Kein Anspruch auf Feststellung einer überlangen Dauer des sozialgerichtlichen Verfahrens bei nicht unverzüglicher Erhebung
der Verzögerungsrüge nach Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen
Ermittlungsverfahren
Gründe:
I
Der Kläger begehrt Entschädigung für die Dauer eines rund achtjährigen Gerichtsverfahrens vor dem SG Frankfurt (Oder) über
Ansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Der Ausgangsrechtsstreit begann am 6.12.2004, als der Kläger gegen einen Bescheid der für ihn zuständigen Berufsgenossenschaft
(BG) Klage erhob. In dem Bescheid hatte die BG weitere Leistungen wegen eines am 22.3.2002 erlittenen Arbeitsunfalls abgelehnt
(Bescheid vom 18.10.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1.12.2004). Der Rechtsstreit zog sich bis in das Jahr 2012
hin. Unter anderem musste das SG einen Sachverständigen auswechseln, dem neuen Sachverständigen Fristverlängerung gewähren und danach mehrfach zu umfangreichen
Einwänden des Klägers Stellung nehmen lassen. Zudem wechselte der Kammervorsitz und der neue Kammervorsitzende erkrankte zeitweilig.
Am 5.4.2012 erhoben die Bevollmächtigten des Klägers Verzögerungsrüge. Am 24.5.2012 wies das SG die Klage ohne mündliche Verhandlung ab. Die dagegen vom Kläger am 31.8.2012 eingelegte Berufung wies das LSG mit Urteil
vom 27.6.2013 zurück.
Am 16.9.2013 hat der Kläger beim LSG Entschädigungsklage erhoben und beantragt, ihm eine angemessene Entschädigung für den
immateriellen Schaden durch die um fünf Jahre und einen Monat überlange Dauer des SG-Verfahrens in Höhe von mindestens 1200 Euro pro Jahr der Verzögerung zu zahlen.
Das LSG hat die Klage mit Urteil vom 20.8.2014 abgewiesen. Es könne dahinstehen, ob der Rechtsstreit in der Zeit bis zum 5.4.2012
verzögert gewesen sei, weil der Kläger seine Verzögerungsrüge erst vier Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtsschutz
bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGG) und damit nicht unverzüglich im Sinne von
Art 23 S 2 ÜGG erhoben habe. Daher scheide sowohl eine Entschädigung in Geld als auch eine bloße Feststellung der Überlänge
aus (unter Hinweis auf BGH Urteil vom 10.4.2014 - III ZR 335/13 - Juris). Eine entschädigungspflichtige Verzögerung nach Erhebung der Verzögerungsrüge sei nicht ersichtlich, weil das SG das Verfahren danach innerhalb von sieben Wochen durch Urteil abgeschlossen habe.
Mit seiner Revision macht der Kläger geltend, die von der Übergangsvorschrift des Art 23 S 2 ÜGG angeordnete Präklusion umfasse
lediglich die Entschädigung in Geld, nicht jedoch die von ihm mit seiner Revision nur noch angestrebte Feststellung der Überlänge
durch das Gericht. Das ergebe sich aus den Gesetzesmaterialien.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,
das Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 20.8.2014 abzuändern und festzustellen,
dass das Verfahren des Klägers vor dem SG Frankfurt (Oder) - S 3 U 165/04 - unangemessen lange gedauert hat.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die auch das Feststellungsbegehren umfassende Präklusionswirkung von Art 23 S 2 ÜGG sei inzwischen von der höchstrichterlichen Rechtsprechung insbesondere des BSG geklärt.
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet (§
170 Abs
1 S 1
SGG). Das LSG hat seine Entschädigungsklage zu Recht vollumfänglich abgewiesen.
Zutreffend hat das LSG das Begehren des Klägers sowohl in prozessualer als auch in materiellrechtlicher Hinsicht an §§
198 ff
GVG gemessen (dazu 1.). Ungeachtet der Zulässigkeit der vom Kläger zuletzt erhobenen Feststellungsklage (dazu 2.) hat das LSG
jedenfalls in der Sache den von der Revision nur noch geltend gemachten Feststellungsanspruch zutreffend für den weit überwiegenden
Teil des geltend gemachten Zeitraums wegen Präklusion (dazu 3.a) und hinsichtlich der verbleibenden kurzen Zeitspanne mangels
Überlänge verneint (dazu 3.b).
