Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren bei Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters
Gründe:
I. Der bei der beklagten Ersatzkasse versicherte Kläger ist mit seinem Begehren, ab 1.7.2001 vollständig von Zuzahlungen zu
Arzneimitteln etc befreit zu werden, bei der Beklagten ohne Erfolg geblieben (Bescheid vom 3.7.2001; Widerspruchsbescheid
vom 10.10.2001). Seine Klage auf vollständige Befreiung von Zuzahlungen für die Dauer des Bezugs von Unterhaltsgeld hat das
Sozialgericht abgewiesen, da das bewilligte Unterhaltsgeld als Nettoleistung auf das entsprechende fiktive Bruttoeinkommen
"hochzurechnen" sei und dann den maßgeblichen Grenzwert des §
61 SGB V überschreite (Gerichtsbescheid vom 15.11.2004). Den die Berufung des Klägers als unzulässig verwerfenden Beschluss des Landessozialgerichts
(LSG) vom 26.4.2005 hat das Bundessozialgericht (BSG) auf die Beschwerde des Klägers hin aufgehoben und die Sache zur erneuten
Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen; eine Zurückverweisung an einen anderen Senat des LSG erfolgte nicht
(BSG, Beschluss vom 8.11.2005). Daraufhin hat der Kläger ein Befangenheitsgesuch gegen die Berufsrichter des LSG gestellt,
welche den Beschluss vom 26.4.2005 unterzeichnet hatten. Das LSG hat das Gesuch zurückgewiesen (Beschluss vom 11.1.2006),
die dagegen erhobene Anhörungsrüge des Klägers als unzulässig verworfen (Beschluss vom 1.3.2006), die erneute Anhörungsrüge
gleichfalls als unzulässig verworfen (Beschluss vom 24.7.2006) und dem Kläger auf dessen weitere Anhörungsrüge mitgeteilt,
der Senat sehe keinen Anlass, diese zu bescheiden. Die deswegen vom Kläger erhobene "Untätigkeitsbeschwerde" hat das BSG verworfen
(Beschluss vom 21.5.2007 - B 1 KR 4/07 S -). Das LSG hat den Kläger vergeblich dazu aufgefordert, den genauen Zeitraum des Unterhaltsgeldbezugs und die Höhe der tatsächlich
geleisteten Zuzahlungen mitzuteilen, und dem Kläger anheim gestellt, die Klage auf Erstattung der ihm tatsächlich entstandenen
Zuzahlungen umzustellen. Der Kläger hat hierzu mitgeteilt, er sehe sein Befangenheitsgesuch "noch als rechtshängig" an und
werde vor der Entscheidung hierüber keine sachliche Stellungnahme abgeben. Das LSG hat die Berufung des Klägers gegen den
Gerichtsbescheid vom 15.11.2004 wegen Unzulässigkeit der Klage zurückgewiesen, da er trotz ausdrücklicher Hinweise auf die
Notwendigkeit einer Klageänderung die Klage weder auf Erstattung der ihm tatsächlich entstandenen Aufwendungen für Zuzahlungen
in der Vergangenheit umgestellt habe noch ein Interesse an einer Fortsetzungsfeststellung erkennbar sei (Urteil vom 15.2.2007).
Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil und beruft sich ua auf Verfahrensfehler.
II. 1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil vom 15.2.2007 ist zulässig. Sie ist
nach Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand fristgerecht erhoben worden und genügt hinsichtlich des geltend gemachten
Verfahrensfehlers, dem Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters gemäß Art
101 Abs
1 Satz 2
GG, den Darlegungserfordernissen des §
160a Abs 2 Satz 3 iVm §
160 Abs
2 Nr
3 SGG.
2. Die Beschwerde ist auch begründet. Der gerügte Verfahrensfehler - ein absoluter Revisionsgrund - liegt vor. Das LSG war
in der mündlichen Verhandlung vom 15.2.2007 nicht vorschriftsmäßig besetzt (§
547 Nr 1
ZPO iVm §
202 SGG). An dem auf diese Verhandlung ergangenen Urteil haben zwei Richter mitgewirkt, die der Kläger zwar zuvor erfolglos abgelehnt
hatte, deren Mitwirkung aber gleichwohl sein Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt. Die Zurückweisung des diese Richter
betreffenden Ablehnungsgesuchs (LSG-Beschluss vom 11.1.2006) hat Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art
101 Abs
1 Satz 2
GG grundlegend verkannt (vgl hierzu BVerfGE 82, 286, 299; BVerfG NVwZ 2005, 1304, 1307 f).
