Feststellung einer Berufskrankheit
Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Nicht unterschriebene Beschwerde
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob eine BK Nr 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten Verordnung (
BKV; in Zukunft BK 2108) festzustellen und die Beklagte verpflichtet ist, ihren Ablehnungsbescheid vom 20.1.2010 zurückzunehmen
sowie eine BK Nr 2109 der Anlage 1 zur
BKV festzustellen (in Zukunft BK 2109).
Der Kläger war während seines Berufslebens von 1966 bis 2009 als gelernter Maurer im Hoch- und Tiefbau sowie in der Schornsteinsanierung
tätig und zuletzt in einem Dachdeckerbetrieb beschäftigt. Er gab unter dem 2.11.2009 auf einem Formular der Beklagten an,
in etwa 222 Arbeitsschichten pro Jahr wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten verrichtet und davon in ca 50 Arbeitsschichten Lasten
von > 50 kg auf der Schulter getragen zu haben, wobei die Gewichtsangabe "50 kg oder mehr" bereits vorgedruckt war. Die Beklagte
lehnte die Feststellung einer BK 2109 ab, weil weder eine bandscheibenbedingte Erkrankung der HWS noch ausreichende Belastungen
vorlägen (Bescheid vom 20.1.2010). Die Rücknahme dieser Entscheidung lehnte sie ab, weil der Kläger selbst angegeben habe, nicht in der ganz überwiegenden
Anzahl der Arbeitsschichten schwere Lasten von 50 kg oder mehr auf der Schulter getragen zu haben (Bescheid vom 24.2.2011 und Widerspruchsbescheid vom 13.9.2011). Mit derselben Begründung hat das SG die Klage abgewiesen (Urteil vom 12.12.2017) , nachdem es sie mit der Klage auf Feststellung einer BK 2108 verbunden hatte (Ablehnung der BK 2108 im Bescheid vom 24.2.2011 und Widerspruchsbescheid vom 18.7.2012). Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen, auf die Gründe des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen (§
153 Abs
2 SGG) und ergänzend ausgeführt (Urteil vom 11.6.2019, das am 21.8.2019 zugestellt wurde): Zwar habe das SG nicht erörtert, ob im Einklang mit der wissenschaftlichen Stellungnahme des Ärztlichen Sachverständigenbeirats vom 14.6.2016
schon Lastgewichte ab 40 kg eine Gefährdung iS der BK 2109 begründen könnten. Dieser Aspekt spiele jedoch keine Rolle, weil
der Kläger jedenfalls nicht in der ganz überwiegenden Anzahl der Arbeitsschichten entsprechende Lasten auf der Schulter getragen
habe, wie sich aus seiner Erklärung vom 2.11.2009 ergebe. In Anbetracht dieser Sachlage seien weitere Ermittlungen nicht angezeigt.
Es handele sich um einen unbeachtlichen "Beweisermittlungsantrag ... ins Blaue hinein", soweit der Kläger zu Protokoll der
mündlichen Verhandlung hilfsweise "die Einholung eines arbeitstechnischen Gutachtens" zum Beweis der Tatsache beantragt habe,
"dass er im Rahmen seiner versicherten Tätigkeiten mit Ausnahme einer Zwischenzeit vom 15 Monaten durchgehend und regelmäßig
Lasten von 40 kg oder mehr auf der Schulter oder über der Schulter mit Beteiligung des Rückens während eines Schichtanteils
von etwa einer halben Stunde oder mehr getragen hat, dass der Tragevorgang zu einer Kopfbeugehaltung nach vorne oder seitwärts
oder zu einer Verdrehung der Halswirbelsäule führte, dass die arbeitsbedingten Einwirkungen mit einer kumulativen Gesamtbelastung
von mindestens 4,4 x 104 (kg x h) einhergingen, hierbei auch häufig Lasten mit noch höherem Gewicht bewegt werden mussten,
die Belastungen eine Dauer von mehr als 10 Jahren ausgemacht haben und dass dies zu Belastungen im Sinne der Berufskrankheit
Nr 2109 geführt hat".
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger das Vorliegen von Verfahrensmängeln, auf denen die angefochtene Entscheidung
beruhen kann (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG). Der Klägerbevollmächtigte hat das Original der Beschwerdebegründungsschrift von dem Telefaxgerät seiner Kanzlei am 21.10.2019
um 22:57 Uhr dem BSG übermittelt und dabei versehentlich versäumt, die Sendevorlage zu unterschreiben.
II
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG ist teilweise zulässig (1.) und insoweit
auch begründet (2.).
