Anspruch auf eine erneute Gewährung von Insolvenzgeld nach Eröffnung eines zweiten Insolvenzverfahrens
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Insolvenzgeld (Insg) für die Zeit vom 1.2. bis 24.4.2003.
Der Kläger war Berufsfußballspieler ("Vertragsamateur") beim Verein für Bewegungsspiele L. eV (VfB L; im Folgenden: Arbeitgeber).
Das Amtsgerichts L. (AG) eröffnete erstmals mit Beschluss vom 1.1.2000 über das Vermögen des Arbeitgebers das Insolvenzverfahren,
bestätigte den vom damaligen Insolvenzverwalter vorgelegten Insolvenzplan, der den Erhalt des Arbeitgebers gewährleisten sollte
und ordnete dessen Überwachung für die Dauer von zwei Jahren an. Mit Beschluss vom 1.12.2000 stellte das AG das Insolvenzverfahren
ein und hob am 5.12.2002 die Überwachung wegen Ende der Überwachungszeit auf (Rechtskraftvermerk vom 15.1.2003). Am 9.12.2002
bestätigte der damalige Insolvenzverwalter, dass ihm als einzige fällige, nicht erfüllte Insolvenzforderung eine solche des
Herrn M. bekannt sei, er aber keine Bedenken habe, dass die Überwachung durch Zeitablauf per 30.11.2002 ende.
Am 3.12.2003 bzw 23.12.2003 beantragten der Arbeitgeber und die AOK Sachsen erneut die Eröffnung des Insolvenzverfahrens wegen
Zahlungsunfähigkeit. Nachdem ein Gutachten die Überschuldung des Arbeitgebers ergeben hatte (Arbeitsentgeltrückstände: 309
818,64 Euro; Beitragsrückstände gegenüber den Einzugsstellen: 367 938,30 Euro), eröffnete das AG mit Beschluss vom 2.2.2004
ein zweites Insolvenzverfahren über das Vermögen des Arbeitgebers.
Auf seinen ersten Antrag vom 16.2.2000 bewilligte die Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 1.10. bis zum 31.12.1999 Insg in
Höhe von 12 016,99 DM (Bescheid vom 8.3.2000). Vom 1.7.2002 bis zum 30.6.2003 war der Kläger aufgrund eines befristeten Vertrags
vom 16.5.2002 (für die Saison 2002/2003) erneut als Vertragsfußballspieler beim Arbeitgeber beschäftigt. In einem Arbeitsgerichtsprozess
einigten sich Arbeitgeber und Kläger darauf, dass das Vertragsverhältnis zum 24.4.2003 geendet habe und ein Vertragsverhältnis
zum jetzigen Insolvenzverwalter nicht begründet worden sei. Bereits am 25.2.2004 hatte der Kläger erneut die Gewährung von
Insg bei der Beklagten beantragt.
Mit Bescheid vom 9.6.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.9.2004 lehnte die Beklagte die Gewährung von (erneutem)
Insg ab, weil nach dem ersten Insolvenzereignis eine Zahlungsfähigkeit des Arbeitgebers nicht wiederhergestellt worden sei.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 14.11.2006). Das Landessozialgericht (LSG) hat das erstinstanzliche Urteil sowie die
angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Insg für die Zeit vom 1.2. bis 24.4.2003 entsprechend
der Insg-Bescheinigung des Insolvenzverwalters zu zahlen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Zwar bestehe ein
Anspruch des Klägers auf Zahlung von Insg nicht bereits nach §
183 Abs
2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (
SGB III), weil der Kläger bereits aufgrund des ersten Insolvenzereignisses Insg erhalten habe, die Vorschrift aber nur den Arbeitnehmer
schütze, der in Unkenntnis eines Insolvenzereignisses weitergearbeitet oder die Arbeit aufgenommen habe. Der Anspruch des
Klägers bestehe jedoch nach §
183 Abs
1 S 1 Nr
1 SGB III für die bei Eintritt des (neuen) Insolvenzereignisses vorausgegangenen drei Monate des Arbeitsverhältnisses. Zwar könne ein
neues Insolvenzereignis solange nicht eintreten, wie die auf einem bestimmten Insolvenzereignis beruhende Zahlungsunfähigkeit
des Arbeitgebers andauere. Diese ende nicht schon dadurch, dass der Schuldner einzelne Zahlungsverpflichtungen wieder erfülle.
