Einkommensprognose beim Anspruch auf Erziehungsgeld
Gründe:
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin Anspruch auf Bundeserziehungsgeld (Erzg) für die ersten sechs Lebensmonate
ihres am 2000 geborenen und von ihr betreuten Sohnes M. hat.
Der Beklagte lehnte den Antrag der nach der Geburt ihres Sohnes nicht mehr berufstätigen Klägerin auf Erzg ab, weil die -
unter Berücksichtigung von Ms' Bruder - bei 104.200 DM liegende Einkommensgrenze überschritten sei (Bescheid vom 22.5.2000).
Das Familieneinkommen hatte der Beklagte nach einer von der Klägerin vorgelegten Verdienstbescheinigung des Arbeitgebers ihres
Ehemannes vom 4.4.2000 über einen voraussichtlichen Bruttoarbeitslohn von 187.218,40 DM im Kalenderjahr 2000 unter Abzug von
Werbungskosten von 3.618 DM, einer Pauschale von 27 % der Einkünfte sowie von Unterhaltsleistungen des Ehemannes an seine
geschiedene erste Ehefrau (13.048 DM) und an zwei Kinder aus erster Ehe (15.692 DM) mit 105.288 DM errechnet.
Dagegen machte die Klägerin erfolglos geltend, über die tatsächlichen Zahlbeträge des Kindesunterhalts hinaus sei die Hälfte
des von der geschiedenen Ehefrau für die beiden Kinder bezogenen Kindergeldes abzuziehen (Widerspruchsbescheid vom 19.7.2000).
Im sozialgerichtlichen Verfahren legte die Klägerin am 8.5.2002 den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2000 vor. Daraus
ergab sich ein Bruttoarbeitsentgelt des Ehemannes von nur 182.997 DM. Die Klägerin beantragte deshalb, aus Härtegründen das
im Jahr 2000 tatsächlich erzielte, den Grenzwert nicht überschreitende Einkommen zu berücksichtigen. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 21.6.2002). Das rechtmäßig mit 105.288 DM prognostizierte Einkommen liege
über der Einkommensgrenze. Anteiliges Kindergeld sei nicht abzuziehen. Die Einkommensprognose sei fehlerfrei und deshalb verbindlich;
sie werde durch eine abweichende Einkommensentwicklung nicht in Frage gestellt. Nach den von der Rechtsprechung entwickelten
Maßstäben führe die Abweichung vom prognostizierten Einkommen allerdings zu einer Härte. Gleichwohl habe die Klägerin keinen
Anspruch auf die begehrte Leistung, weil sie ihren Härteantrag nicht fristgerecht gestellt habe und eine Wiedereinsetzung
ausscheide.
Das Landessozialgericht (LSG) hat den Beklagten verurteilt, der Klägerin für die ersten sechs Lebensmonate ihres Sohnes M.
Erzg zu gewähren, nachdem sich im Berufungsverfahren herausgestellt hatte, dass dieser im März/April 2000 erkrankt war, sein
Vater deshalb den ältesten Sohn betreut und wegen des dafür genommenen unbezahlten Urlaubs weniger verdient hatte, sodass
das Familieneinkommen unter den Grenzbetrag gesunken war. Das LSG hat daraus den Schluss gezogen, durch diese Umstände sei
die Einkommensprognose der Beklagten unverbindlich geworden. Der gerichtlich nicht überprüfbare Beurteilungsspielraum bei
Prognoseentscheidungen schließe damals bereits eingetretene Tatsachen nicht ein. Er betreffe nur die Würdigung dieser Tatsachen.
Der Beklagte macht mit der Revision geltend, das LSG habe § 6 Abs 1 Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG) damals geltender Fassung verletzt. Die dort geforderte Einkommensprognose habe der Beklagte nach den von der Rechtsprechung
entwickelten Grundsätzen fehlerfrei und damit verbindlich getroffen.
Der Beklagte beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Bayerischen LSG vom 6.4.2006 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG München
vom 21.6.2002 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt das Berufungsurteil und hält in diesem Rechtsstreit einzig die Frage für interessant, ob das hälftige Kindergeld,
das den Ehemann der Klägerin beim Unterhalt an seine erstehelichen Kinder entlaste, als Unterhaltszahlung vom Einkommen abzuziehen
ist.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§
124 Abs
2 SGG) einverstanden erklärt.
II. Die Revision des Beklagten ist begründet.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erzg, weil diese Leistung nur bis zu einer Einkommensgrenze gewährt wird, die hier überschritten
ist. Der Beklagte hat das dafür maßgebliche Einkommen des Jahres 2000 in den angegriffenen Bescheiden fehlerfrei prognostiziert.
Ein Härtefall liegt nicht vor, obwohl die Klägerin mit dem tatsächlich erzielten Einkommen die maßgebliche Grenze unterschritten
hätte.