1. Das Begehren des Klägers ist in prozessualer und materiell-rechtlicher Hinsicht an §§
198 ff
GVG zu messen, obwohl diese Vorschriften erst während des hier vom Kläger als überlang gerügten Verfahrens in Kraft getreten
sind (zeitlicher Anwendungsbereich des §
198 GVG). Die Vorschriften des ÜGG vom 24.11.2011 (BGBl I 2302) und damit auch die §§
198 ff
GVG finden aufgrund der Übergangsregelung des Art 23 S 1 ÜGG auch auf Verfahren Anwendung, die wie dasjenige des Klägers bei Inkrafttreten des ÜGG am 3.12.2011 (vgl Art 24 ÜGG)
anhängig waren.
2. a) Das beklagte Land ist im Verfahren wirksam durch die Präsidentin des LSG Berlin-Brandenburg vertreten worden, obwohl
die Bedenken des Senats gegen diese Vertretungsregelung fortbestehen (vgl BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 12/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 4 RdNr 19).
b) Die vom Kläger ursprünglich erhobene, auf Entschädigungszahlung gerichtete Klage war ebenso zulässig wie ihre in der Revisionsinstanz
vorgenommene Umstellung auf einen Feststellungsantrag.
Vor dem LSG hat der Kläger von dem beklagten Land noch eine Entschädigung in Geld nach §
198 Abs
1 S 1
GVG verlangt. Diese Entschädigungsklage war als allgemeine Leistungsklage statthaft (§
54 Abs
5 SGG; vgl hierzu Senatsurteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 12/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 4 RdNr 20; Senatsurteil vom 3.9.2014 - B 10
ÜG 2/14 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 5 RdNr 17 mwN). In der Revisionsinstanz hat er seinen Antrag auf Feststellung der Überlänge
des Ausgangsverfahrens umgestellt. Darin liegt keine nach §
168 SGG unzulässige Klageänderung, wie sich aus der Fiktion des §
99 Abs
3 Nr
2 2. Alt
SGG ergibt (vgl BSG SozR 2200 § 1236 Nr 43; BSGE 31, 112). Die bloße Beschränkung des Klageantrags bei unverändertem Lebenssachverhalt erweitert den Streitgegenstand des Revisionsverfahrens
nicht in unzulässiger Weise auf vom LSG nicht festgestellte Tatsachen, vgl §
163 SGG.
c) Zweifel wirft indes die Statthaftigkeit der nur noch auf Feststellung der Überlänge gerichteten Klage auf, wie der Kläger
sie zuletzt zur Entscheidung des Revisionsgerichts gestellt hat. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung gibt es bislang
noch keine Übereinstimmung, ob auch eine isolierte Klage auf Feststellung der Überlänge, wie diejenige des Klägers in der
Revisionsinstanz, als statthaft anzusehen ist. Während nach Ansicht des BGH die §§
198 ff
GVG keine eigenständige Klage unmittelbar auf Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer zulassen, weil das Gesetz dem Betroffenen
keinen Anspruch auf Feststellung der Überlänge neben der Entschädigung einräume (BGHZ 199, 190; 200, 20; dazu Reiter, NJW 2015, 2554, 2558), hat das BVerwG zumindest einen solchen Feststellungsanspruch zusätzlich zu einer Geldentschädigung für zulässig erachtet
(vgl BVerwG Urteil vom 11.7.2013 - 5 C 23/12 D - BVerwGE 147, 146 RdNr 63 ff; zustimmend Schenke, NJW 2015, 433, 434 ff). Der erkennende Senat neigt grundsätzlich zu der Auffassung des BVerwG, dass der Betroffene einen gesondert einklagbaren
Anspruch auf Feststellung der Überlänge eines gerichtlichen Verfahrens haben muss. Dies entspricht der Einordnung als "kleiner
Entschädigungsanspruch" (Senatsurteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3, RdNr 57 mwN).