Auch die Aufhebung des Insolvenzverfahrens durch das Insolvenzgericht nach Bestätigung des vom Insolvenzverwalter überwachten
Insolvenzplans beseitige den zunächst eingetretenen Insolvenzfall noch nicht mit der Möglichkeit des Entstehens neuer Ansprüche
auf Insg. Dies gelte jedenfalls solange, wie die im Insolvenzplan vorgesehene Überwachung der Planerfüllung andauere. Gleichwohl
sei die erneute Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 2.2.2004 ein hinreichendes Insolvenzereignis, um einen neuen Anspruch
auf Insg zu begründen. Denn §
183 Abs
1 SGB III sei unter Beachtung der Richtlinie des Rats der europäischen Gemeinschaft vom 20.10.1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften
der Mitglieder über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (EWGRL 80/987, ABl L 283, 23) idF
der EGRL 2002/74 dahingehend auszulegen, dass auch ein nachfolgendes zweites "formelles" Insolvenzereignis bei fortbestehender
Insolvenz ausreichend sei, einen Anspruch auf Insg auszulösen, wenn durch den nationalen Gesetzgeber nachfolgende Insolvenzverfahren
nicht mit dem vorhergehenden zu einem Gesamtverfahren zusammengefasst seien. Dies ergebe sich aus der Entstehungsgeschichte
und der Systematik der genannten Richtlinie (RL). Einer Anwendung der RL stehe nicht der Umstand entgegen, dass nach der maßgebenden
Fassung die Mitgliedstaaten die erforderlichen Vorschriften spätestens zum 8.10.2005 zu erlassen hätten. Aus den dokumentierten
Erwägungen zu der RL 2002/74 folge, dass der Richtliniengeber einerseits die Arten der Insolvenzverfahren habe erweitern,
andererseits aber auch dem nationalen Gesetzgeber die Möglichkeit habe eröffnen wollen, eine Mehrheit von Verfahren als einheitliches
Gesamtverfahren zu behandeln. Dies bedeute im Umkehrschluss, dass grundsätzlich jedes formell definierte Insolvenzereignis
geeignet sei, den Anspruch zu begründen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des §
183 Abs
1 S 1 Nr
1 SGB III. Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus: In seiner bisherigen Rechtsprechung habe das Bundessozialgericht (BSG) zwar nicht die vorliegende Fallgestaltung und Fragestellung erfasst, ob der früher eingetretene Insolvenzfall durch eine
zweite Zahlungsunfähigkeit beseitigt werde, wenn im ersten Insolvenzverfahren zwar die Anordnung der Überwachung des Insolvenzplans
erfolgt sei, jedoch die Überwachung vor Beginn des Insg-Zeitraums geendet habe. Auch für diesen Fall müsse jedoch von einem
einzigen Insolvenzverfahren ("Gesamtverfahren") ausgegangen werden. Für die Rechtsauffassung der Beklagten spreche auch, dass
eine Initiative des Bundesrats, durch das Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt eine gesetzliche
Regelung iS der Auffassung des LSG einzuführen, nicht umgesetzt worden sei.
Die Beklagte beantragt
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 9.3.2011 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des
Sozialgerichts Leipzig vom 14.11.2006 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das vorinstanzliche Urteil für zutreffend.