Nach § 5 Abs 2 Satz 1 BErzGG in der hier geltenden Fassung vom 20.12.1996 (BGBl I 1996, 2110) - aF - entfällt das Erzg in den ersten sechs Lebensmonaten eines Kindes, wenn das nach § 6 BErzGG bestimmte Einkommen bei Verheirateten, die von ihrem Ehepartner nicht dauernd getrennt leben, 100.000 DM übersteigt. Die
Einkommensgrenze erhöht sich um 4.200 DM für jedes weitere Kind des Berechtigten oder seines nicht dauernd von ihm getrennt
lebenden Ehegatten, für das ihm oder seinem Ehegatten Kindergeld gewährt wird (§ 5 Abs 2 Satz 3 BErzGG aF). Demzufolge lag die Einkommensgrenze hier bei 104.200 DM.
Nach § 6 Abs 2 Satz 1 BErzGG aF ist für die Minderung - und (in den ersten sechs Lebensmonaten) für den Ausschluss - von Erzg das voraussichtliche Einkommen
im Kalenderjahr der Geburt des Kindes maßgebend. Das Gesetz fordert danach eine Einkommensprognose, deren Verbindlichkeit
nicht dadurch in Frage gestellt wird, dass sich im Nachhinein ein anderes Einkommen ergibt. Der Gesetzgeber hat das Einkommen
im Jahr der Geburt des Kindes für maßgebend erklärt, um Leistungen nach der aktuellen Einkommenssituation zu gewähren. Unter
diesen Umständen ist eine baldige Entscheidung über das Erzg nur möglich, wenn das Einkommen im Kalenderjahr der Geburt prognostiziert
wird. Denn endgültig steht das Einkommen erst mit dem Einkommensteuerbescheid fest, der häufig erst lange Zeit nach Ablauf
des betreffenden Jahres ergeht. Um doppelten Verwaltungsaufwand zu vermeiden, hat der Gesetzgeber auch nicht die Lösung gewählt,
das Erzg zunächst nur vorläufig und erst nach Vorliegen des Einkommensteuerbescheides endgültig festzusetzen. Er hat vielmehr
nur für Härtefälle in § 6 Abs 7 BErzGG aF die Berücksichtigung einer von der Prognose abweichenden Einkommensentwicklung zugelassen. Bei diesen gesetzlichen Vorgaben
kann die von der Verwaltung getroffene Einkommensprognose als solche nur mit der Begründung angegriffen werden, sie sei von
vornherein von einer unzutreffenden Tatsachengrundlage ausgegangen. Der Verwaltung kann nur die Verpflichtung auferlegt werden,
die für die Einkommensschätzung maßgeblichen Faktoren zu ermitteln und in die Abschätzung einzubeziehen. Dabei ist ihr ein
gerichtlich nicht zu überprüfender Beurteilungsspielraum ("Einschätzungspärogative") zuzubilligen (BSG SozR 3-7833 § 6 Nr
15 S 88).
Die Prognose ist dann fehlerfrei und verbindlich, wenn sie aufgrund der vorhandenen Umstände und Zahlen nachvollziehbar ist,
insbesondere nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt. Dabei kann nur auf die der Verwaltung bekannten oder zumindest
erkennbaren Umstände abgestellt werden, auch soweit sie nicht in Zukunft zu erwarten, sondern bereits eingetreten sind. Denn
im Rahmen eines ordnungsgemäßen Gesetzesvollzugs kann von der Verwaltung nicht mehr verlangt werden, als sie zu leisten vermag.
Nicht erwogene Umstände, die sie auch bei sorgfältiger Ermittlung nicht kennen und berücksichtigen kann, vermögen die Rechtmäßigkeit
ihrer Entscheidung - anders als vom LSG angenommen - nicht zu berühren (BSG aaO).
Grundlage der Prognose können deshalb nur bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens, also spätestens bis zum Erlass des
Widerspruchsbescheides erkennbare Umstände sein. Maßgebend ist insoweit der verfahrensfehlerfrei ermittelte Kenntnisstand
der Verwaltung, wobei die Behörde von den Angaben des Antragstellers im Leistungsantrag ausgehen muss. Der Antragsteller hat
aufgrund seiner Mitwirkungspflicht nach §
60 Abs
1 Nr
1 SGB I alle für die Leistung erheblichen Tatsachen anzugeben und - nach Nr 2 der Vorschrift - Änderungen mitzuteilen. Die Behörde
ist deshalb grundsätzlich nur dann verpflichtet, den Sachverhalt von Amts wegen weiter zu ermitteln, wenn die Angaben unvollständig
oder unklar sind (BSG aaO S 88 f, vgl auch Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 7.7.1978 - IV C 79.76 -, BVerwGE 56, 110, juris RdNr 57).