a) Zwar ist das Revisionsgericht im Hinblick auf §
557 Abs
2 ZPO (iVm §
202 SGG) an Entscheidungen, die dem Endurteil des LSG vorausgegangen sind, gebunden, sofern sie unanfechtbar sind. Dies gilt grundsätzlich
auch für Entscheidungen der Vorinstanz, die ein Ablehnungsgesuch unter fehlerhafter Anwendung einfachen Rechts zurückgewiesen
haben (§§
60,
177 SGG; vgl hierzu entsprechend BVerfGE 31, 145, 164). Das Revisionsgericht ist nur in engen Ausnahmen wegen eines fortwirkenden Verstoßes gegen das Gebot des gesetzlichen
Richters iS des Art
101 Abs
1 Satz 2
GG an die Zurückweisung von Ablehnungsgesuchen, die dem Endurteil des LSG vorausgegangen sind, nicht gebunden, wenn die zuvor
erfolglos abgelehnten Richter an der Entscheidung des LSG mitgewirkt haben. Die Bindung des Revisionsgerichts fehlt, wenn
die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs auf willkürlichen manipulativen Erwägungen beruht, die für die Fehlerhaftigkeit des
als Mangel gerügten Vorgangs bestimmend gewesen sind (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 1 RdNr 9 mwN), oder wenn die Zurückweisung
des Ablehnungsgesuchs darauf hindeutet, dass das Gericht Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art
101 Abs
1 Satz 2
GG grundlegend verkannt hat (vgl BVerfGE 82, 286, 299; BVerfG NVwZ 2005, 1304, 1308).
b) Ein fortwirkender Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters und zugleich eine "Entziehung" des gesetzlichen Richters
durch ein Gericht ist hier dem LSG unterlaufen. Das LSG hat seinen die Ablehnungsgesuche zurückweisenden Beschluss vom 11.1.2006
ua wie folgt begründet:
Das BSG hat in seinem Beschluss vom 8.11.2005 (BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 2) "lediglich ausgeführt, dass das" LSG "objektiv
willkürlich angenommen habe, die Berufung sei nur bedingt eingelegt worden. Diese Aussage beinhaltet ... keinesfalls, worauf
es für die Begründung der Besorgnis der Befangenheit ankommt, dass die abgelehnten Richter parteiisch entschieden hätten und
zu befürchten ist, dass auch zukünftige Entscheidungen unter Mitwirkung der abgelehnten Richter nicht unparteiisch ergehen
würden."
Diese Ausführungen beruhen auf grob fehlerhaften Erwägungen und deuten darauf hin, dass das LSG die Tragweite der Verfassungsgarantie
des Art
101 Abs
1 Satz 2
GG grundlegend verkannt hat. Art
101 Abs
1 Satz 2
GG gebietet, den belegten Vorwurf objektiv willkürlicher Rechtsanwendung für den Erfolg eines Ablehnungsgesuchs wegen Besorgnis
der Befangenheit ausreichen zu lassen. Andernfalls würde der materiellrechtliche Gewährleistungsgehalt des Rechts des Einzelnen
auf den gesetzlichen Richter entwertet.
Art
101 Abs
1 Satz 2
GG hat nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) einen materiellen Gewährleistungsgehalt. Die
Verfassungsnorm garantiert, dass der Rechtsuchende im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich
ist und der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet (vgl BVerfGE 10, 200, 213 f; 21, 139, 145 f; 30, 149, 153; 40, 268, 271; 82, 286, 298; 89, 28, 36). Die verfassungsrechtlich gebotene (vgl BVerfG
NJW 2005, 3410 ff) Unparteilichkeit des Gerichts wird ua durch das Recht der Beteiligten gesichert, Gerichtspersonen wegen Besorgnis der
Befangenheit abzulehnen (§
60 Abs
1 SGG iVm §§
42 ff
ZPO). Nach §
60 SGG gilt für die Ablehnung eines Richters §
42 ZPO entsprechend. Danach kann ein Richter sowohl in den Fällen, in denen er von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes
ausgeschlossen ist, als auch wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden.