II
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Wiederherstellung der klageabweisenden
erstinstanzlichen Entscheidung begründet (§
170 Abs
2 S 1
Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
1. Die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Insg gemäß §
183 Abs
1 S 1 Nr
1 SGB III wegen des ab Februar 2003 ausgefallenen Arbeitsentgelts liegen nicht vor.
Maßgebend ist §
183 Abs
1 S 1
SGB III in der Fassung, die die Vorschrift durch das Gesetz zur Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 10.12.2001 (BGBl
I 3443) erhalten hat und die bis 31.3.2012 unverändert geblieben ist (vgl auch ab 1.4.2012 §
165 SGB III idF des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20.12.2011, BGBl I 2854). Danach hat ein
im Inland beschäftigter Arbeitnehmer, der bei Eintritt eines Insolvenzereignisses für die vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses
noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt hat, Anspruch auf Insg. Insolvenzereignis ist nach §
183 Abs
1 S 1 Nr
1 SGB III ua die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers. Durch den Beschluss des AG vom 2.2.2004 ist
jedoch kein (neues) Insolvenzereignis eingetreten. Denn die Insolvenzeröffnung durch Beschluss des AG vom 1.1.2000 entfaltet
insoweit eine Sperrwirkung, die einem neuen Anspruch entgegensteht.
Nach ständiger Rechtsprechung des BSG, an der der Senat festhält, tritt ein neues Insolvenzereignis nicht ein und kann folglich auch Ansprüche auf Insg nicht auslösen,
solange die auf einem bestimmten Insolvenzereignis beruhende Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers andauert (vgl BSGE 90, 157, 158 = SozR 3-4300 § 183 Nr 3; BSGE 100, 282, 284 = SozR 4-4300 § 183 Nr 9, RdNr 11, jeweils mwN). Von andauernder Zahlungsunfähigkeit ist so lange auszugehen, wie der
Schuldner wegen eines nicht nur vorübergehenden Mangels an Zahlungsmitteln nicht in der Lage ist, seine fälligen Geldschulden
im Allgemeinen zu erfüllen. Die Zahlungsunfähigkeit endet nicht schon dann, wenn der Schuldner wieder einzelnen Zahlungsverpflichtungen
nachkommt (BSGE aaO).
Unter Beachtung dieser in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze und unter Berücksichtigung der tatsächlichen Feststellungen
des LSG ist die Auffassung der Beklagten, die auf dem im Jahre 2000 eingetretenen Insolvenzereignis beruhende Zahlungsunfähigkeit
habe in der Folgezeit fortbestanden, nicht zu beanstanden. Das LSG hat unmissverständlich festgestellt, dass der jedenfalls
seit Ende der Spielsaison 1998/1999 insolvente Arbeitgeber des Klägers auch danach zu keinem Zeitpunkt die Zahlungsfähigkeit
wiedererlangt hat. Es hat die Entwicklung der wirtschaftlichen Situation des Arbeitgebers insbesondere in der Zeit ab 2000
ausführlich dargestellt und im Ergebnis ausgeführt, dass die ursprüngliche Insolvenz aufgrund des fehlgeschlagenen Sanierungskonzepts
zum Erhalt des Arbeitgebers bis zur Eröffnung des zweiten Insolvenzverfahrens noch nicht beendet war und dass der Arbeitgeber
auch zu keinem Zeitpunkt nach der Beendigung des ersten Insolvenzplanverfahrens mit Ablauf des 30.11.2002 bis zur Eröffnung
des zweiten Insolvenzverfahrens am 2.2.2004 in der Lage war, seine fälligen Geldschulden im Allgemeinen dauerhaft zu erfüllen.
Das durchgehende Fehlen von Zahlungsfähigkeit wird auch dadurch offenkundig, dass der Arbeitgeber von Mitte 2000 bis Mitte
2002 weitere Jahresfehlbeträge von jeweils rund einer Million Euro erwirtschaftet hat. Diese den Senat gemäß §
163 SGG bindenden, tatsächlichen Feststellungen des LSG führen zwingend zur Sperrwirkung des Insolvenzereignisses aus dem Jahre 2000
mit der Folge, dass dem Kläger über das hierfür erhaltene Insg hinaus kein weiterer Anspruch zusteht.