Der Beklagte hat danach seiner Prognose eines anspruchsausschließenden Einkommens von 105.288 DM zutreffend die von der Klägerin
eingereichte Verdienstbescheinigung vom 4.4.2000 über das voraussichtliche Bruttoeinkommen des Ehemannes im Jahre 2000 (187.218,40
DM) zugrunde gelegt. Bei Abschluss des Verwaltungsverfahrens durch den Widerspruchsbescheid vom 19.7.2000 bestand aus der
Sicht des Beklagten kein Grund, an der Richtigkeit des bescheinigten Einkommens zu zweifeln und deshalb weiter zu ermitteln.
Es wäre Sache der Klägerin gewesen, den von der Verdienstbescheinigung abweichenden und ihr bzw ihrem Ehemann bereits bekannten
Minderverdienst mitzuteilen. Von dem rechtsfehlerfrei prognostizierten Bruttobetrag hat die Beklagte zutreffend die nach §
6 Abs 1 BErzGG vorgesehenen Abzüge vorgenommen. Wie der Senat schon entschieden hat, ist bei der Ermittlung des anrechenbaren Einkommens
der an den geschiedenen Ehegatten des Erziehungsgeldberechtigten (oder dessen Ehegatten) ausgezahlte hälftige Kindergeldbetrag
nicht als Unterhaltsleistung iS des § 6 Abs 1 Nr 2 BErzGG zu berücksichtigen (vgl BSG SozR 4-7833 § 6 Nr 1 mwN).
Die Klägerin hat auch nach § 6 Abs 7 BErzGG keinen Anspruch auf Erzg.
Sind die tatsächlich erzielten Einkünfte auf Grund eines Härtefalls geringer als die prognostizierten, so werden nach dieser
Vorschrift auf Antrag nachträglich die niedrigeren Einkünfte berücksichtigt. Hier liegt nach den von der Rechtsprechung zu
§ 6 Abs 7 BErzGG aF entwickelten Maßstäben kein Härtefall vor.
Ein Härtefall wurde dann angenommen, wenn eine Einkommensentwicklung eingetreten war, die den Betroffenen so stark belastete,
dass ein Festhalten an den dem Bewilligungsbescheid zugrunde gelegten Verhältnissen als unbillig anzusehen war (vgl Pauli
in Hambüchen, Kindergeld, Erziehungsgeld, Elternzeit, Stand 2004, § 6 RdNr 71). Der Härtefall war danach die erhebliche Abweichung
des tatsächlich vom prognostizierten Einkommen (BSGE 85, 231, 236 = SozR 3-7833 § 6 Nr 20 S 123). Dem ist der Gesetzgeber in der heute geltenden Fassung der Vorschrift unter Quantifizierung
der Abweichung gefolgt: Das maßgebende Einkommen wird auf Antrag - erst dann - neu ermittelt, wenn es mindestens 20 % von
dem zugrunde gelegten Einkommen abweicht (§ 6 Abs 7 idF des 3. BErzGG-Änderungsgesetzes vom 12.10.2000, BGBl I, 1426).
Hier liegt keine erhebliche Abweichung vor. Die wirtschaftliche Situation der Klägerin hatte sich - gemessen am Familieneinkommen
- nur marginal anders entwickelt als prognostiziert. Statt 105.288 DM betrug das Familieneinkommen - wie im Berufungsurteil
im Einzelnen ausgeführt - 104.047,50 DM. Das tatsächliche Einkommen lag damit um lediglich 1,18 % niedriger als vom Beklagten
prognostiziert und unterschritt die Ausschlussgrenze nur um 0,14 %.
Wie der vorliegende Fall zeigt, können auch treffsichere, von der späteren Entwicklung nur äußerst geringfügig abweichende
Prognosen erhebliche Auswirkungen haben, wenn sie dazu führen, dass die vorausschauend als knapp nicht eingehalten eingeschätzte
Einkommensgrenze tatsächlich doch unterschritten wird. Das ist aber kein Grund, weitergehende Härteüberlegungen anzustellen,
weil dieser Effekt im Gesetz angelegt ist. Es fördert die Betreuungsleistung von Eltern nur bis zu einer Einkommensgrenze
und lässt den Anspruch bei noch so geringfügigem Überschreiten dieser Grenze ohne Rücksicht auf die nahezu unveränderte wirtschaftliche
Situation der Betroffenen übergangslos wegfallen. Eine solche Regelung ist von Verfassungs wegen jedenfalls dann nicht zu
beanstanden, wenn die Einkommensgrenze so hoch angesetzt wird wie hier in § 5 Abs 2 BErzGG aF (vgl dazu allg BVerfGE 107, 205 = SozR 4-2500 § 10 Nr 1; BVerfGE 78, 104).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.