Die hier allein bedeutsame Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit findet nach §
42 Abs
2 ZPO statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen.
Eine Besorgnis der Befangenheit ist nur dann begründet, wenn ein objektiv vernünftiger Grund gegeben ist, der den am Verfahren
Beteiligten auch von seinem Standpunkt aus befürchten lassen kann, der Richter werde nicht unparteiisch sachlich entscheiden.
Eine rein subjektive, unvernünftige Vorstellung ist unerheblich (vgl Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann,
Zivilprozessordnung, 65. Aufl, 2007, §
42 RdNr 10 mwN). Es kommt auch nicht darauf an, ob der Richter tatsächlich "parteilich" oder "befangen" ist oder ob er sich
selbst für befangen hält. Entscheidend ist ausschließlich, ob ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller
Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (vgl BVerfGE 82, 30, 38; 73, 330, 335; BSG SozR 3-1500 § 60 Nr 1 S 3; BSG SozR 1500 § 60 Nr 3).
Eine "Entziehung" des gesetzlichen Richters durch ein Gericht, dem die Anwendung der Zuständigkeitsregeln und die Handhabung
des Ablehnungsrechts im Einzelfall obliegt, kann allerdings nicht in jeder fehlerhaften Anwendung dieser Regelungen gesehen
werden. Andernfalls müsste jede fehlerhafte Handhabung des einfachen Rechts zugleich als Verfassungsverstoß angesehen werden
(vgl BVerfGE 82, 286, 299). Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind aber jedenfalls dann - wie dargelegt - überschritten, wenn die Auslegung einer
Zuständigkeitsnorm oder ihre Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist oder wenn die richterliche
Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art
101 Abs
1 Satz 2
GG grundlegend verkennt (vgl BVerfGE 82, 286, 299). Ob die Entscheidung eines Gerichts auf Willkür, also auf einem Fall grober Missachtung oder grober Fehlanwendung des
Gesetzesrechts (vgl BVerfGE 29, 45, 49; 82, 159, 197; 87, 282, 286) beruht oder ob sie darauf hindeutet, dass ein Gericht Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie
des Art
101 Abs
1 Satz 2
GG grundlegend verkannt hat, ist nur anhand der besonderen Umstände des Einzelfalls zu beurteilen (BVerfG NVwZ 2005, 1304, 1308).
Die Richterablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit ist danach grundsätzlich kein geeignetes Mittel, sich gegen unrichtige
bzw für unrichtig gehaltene Rechtsauffassungen (auch in früheren Verfahren) eines Richters zu wehren. Anders liegt es aber,
wenn die mögliche Fehlerhaftigkeit auf einer unsachlichen Einstellung des Richters oder - wie dargelegt - auf objektiver Willkür
beruht (vgl BAG NJW 1993, 879 mit Hinweis auf BFH SGb 1992, 311; BFH, Beschluss vom 8.5.1992 - III S 3/92 -, unveröffentlicht). Bei willkürlicher Handhabung der zugrunde liegenden Regelungen kommt eine Verletzung von Art
101 Abs
1 Satz 2
GG in Betracht (BVerfG NVwZ 1984, 429 f).
Das LSG hat in seinem Beschluss vom 11.1.2006 verkannt, dass Art
101 Abs
1 Satz 2
GG gebietet, den belegten Vorwurf objektiv willkürlicher Rechtsanwendung für den Erfolg eines Ablehnungsgesuchs wegen Befangenheit
ausreichen zu lassen. Dem steht nicht entgegen, dass das BSG bei der Zurückverweisung der Sache an das LSG (Beschluss vom
8.11.2005, aaO) davon abgesehen hatte, den Streit an einen anderen Senat des LSG zurückzuverweisen. Auch wenn das Revisionsgericht
von dieser in seinem Ermessen stehenden Möglichkeit (§
563 Abs
1 Satz 2
ZPO iVm §
202 SGG) seinerzeit keinen Gebrauch gemacht hat, bleibt hiervon das Ablehnungsrecht des Klägers unberührt. Das hat der - die Ablehnungsgesuche
zurückweisende - LSG-Beschluss vom 11.1.2006 nicht hinreichend beachtet. Er ist nach Maßgabe aller Umstände mit einem so schwerwiegenden
Mangel behaftet, dass er keinen Bestand haben kann. Infolgedessen haben bei dem LSG-Urteil vom 15.2.2007 zwei dazu nicht berufene
Richter - entgegen Art
101 Abs
1 Satz 2
GG - mitgewirkt.