Etwas anderes ergibt sich nicht aus den Feststellungen des LSG, wonach das Insolvenzgericht am 1.12.2000 das Insolvenzverfahren
einstellte und die Überwachung wegen Ende der Überwachungszeit am 5.12.2002 aufhob. Insoweit ist die Rechtsprechung des Senats
zu beachten, wonach allein aus der Bestätigung eines Insolvenzplans und der Aufhebung des Insolvenzverfahrens noch nicht folgt,
dass der zunächst eingetretene Insolvenzfall beseitigt wäre; denn die nur die Beteiligten des Insolvenzplanverfahrens betreffenden
Wirkungen des Insolvenzplans nach Maßgabe des §
255 Insolvenzordnung (
InsO) werden hinfällig, wenn der Schuldner den Plan nicht erfüllt (BSGE 90, 157, 159 = SozR 3-4300 § 183 Nr 3). An dieser Rechtsprechung hält der Senat weiter fest.
Soweit der Senat darüber hinaus in der Vergangenheit für die Annahme fortdauernder Zahlungsunfähigkeit auf die andauernde
Überwachung der Planerfüllung durch den Insolvenzverwalter abgestellt hat (BSGE 100, 282, 285 = SozR 4-4300 § 183 Nr 9, RdNr 14), ist hieraus nicht etwa zu folgern, dass immer von der Wiedererlangung der Zahlungsfähigkeit
auszugehen wäre, wenn der Insolvenzplan nicht (mehr) überwacht wird. Bei andauernder Planüberwachung wird lediglich besonders
deutlich, dass insbesondere im Hinblick auf die fortbestehenden Befugnisse des Insolvenzverwalters von einer Wiedererlangung
der Fähigkeit, fällige Geldschulden im Allgemeinen zu erfüllen, von vornherein keine Rede sein kann. Der Senat hat deshalb
ausdrücklich offengelassen, wie in Fällen fehlender oder später wieder aufgehobener Planüberwachung zu verfahren ist (BSGE
90, 157, 161 = SozR 3-4300 § 183 Nr 3). Diese Rechtsprechung entwickelt der Senat in dem Sinne weiter, dass auch dann ein einheitlicher
Insolvenztatbestand vorliegen kann, wenn keine Überwachung der Planerfüllung stattfindet. Dies ist anhand der Einzelumstände
zu prüfen und im Streitfall von den Tatsachengerichten festzustellen. Wird - wie im vorliegenden Fall durch das LSG - eindeutig
festgestellt, dass der Arbeitgeber bis zur Beendigung der Planüberwachung (per 30.11.2002) und auch danach bis zur Eröffnung
des zweiten Insolvenzverfahrens (am 2.2.2004) zu keinem Zeitpunkt die Fähigkeit wieder erlangt hat, die fälligen Geldschulden
im Allgemeinen zu erfüllen, muss es bei der Sperrwirkung des Insolvenzereignisses bleiben.
2. Ein Anspruch auf Insg kann auch nicht - wie das LSG zu Recht ausgeführt hat - aus §
183 Abs
2 SGB III hergeleitet werden. Nach dieser Vorschrift kann ein Arbeitnehmer, der in Unkenntnis eines Insolvenzereignisses weitergearbeitet
oder die Arbeit aufgenommen hat, Insg auch für die dem Tag der Kenntnisnahme vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses
erhalten. Ein solcher Anspruch kommt unter den gegebenen Umständen nicht in Betracht. Denn dem Kläger war das maßgebliche
Insolvenzereignis von 2000 bereits bekannt, weil er hierfür Insg erhalten hatte (vgl BSGE 100, 282, 285 f = SozR 4-4300 § 183 Nr 9, RdNr 16).
3. Der Rechtsmeinung des LSG, §
183 SGB III sei "richtlinienkonform" dahingehend auszulegen, dass bei fehlender Planüberwachung auch ein nachfolgendes zweites "formelles"
Insolvenzereignis für einen Anspruch auf Insg ausreiche, folgt der Senat nicht.
