Verwaltungsträger und Gerichte beruhen,
bedarf keiner Entscheidung. Anhaltspunkte für ein solches Verhalten sind hier nicht ansatzweise ersichtlich.
Eine richterliche Rechtsfortbildung zu Gunsten des Klägers scheidet aus.
Zwar gehört es zu den Aufgaben der Dritten Gewalt, das Recht fortzuentwickeln. Dieser Befugnis sind jedoch mit Rücksicht auf
den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung (Art
20 Abs
3 GG) Grenzen gesetzt. Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt,
keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig
in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (BVerfG NJW 2011, 836 Textziff 53 mwN).
So verhält es sich hier. § 3 Abs 1 ZRBG ist nicht zu entnehmen, dass § 44 Abs 4 SGB X im Zugunstenverfahren keine Anwendung finden soll. Aufgrund der Zugehörigkeit der Norm zum Recht der gesetzlichen Rentenversicherung
ist gleichzeitig geklärt, dass für ihre verwaltungsverfahrensrechtliche Umsetzung die Vorschriften des SGB X Anwendung finden (§ 1 Abs 1 S 1 SGB X). Auch enthält das Gesetzgebungsverfahren keinerlei Hinweise auf eine spezialgesetzliche Verdrängung des allgemeinen Verfahrensrechts.
Die nachträgliche Anordnung der Nichtanwendbarkeit des § 44 Abs 4 SGB X im hier maßgeblichen Zusammenhang ist daher allein Sache des Gesetzgebers; die Rechtsprechung ist hierzu nicht befugt, auch
wenn der Senat dieses Ergebnis für wünschenswert hielte.
Die Entscheidung des erkennenden Senats steht mit den Urteilen des BSG vom 3.5.2005 (B 13 RJ 34/04 R - BSGE 94, 294 = SozR 4-2600 § 306 Nr 1) und vom 19.4.2011 (B 13 R 20/10 R - zur Veröffentlichung in SozR 4-6480 Art 27 Nr 1 vorgesehen) nicht in Widerspruch. Diesen liegen Sachverhalte zu Grunde,
in denen es um die erstmalige Bescheidung eines Rentenantrags unter Berücksichtigung des ZRBG ging, sodass der Anwendungsbereich
des § 44 SGB X nicht betroffen war. Eine Divergenz zu sonstigen Entscheidungen des BSG (BSGE 10, 113; 13, 67; Urteil vom 27.7.1972 - RzW 1973, 37) liegt schon deswegen nicht vor, weil sich diese nicht mit der Auslegung des ZRBG beschäftigen
und einen Zeitraum betreffen, in dem das SGB X noch nicht in Kraft gesetzt war.
Es bestand auch kein Anlass, den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes anzurufen. Der erkennende Senat weicht
mit seinem Urteil nicht von Entscheidungen des BGH (Urteil vom 22.11.1954, RzW 1955, 55, 57; Urteil vom 5.12.1958, RzW 1959,
215, 216; Urteil vom 1.12.1994 - IX ZR 63/94 - Juris; Urteil vom 22.2.2001 - IX ZR 113/00 - Juris RdNr 14 = BGHReport 2001, 372 = LM BEG 1956 § 35 Nr 37 [5/2001]) ab. Vielmehr ist er mit dem BGH der Auffassung,
dass im Wiedergutmachungsrecht derjenigen Auslegung der Vorrang einzuräumen ist, die es erlaubt, das zugefügte Unrecht sobald
und soweit wie irgend möglich wiedergutzumachen, falls eine solche Auslegung möglich ist. Diese Voraussetzung liegt hier aus
den oben genannten Gründen jedoch nicht vor. Abgesehen davon geht es im hiesigen Verfahren um die Auslegung einer rentenrechtlichen
Vorschrift, für die allein die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zuständig sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 Abs
1 und 4
SGG.