Kostenerstattung für psychotherapeutische Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung im Wege der Genehmigungsfiktion
Kein Eintritt bei Vorfestlegung des Versicherten vor Ablauf der Entscheidungsfristen
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über eine Kostenerstattung für psychotherapeutische Leistungen.
Die bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Klägerin beantragte mit vier Schreiben vom selben Tag (15.8.2016), gerichtet
an den Vorstandsvorsitzenden der Beklagten (dortiger Eingang: 17.8.2016), die Kostenübernahme für Leistungen des nicht zur
vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen J sowie der ebenfalls nicht zugelassenen B1, P und S. Sie verwies darauf, dass
sie in großer Zahl vergeblich bei zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Praxen angefragt habe. Die Beklagte lehnte
die Anträge ab (Bescheid vom 10.11.2016; Widerspruchsbescheid vom 26.1.2017). Die Klägerin beschaffte sich Leistungen bei
J (Sitzungen ab dem 6.10.2006 bis Juli 2018) und parallel dazu umfangreiche Leistungen bei anderen nicht zur vertragsärztlichen
Versorgung zugelassenen Psychotherapeuten (G, H, B2). Die Klägerin begehrt hierfür Kostenerstattung. Das SG hat die auf Zahlung von 4406,36 Euro gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 14.3.2019). Das LSG hat die Berufung der Klägerin
zurückgewiesen (Urteil vom 17.9.2019): Hinsichtlich der Therapeuten G, H und B2 sei die Klage mangels einer Entscheidung der
Beklagten unzulässig. Im Übrigen lägen die Voraussetzungen des §
13 Abs
3 SGB V nicht vor. Die Klägerin sei auf die Behandlung durch J vorfestgelegt gewesen. Ein Anspruch nach §
13 Abs
3a SGB V bestehe nicht. Auch eine Genehmigungsfiktion sei nicht eingetreten.
Die Klägerin rügt mit ihrer Revision die Verletzung von §
13 Abs
3 und Abs
3a SGB V sowie von §
78 Abs
1 Satz 1
SGG. Ein Vorverfahren sei durchgeführt worden. Die Klage sei insgesamt zulässig. Der Anspruch ergebe sich aus §
13 Abs
3 SGB V wegen eines Systemversagens. Er ergebe sich auch aus §
13 Abs
3a SGB V. Der Regelung sei nicht zu entnehmen, dass ein Antrag nicht genehmigungsfähig sei, wenn weitere Anträge gestellt würden.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 17. September 2019 und des Sozialgerichts Hannover vom 14. März
2019 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2017
aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung von 4406,36 Euro zu verurteilen,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 17. September 2019 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.
II
Die Revision der Klägerin ist unbegründet (§
170 Abs
1 Satz 1
SGG). Zu Recht hat das LSG die Berufung der Klägerin gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückgewiesen.
1. Die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage ist nur teilweise zulässig.
a) Die Anfechtungsklage ist unzulässig, soweit die Klägerin Kostenerstattung für Leistungen der G, H und B2 begehrt. Insoweit
fehlt es schon an einem Verwaltungsverfahren und einer Entscheidung der beklagten KK. Es liegen nach den unangegriffenen,
den Senat bindenden Feststellungen (§
163 SGG) des LSG insoweit keine in diesem Verfahren gerichtlich überprüfbaren Verwaltungsentscheidungen der Beklagten vor. Die Unzulässigkeit
der Anfechtungsklage zieht die Unzulässigkeit der mit ihr kombinierten (unechten) Leistungsklage (§
54 Abs
4 SGG) nach sich. Diese Leistungsklage setzt voraus, dass der Sozialleistungsträger die begehrte Leistung abgelehnt hat. Sie kommt
vor dem Erlass einer entsprechenden Verwaltungsentscheidung nicht in Betracht (vgl BSG vom 28.10.2008 - B 8 SO 33/07 R - SozR 4-1500 § 77 Nr 1 RdNr 13; BSG vom 21.9.2010 - B 2 U 25/09 R - juris RdNr 17).
b) Gleiches gilt für die Kostenerstattung von Leistungen des J, die über die beantragten fünf probatorischen Sitzungen hinausgehen.