Der Senat sieht sich dennoch nicht veranlasst, das Vorlageverfahren gemäß §§ 1, 2 Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (RsprEinhG) einzuleiten. Zwar hat der Senat verbindlich die Entscheidung des Gemeinsamen Senats einzuholen, wenn ein oberster Gerichtshof
in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs oder des Gemeinsamen Senats abweichen will (§
2 Abs 1 RsprEinhG). Die Rechtsfrage muss sich aber auf der Grundlage von Vorschriften stellen, die in ihrem Regelungsgehalt gänzlich übereinstimmen
und nach denselben Grundsätzen auszulegen sind. Darüber hinaus muss die Rechtsfrage sowohl für den erkennenden Senat in der
anhängigen Sache als auch für den divergierenden Senat in der bereits entschiedenen Sache entscheidungserheblich sein (vgl
ua BVerwGE 151, 255). Auf der Basis der hier gegebenen Sachverhaltskonstellation kann aber keine völlige Deckungsgleichheit der aufgeworfenen
Frage zum Anspruch auf Feststellung der Überlänge angenommen werden, wenn nach Erledigung der Klage auf Geldentschädigung
die Feststellung der Überlänge bzw deren Unterlassung nicht mehr revisibel wäre. Der Standpunkt des BGH lässt nicht klar erkennen,
ob und inwieweit er in Konstellationen isolierter Feststellungsbegehren an seiner Auffassung zur mangelnden Einklagbarkeit
festhalten würde. Jedenfalls ist eine Divergenz nicht so eindeutig erkennbar, dass eine Anrufung des Gemeinsamen Senats erforderlich
wäre. Eine solche Anrufung setzt voraus, dass eine eindeutige Abweichung vorliegt; die bloße Möglichkeit des Vorliegens einer
Divergenz genügt nicht (vgl BAGE 21, 312, Juris RdNr 13). Der Senat braucht diese Rechtsfrage aber im vorliegenden Fall auch nicht abschließend zu entscheiden, weil
die Klage jedenfalls unbegründet ist.
3. a) Das LSG hat die Entschädigungsklage in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats zu Recht in vollem Umfang und
damit auch hinsichtlich des in der Revision allein noch streitgegenständlichen Feststellungsbegehrens abgewiesen, weil der
Kläger im Ausgangsverfahren erst am 5.4.2012 und damit rund vier Monate nach Inkrafttreten des ÜGG Verzögerungsrüge erhoben
hat. Eine Verzögerungsrüge ist nach Art 23 S 2 ÜGG nur dann unverzüglich erhoben, wenn sie spätestens drei Monate nach Inkrafttreten
des ÜGG beim Ausgangsgericht eingegangen ist (BSG SozR 4-1710 Art 23 Nr 1). Das Fehlen einer solchen unverzüglichen Rüge schließt, davon ist das LSG ebenfalls zutreffend ausgegangen, auch einen
Anspruch des Klägers auf Feststellung der Überlänge des Verfahrens nach §
198 Abs
4 S 1 und 3
GVG aus. Wie der Senat bereits entschieden hat, präkludiert die im Anwendungsbereich des Art 23 S 2 und 3 ÜGG nicht rechtzeitig erhobene Verzögerungsrüge nicht nur den Anspruch auf Geldentschädigung aus §
198 Abs
1 S 1
GVG, sondern ebenso die bloße Feststellung einer überlangen Verfahrensdauer nach §
198 Abs
4 S 3 Halbs 2
GVG bis zum tatsächlichen Rügezeitpunkt. Das folgt aus Wortlaut, Systematik und Zweck der Übergangsvorschrift (BSG Urteil vom 5.5.2015 - B 10 ÜG 8/14 R - SozR 4-1710 Art 23 Nr 4). Der Senat hat sich insoweit zur Wahrung der Rechtseinheit
der Rechtsprechung des BGH (Urteil vom 10.4.2014 - III ZR 335/13 - NJW 2014, 1967, Juris RdNr 35) und des BFH (Urteil vom 20.8.2014 - X K 9/13 - BFHE 247, 1; Urteil vom 20.8.2014 - X K 12/12 - BFH/NV 2015, 208; zur ausdrücklich aufgegebenen gegenteiligen Ansicht des BFH vgl Urteil vom 17.4.2013 - X K 3/12 - BFHE 240, 516) angeschlossen und hält daran trotz der Einwände des Klägers fest. Nach Art 23 S 3 ÜGG wahrt nur eine rechtzeitige Verzögerungsrüge "einen Anspruch" nach §
198 GVG. §
198 GVG enthält neben dem auf Entschädigung in Geld gerichteten Anspruch aus Abs 1 S 1 der Vorschrift in Abs 4 eine Art kleinen Entschädigungsanspruch
als ein Weniger im Verhältnis zum Anspruch auf Entschädigung in Geld (Senatsurteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117,
21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3, RdNr 57 mwN). Zwischen den beiden Ansprüchen unterscheidet Art 23 S 3 ÜGG nicht, sondern knüpft
sie einheitlich an das Erfordernis einer rechtzeitigen Verzögerungsrüge. Deshalb erfasst die Präklusionswirkung des Art 23
S 3 ÜGG nicht nur den Anspruch auf Geldentschädigung, sondern ohne Einschränkung alle Formen der Wiedergutmachung nach §
198 GVG wie die ausschließliche gerichtliche Feststellung der Überlänge (vgl BGH Urteil vom 10.4.2014 - III ZR 335/13 - NJW 2014, 1967, Juris RdNr 35).