3. Der hier nach alledem vorliegende absolute Revisionsgrund der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts
(§
547 Nr 1
ZPO iVm §
202 SGG) führt in einem Revisionsverfahren - nach der entsprechenden Rüge - zur Aufhebung und Zurückverweisung, weil unwiderlegbar
feststeht, dass die angefochtene Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel beruht. §
170 Abs
1 Satz 2
SGG gebietet zwar, die Revision zurückzuweisen, obwohl die Entscheidungsgründe eine Gesetzesverletzung ergeben, wenn die Entscheidung
sich aus anderen Gründen als richtig darstellt. Die Vorschrift ist aber grundsätzlich nicht anwendbar, wenn ein absoluter
Revisionsgrund vorliegt (vgl hierzu BSG SozR 2200 § 368a Nr 21 S 74 f; BSG SozR 3-1500 § 164 Nr 6 S 11; BSG, Urteil vom 29.9.1994
- 4 RA 52/93 -; BSG SozR 3-1750 § 551 Nr 5 S 14 und Nr 7 S 24). Ob ausnahmsweise unter bestimmten Voraussetzungen - etwa im Falle des
§
547 Nr 6
ZPO - etwas anderes gilt (vgl BSG SozR 3-2500 §
33 Nr 12), kann dahinstehen. Denn bei der zulässigen und begründeten Rüge des nicht vorschriftsmäßig besetzten Gerichts handelt
es sich um einen die Grundlagen des Verfahrens betreffenden Mangel, der so wesentlich ist, dass ein Einfluss auf die Sachentscheidung
unwiderlegbar vermutet und unterstellt wird, das Urteil des Berufungsgerichts sei wegen elementarer rechtsstaatlicher Mängel
kein geeigneter Gegenstand einer revisionsgerichtlichen Überprüfung (vgl hierzu BSG SozR 3-1500 § 164 Nr 6 S 11; SozR 2200
§ 368a Nr 21 S 74 f).
4. Nach §
160a Abs
5 SGG - hier anwendbar gemäß Art 17 Abs 2 und Art 19 des Sechsten
SGG-Änderungsgesetzes (6.
SGG-ÄndG vom 17. August 2001, BGBl I 2144) - kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene
Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG - auch an einen anderen Senat des LSG -
zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des §
160a Abs
2 Nr
3 SGG vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch. Die Verweisung an einen
anderen Senat des LSG gemäß §
563 ZPO iVm §
202 SGG ist im Interesse einer unbefangenen Rechtsfindung, zur Vermeidung eines - möglichen - Anscheins der Voreingenommenheit, geboten
(vgl hierzu BVerfGE 20, 336, 343 ff; BSGE 32, 253, 255; BSG, Urteile vom 24.3.1976 - 9 RV 92/74; vom 31.3.1998 - B 8 KN 7/97 R und vom 10.9.1998 - B 7 AL 36/98 R).
Es bedarf keiner Entscheidung, ob die Rechtssache auch - wie von der Beschwerde zusätzlich geltend gemacht - grundsätzliche
Bedeutung hat. Selbst bei Bejahung einer grundsätzlichen Bedeutung und Zulassung der Revision wäre voraussichtlich mit einer
Zurückverweisung zu rechnen, da es auf Grund des erheblichen Verfahrensfehlers an einer hinreichenden Tatsachengrundlage fehlt
(vgl dazu BSG, Beschluss vom 30.4.2003 - B 11 AL 203/02 B -; BVerwG NVwZ-RR 1994, 120).
5. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.