Die Ausführungen des LSG, der Umstand, dass von den Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der
RL 80/987 idF der RL 2002/74 bis 8.10.2005 zu erlassen seien, stehe einer "sofortigen Anwendung" dieser Richtlinie nicht im
Wege, stehen bereits nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Denn hiernach kommt der
RL 2002/74 im Fall ihrer Nichtumsetzung unmittelbare Wirkung nur im Zusammenhang mit nach dem 8.10.2005 eingetretenen Insolvenzfällen
zu (EuGH, Urteil vom 17.1.2008 - C-246/06 - EuGHE I 2008, 105; Urteil vom 10.3.2011 - C-477/09 - NJW 2011, 1791). Im vorliegenden Fall war jedoch der zweite (unbeachtliche) Insolvenzfall bereits durch Beschluss des AG vom 2.2.2004 eingetreten.
Unabhängig davon verkennt das LSG bei seiner Auslegung der RL 80/987 idF der RL 2002/74 den Regelungsgehalt des Art 2 der
RL, der insbesondere definiert, wann ein Arbeitgeber als zahlungsunfähig "gilt". Dem Text des Art 2 Abs 1 in der hier maßgebenden
Fassung (jetzt: RL 2008/94 vom 22.10.2008) sind aber keine ausdrücklichen Bestimmungen zu der im vorliegenden Fall streitigen
Frage zu entnehmen, ob einem Arbeitnehmer, der bereits aus Anlass der Zahlungsunfähigkeit seines Arbeitgebers eine Garantieleistung
iS der RL erhalten hat, bei andauernder Zahlungsunfähigkeit durch die zuständige Garantieeinrichtung erneut eine Leistung
zu gewähren ist. Soweit aufgrund der Änderungen durch die RL 2002/74 von einem "Gesamtverfahren" sowie in Art 2 Abs 4 davon
die Rede ist, dass die Mitgliedstaaten "nicht gehindert sind", den Schutz der Arbeitnehmer auch "auf andere Situationen der
Zahlungsunfähigkeit" auszuweiten, erfordert dies jeweils den Erlass entsprechender Rechts- oder Verwaltungsvorschriften durch
die Mitgliedstaaten, über die diese frei entscheiden können (vgl Abschnitt 5 der Erwägungen der RL 2002/74 und auch Abschnitt
4 der Erwägungen bzw Art 2 Abs 4 der Neufassung der RL durch die RL 2008/94 vom 22.10.2008, ABl L 283 vom 28.10.2008, S 36
ff).
Nicht zu folgen vermag der Senat dem LSG insbesondere, soweit es aus den Materialien zur Änderung der RL 80/987 durch die
RL 2002/74 den Schluss zieht, jedes "formell definierte Insolvenzereignis" iS der RL 80/987 sei geeignet, einen Anspruch gegen
die Garantieeinrichtung zu begründen. Das LSG verweist hierzu vor allem auf den "Gemeinsamen Standpunkt" des Rates vom 18.2.2002
(Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 22.5.2002, C 119 E/1), in dessen Abschnitt 5 - wortgleich übernommen in Abschnitt
5 der Erwägungen der RL 2002/74 EG - ausgeführt ist, es sei angebracht, mit dem Begriff der Zahlungsunfähigkeit "auch andere
Insolvenzverfahren als Liquidationsverfahren zu erfassen", und die Mitgliedstaaten sollten "vorsehen können, dass für den
Fall, dass das Vorliegen einer Insolvenz zu mehreren Insolvenzverfahren führt, die Situation so behandelt wird, als würde
es sich um ein einziges Insolvenzverfahren handeln". Aus Sicht des Senats ist nicht nachvollziehbar, inwiefern dies "im Umkehrschluss"
bedeuten soll, dass - mangels deutscher gesetzlicher Regelungen, die mehrere Insolvenzverfahren zu einem Gesamtverfahren zusammenfassen
- im vorliegenden Fall die "formelle" Eröffnung des zweiten Insolvenzverfahrens am 19.6.2003 einen neuen Anspruch auf Insg
auslöst. Den Mitgliedstaaten räumen die Erwägungen die Möglichkeit ein, für die Zukunft auch andere Verfahren einzubeziehen
und für diesen Fall einschränkend zu bestimmen, wann mehrere Verfahren als "einziges" Verfahren zu behandeln sind. Hieraus
kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass ohne ausdrückliche Neuregelung zwei aufeinanderfolgende Insolvenzereignisse nicht
als einheitliches Insolvenzereignis behandelt werden dürften, wenn zwischenzeitlich weiterhin Zahlungsunfähigkeit bestanden
hat.