Das LSG hat keine Feststellungen zum Inhalt des Antrags der Klägerin und damit zur Reichweite des Ablehnungsbescheids der
Beklagten vom 10.11.2016 getroffen, den das LSG als allein maßgeblichen Verwaltungsakt ansieht. Der Senat ist mangels bindender
Feststellungen deshalb befugt, das Antragsschreiben der Klägerin selbst auszulegen (vgl BSG vom 8.10.2019 - B 1 A 1/19 R - BSGE 129, 135 = SozR 4-2400 § 89 Nr 9, RdNr 14 mwN). Die Klägerin beantragte bezüglich J in einem gesonderten Schreiben vom 15.8.2016 ausdrücklich:
"Dieser Antrag auf Kostendeckungszusage für diese dringend notwendige, unaufschiebbare medizinische Leistung als Probatorik
VT Einzel 5 a 50 Min. (a 100,55 Euro) Diagnose PTBS (...) ist hiermit gestellt." Dieser präzise Antrag ist nur auf fünf probatorische
Sitzungen gerichtet. J erbrachte im Verlauf der Therapie jedoch mehr Leistungen als die Klägerin in Bezug auf seine Person
beantragt hatte.
c) Ein Verwaltungsakt kann ausnahmsweise auch in einem Schriftsatz eines Versicherungsträgers im sozialgerichtlichen Verfahren
gefunden werden, mit dem die Klageabweisung begründet wird. In aller Regel sind diese Schriftsätze jedoch reine Prozessäußerungen
(vgl BSG vom 18.3.1982 - 11 RA 19/81 - BSGE 53, 194, 195 = SozR 2200 § 1303 Nr 24 S 69 = juris RdNr 16 mwN; BSG vom 18.5.2011 - B 3 P 5/10 R - SozR 4-3300 § 71 Nr 2 RdNr 21). So verhält es sich auch bei den Schriftsätzen der Beklagten.
d) Die auf eine Genehmigungsfiktion gestützte isolierte Leistungsklage geht ins Leere, weil die Genehmigungsfiktion nach der
neueren Rechtsprechung des erkennenden Senats und des 3. BSG-Senats kein fingierter Verwaltungsakt ist (vgl BSG vom 26.5.2020 - B 1 KR 9/18 R - juris RdNr 10 ff, insbesondere RdNr 12 und 29; BSG vom 18.6.2020 - B 3 KR 14/18 R - juris RdNr 13 ff).
2. Soweit die Klägerin Kostenerstattung für die fünf beantragten probatorischen Sitzungen durch J begehrt, ist die Klage zwar
zulässig, aber unbegründet. Die Klägerin hat weder nach §
13 Abs
3a Satz 7
SGB V noch nach §
13 Abs
3 Satz 1
SGB V Anspruch auf Erstattung der Kosten der selbstbeschafften ambulanten psychotherapeutischen Leistungen.
a) Die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Kostenerstattung aufgrund fingierter Genehmigung nach §
13 Abs
3a Satz 7
SGB V sind nicht erfüllt.
aa) Zwar hat die Beklagte den Bescheid vom 10.11.2016, mit dem sie die beantragten fünf probatorischen Sitzungen ablehnte,
nicht innerhalb der durch §
13 Abs
3a Satz 1
SGB V vorgegebenen dreiwöchigen Bescheidungsfrist, sondern später erlassen. Dies gilt auch dann, wenn man - anders als das LSG
- schon auf die Ablehnung im Schreiben vom 19.9.2016 abstellen würde. Der Anspruch der Klägerin scheitert auch nicht an der
Bestimmtheit ihrer Anträge.
Für die Bestimmtheit eines Antrags ist es irrelevant, ob Versicherte objektiv Anspruch auf die beantragte Leistung haben können
oder zumindest nicht vorwerfbar glauben dürfen, einen solchen Anspruch zu haben. Dies gilt sowohl nach der bisherigen Rechtsprechung
des Senats zur Genehmigungsfiktion (vgl nur BSG vom 8.3.2016 - B 1 KR 25/15 R - BSGE 121, 40 = SozR 4-2500 § 13 Nr 33) als auch seit seinem Urteil vom 26.5.2020 (B 1 KR 9/18 R - juris). Der Senat verbindet jedoch nunmehr - anders als in seiner bisherigen, mit dieser Entscheidung aufgegebenen Rechtsprechung
- mit dem Eintritt der Genehmigungsfiktion nicht länger einen fingierten Verwaltungsakt (vgl oben 1. d). Zur Bestimmung der
Reichweite des auf die Genehmigungsfiktion gestützten Kostenerstattungsanspruchs nach §
13 Abs
3a Satz 7
SGB V ist aber in vergleichbarer Weise wie bei der Ermittlung des Verfügungssatzes eines fingierten Verwaltungsakts erforderlich,
dass der Antrag die begehrte und später selbstbeschaffte Leistung hinreichend bestimmt.
Jeder einzelne der vier Anträge der Klägerin vom 15.8.2016 ist klar und präzise formuliert, ohne dass ein Antrag als Hauptantrag
gekennzeichnet ist und die übrigen Anträge als Hilfsanträge. Die Anträge sind nicht widersprüchlich und schließen sich gegenseitig
nicht aus. Das Leistungsverhalten der Klägerin zeigt zudem, dass sie bei weiteren, wenngleich anderen als den im Antrag genannten
Therapeuten gleichzeitig in Behandlung war. Für die Frage der Bestimmtheit ihrer Anträge ist unerheblich, ob die Klägerin
auf mehrere parallele psychotherapeutische Behandlungen Anspruch haben kann.
bb) Ein Versicherter, der schon vor Ablauf der maßgeblichen Entscheidungsfristen nach §
13 Abs
3a SGB V auf die Selbstbeschaffung der beantragten Leistung vorfestgelegt ist, hat jedoch keinen Anspruch auf Kostenerstattung gegen
die KK aufgrund einer Genehmigungsfiktion (vgl dazu nunmehr umfassend BSG vom 27.10.2020 - B 1 KR 3/20 R - juris). So liegt der Fall hier.