Obwohl der Kläger dem entgegentritt und auf die Gesetzgebungsmaterialien zu §
198 Abs
3 GVG verweist, sprechen diese nicht gegen die vom Senat insoweit in Übereinstimmung mit dem BGH und BFH gefundene Auslegung des
Art 23 S 3 ÜGG. Vielmehr hat der Senat in der zitierten Grundsatzentscheidung dargelegt, warum die Entstehungsgeschichte seine
Rechtsansicht umgekehrt gerade stützt. Nur eine rechtzeitige Erhebung der Verzögerungsrüge sollte, so ausdrücklich die Gesetzesbegründung,
den Anspruch aus §
198 GVG in vollem Umfang wahren (BT-Drucks 17/3802 S 31).
b) Soweit das LSG darüber hinaus angenommen hat, dass die nicht von der Präklusion umfasste Verfahrensdauer von sieben Wochen
zwischen Verzögerungsrüge und erstinstanzlichen Urteil ebenfalls keinen Entschädigungsanspruch - in der hier nur noch geltend
gemachten Form einer Feststellung der Überlänge - begründe, weil eine überlange Verfahrensdauer in diesem kurzen Zeitraum
nicht festzustellen sei, so sind dagegen keine rechtlichen Bedenken ersichtlich (vgl BGH Urteil vom 10.4.2014 - III ZR 335/13 - NJW 2014, 1967, Juris RdNr 37) und von der Revision auch nicht geltend gemacht.
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §
197a SGG iVm §
154 Abs
2 VwGO. Danach trägt der Kläger die Verfahrenskosten, weil er trotz der von ihm erstritten Revisionszulassung letztlich in vollem
Umfang unterliegt. Für die von ihm angeführten Billigkeitserwägungen lässt der Wortlaut der Vorschrift keinen Raum; auf die
Gründe des Unterliegens kommt es nicht an (BVerwG Buchholz 310 §
144 VwGO Nr 69; Redeker/von Oertzen,
VwGO, 16. Aufl 2014, §
154 RdNr 2).
5. Die Streitwertentscheidung beruht auf §
197a Abs
1 S 1
SGG iVm §§
63 Abs
2 S 1, § 47 Abs 1 und 2, § 52 Abs 1 und 3 GKG. Der Streitwert entspricht dem vom LSG angenommenen Betrag; eine Absenkung ist nicht angezeigt (aA Thüringer Oberverwaltungsgericht
Urteil vom 8.1.2014 - 2 SO 182/12 - Juris RdNr 109). Beim Feststellungsantrag des Klägers handelt es sich um ein auf Entschädigung
in anderer Weise gerichtetes Leistungs- und nicht um ein reines Feststellungsbegehren, für das in anderen Konstellationen
eine Streitwertreduzierung entsprechend zivilgerichtlichen Wertgrundsätzen für angemessen gehalten wird (vgl Binz/Dörndorfer/Petzold/Zimmermann,
GKG, FamGKG, JVEG, 3. Aufl 2014, § 52 RdNr 4 mwN).