Für die Auffassung des LSG sprechen schließlich auch nicht die angeführten wirtschafts- und sozialpolitischen Erwägungen (S
34, 35 des Urteilsumdrucks), der auch Äußerungen im Schrifttum zugrunde liegen (Frank/Heinrich NZI 2011, 569, 571 ff und NZS 2011, 689, 691). Es mag zwar wünschenswert sein, in Sanierungsfällen über den Schutz des §
183 Abs
2 SGB III hinaus auch Arbeitnehmern, die schon einmal Insg erhalten haben, eine zusätzliche Absicherung zuzubilligen. Unabhängig davon,
dass im vorliegenden Fall die Sanierungsbemühungen offenbar zum Scheitern verurteilt waren, kann derartigen Vorstellungen
aber nur durch den Gesetzgeber entsprochen werden. Die mit der Einführung von Insolvenzplanverfahren verfolgten Zielsetzungen
rechtfertigen es nicht, allein aufgrund der Bestätigung des Plans und der Aufhebung des Insolvenzverfahrens eine erneute Inanspruchnahme
der Insg-Versicherung zu eröffnen; auch ist zu beachten, dass der Gesetzgeber mit den §§
183 ff
SGB III nicht die Ziele der
InsO verfolgt (vgl dazu bereits BSGE 90, 157, 160 f = SozR 4-4300 § 183 Nr 3). Wie die aktuelle Entwicklung zeigt, hat sich der deutsche Gesetzgeber anlässlich der Überarbeitung
und Neugestaltung des
SGB III im Jahre 2011 insbesondere im Hinblick auf zu erwartende Mehrkosten für die umlagepflichtigen Arbeitgeber und mögliche Wettbewerbsverzerrungen
gerade nicht dazu entschlossen, eine gesetzliche Regelung iS der Auffassung des LSG in das
SGB III aufzunehmen (vgl Gegenäußerung der Bundesregierung zur - sich explizit auf die vorliegende Entscheidung des LSG beziehenden
- Stellungnahme des Bundesrats zum Entwurf des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt, BT-Drucks
17/6853 S 18, zu Nr 2, und S 1 ff, zu Art 1 Nr 7a und Art 2 Nr 18).
4. Nach alledem steht das einschlägige europäische Recht der Anwendung des §
183 Abs
1 S 1 Nr
1 SGB III iS der Rechtsprechung des BSG (s oben 1.) nicht entgegen. Der Senat ist nicht gehalten, die oben behandelten Fragen zur Auslegung der RL 80/987 idF der
RL 2002/74 dem EuGH gemäß Art 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) vorzulegen. Denn insoweit liegt bereits hinreichend aussagekräftige Rechtsprechung des EuGH vor. Geklärt ist insbesondere,
dass der RL unmittelbare Wirkung nur im Zusammenhang mit nach dem 8.10.2005 eingetretenen Insolvenzfällen zukommt (EuGH, Urteil
vom 17.1.2008 - C-246/06 - EuGHE I 2008, 105; Urteil vom 10.3.2011 - C-477/09 - NJW 2011, 1791). Nicht ersichtlich ist, dass im vorliegenden Fall durch die Anwendung des §
183 SGB III entsprechend der Auffassung des Senats der allgemeine Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung (vgl EuGH, Urteil
vom 12.12.2002 - C-442/00 - SozR 3-6084 Art 2 Nr 3; Urteil vom 7.9.2006 - C-81/05 - SozR 4-6084 Art 3 Nr 3; Urteil vom 17.1.2008 - C-246/06 - EuGHE I 2008, 105) verletzt sein könnte.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.