Der Senat hat zum Fall des Systemversagens nach §
13 Abs
3 Satz 1 Fall 2
SGB V wegen rechtswidriger Ablehnung schon entschieden, dass eine Vorfestlegung einen Anspruch auf Kostenerstattung ausschließt.
In diesem Fall fehlt es an der Ursächlichkeit zwischen der Leistungsbeschaffung und der verspäteten Entscheidung der KK. Eine
Vorfestlegung (und damit ein fehlender Kausalzusammenhang) liegt vor, wenn der Versicherte sich unabhängig davon, wie die
Entscheidung der KK ausfällt, von vornherein auf eine bestimmte Art der Krankenbehandlung durch einen bestimmten Leistungserbringer
festgelegt hat, wenn er also fest entschlossen ist, sich die Leistung selbst dann zu beschaffen, wenn die KK den Antrag ablehnen
sollte. Ein Kostenerstattungsanspruch wird im Falle einer solchen Vorfestlegung auch nicht dadurch "wiedereröffnet", dass
die KK die in §
13 Abs
3a Satz 1
SGB V geregelte Entscheidungsfrist verstreichen lässt. Solange die Frist des §
13 Abs
3a Satz 1
SGB V nicht abgelaufen ist, hat die KK die Pflicht und das Recht, über die begehrte Leistung eine Entscheidung zu treffen. Erst
wenn sie sich dafür ungebührlich lange Zeit lässt, wandelt sich der Sachleistungsanspruch in einen Kostenerstattungsanspruch
um, soweit Leistungen dann tatsächlich in Anspruch genommen werden. Hat ein Versicherter schon zuvor eigenmächtig das Sachleistungsprinzip
infolge Vorfestlegung "verlassen", ist auch der Anwendungsbereich des in §
13 Abs
3a SGB V normierten Systemversagens nicht gegeben. Die Vorfestlegung des Versicherten, nicht dagegen die verstrichene Frist, ist dann
ursächlich für die dem Versicherten entstandenen Kosten.
Die Klägerin war nach den für den Senat bindenden und nicht mit zulässigen Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des
LSG (zu den Voraussetzungen vgl BSG vom 3.7.2012 - B 1 KR 25/11 R - BSGE 111, 168 = SozR 4-2500 § 31 Nr 22, RdNr 27 f) auf die von ihr selbst beschafften Therapieleistungen und auf den nicht in das System
der gesetzlichen Krankenversicherung einbezogenen J im Zeitpunkt der Antragstellung bereits vorfestgelegt, weil sie bereits
zuvor zwei Behandlungstermine mit J vereinbart hatte.
Sofern die Klägerin ausgeführt hat, das LSG hätte feststellen müssen, dass ihr die Kosten erst für die Wahrnehmung des Termins
und nicht für dessen Vereinbarung entstanden seien, rügt sie nicht eine unterlassene oder fehlerhafte Feststellung, sondern
die Beweiswürdigung des LSG, dass die Klägerin mit ihrer Mitteilung im Antrag vom 15.8.2016 ("Erstgesprächstermin ist für
2 prob. Sitzungen a 50 Min. [a 100,55 Euro] bereits vereinbart.") ihre Vorfestlegung hinreichend bekundet habe. Die Klägerin
hat damit nicht aufgezeigt, dass das LSG die revisionsgerichtlich nur in engen Grenzen überprüfbare Beweiswürdigung verletzt
hat (vgl dazu Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl 2020, §
164 RdNr 12c mwN).
b) Dementsprechend steht der Klägerin auch kein Anspruch auf Kostenerstattung nach §
13 Abs
3 Satz 1 Fall 2
SGB V wegen rechtswidriger Ablehnung einer Leistung zu.
c) Ein Kostenerstattungsanspruch ergibt sich schließlich auch nicht nach §
13 Abs
3 Satz 1 Fall 1
SGB V wegen Unaufschiebbarkeit. Die den Senat bindenden Feststellungen des LSG haben nicht ergeben, dass die durchgeführte Behandlung
unaufschiebbar war. Das LSG hat insbesondere nicht festgestellt, dass die Klägerin wegen Unaufschiebbarkeit schon vor der
Antragstellung gehalten war, vorbereitende Maßnahmen zur Selbstbeschaffung einzuleiten. Die Klägerin hat insoweit keine Aufklärungsrüge
erhoben.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.