1. Der Zulässigkeit der Beschwerde steht nicht entgegen, dass die fristgerecht eingegangene Begründungsschrift nicht unterschrieben
ist (a). Soweit der Kläger die Feststellung einer BK 2108 begehrt, ist die Beschwerde allerdings deshalb unzulässig, weil
sie nicht formgerecht begründet ist (b). Im Übrigen ist sie zulässig (c).
a) Gemäß §
160a Abs
2 Satz 1
SGG ist die Beschwerde innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils schriftlich zu begründen. Um das Schriftformerfordernis
zu erfüllen, muss ein beim BSG nach §
73 Abs
4 SGG zugelassener Prozessbevollmächtigter die Beschwerdebegründungsschrift grundsätzlich eigenhändig unterschrieben haben. Wird
sie - wie hier - per Telefax übermittelt, muss die Sendevorlage (das Original) von einem postulationsfähigen Prozessbevollmächtigten
unterschrieben und dessen Unterschrift auf dem Telefax (dem Abbild des Originals) wiedergegeben sein (zuletzt BGH vom 31.1.2019 - III ZB 88/18 - juris RdN 8; zum Ganzen: Toussaint, NJW 2015, 3207 ff). Hieran fehlt es. In der Rechtsprechung des BSG ist jedoch anerkannt, dass das Schriftformerfordernis ausnahmsweise auch dann erfüllt ist, wenn die Begründungsschrift zwar
keine eigenhändige Unterschrift enthält, aber sich - ohne weitere Beweisaufnahme - aus anderen Anhaltspunkten eine der Unterschrift
vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft des Prozessbevollmächtigten und dessen Willen ergibt, die Verantwortung für den
Inhalt des Schriftsatzes zu übernehmen und das Schreiben in den Rechtsverkehr zu bringen (vgl GmSOGB vom 30.4.1979 - GmS-OGB 1/78 - SozR 1500 § 164 Nr 14; BSG vom 24.5.2017 - B 14 AS 178/16 B - juris RdNr 4; vom 30.3.2015 - B 12 KR 102/13 B - juris RdNr 8 und vom 16.11.2000 - B 13 RJ 3/99 R - SozR 3-1500 § 151 Nr 4 S 9; s auch BGH vom 26.3.2012 - II ZB 23/11 - juris RdNr 9; BAG vom 24.10.2018 - 10 AZR 278/17 - NJW 2019, 698 und vom 25.2.2015 - 5 AZR 849/13 - BAGE 151, 66; BFH vom 17.8.2010 - X B 190/09 - BFH/NV 2010, 2285). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Denn es steht aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls zweifelsfrei fest,
dass es sich bei der unterschriftslosen Beschwerdebegründungsschrift um keinen Entwurf handelte, sondern der Klägerbevollmächtigte
die Verantwortung für ihren Inhalt übernehmen und sie dem BSG übermitteln wollte.
b) Soweit das LSG die Feststellung einer BK 2108 abgelehnt hat, ist die Beschwerde allerdings als unzulässig zu verwerfen,
weil hinsichtlich dieses Streitgegenstandes kein Zulassungsgrund iS des §
160 Abs
2 Nr
1 bis
3 SGG ausreichend dargelegt oder bezeichnet (§
160a Abs
2 Satz 3
SGG) worden ist.
c) Die Beschwerde ist dagegen zulässig, soweit der Kläger die Verpflichtung der Beklagten zur Rücknahme der Ablehnungsentscheidung
in dem Bescheid vom 20.1.2010 und die behördliche Feststellung einer BK 2109 geltend macht. Insofern ist eine Verletzung der
tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht hinreichend bezeichnet. Nach §
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 1
SGG ist die Revision gegen eine Entscheidung des LSG zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die
angefochtene Entscheidung beruhen kann. Wird der Verfahrensmangel auf eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§
103 SGG) gestützt, muss "er sich auf einen Beweisantrag beziehen, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist". Um
den Verfahrensmangel ordnungsgemäß zu bezeichnen (§
160a Abs
2 Satz 3
SGG), muss die Beschwerdebegründung einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren, prozessordnungsgemäßen Beweisantrag
bezeichnen, die Rechtsauffassung des LSG wiedergeben, aufgrund derer bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen
müssen, die Tatumstände darlegen, die den Beweisantrag betreffen und weitere Sachaufklärung erfordert hätten, das voraussichtliche
Ergebnis der unterbliebenen Beweisaufnahme angeben und schildern, dass und warum die Entscheidung des LSG auf der angeblich
fehlerhaft unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann, das LSG also von seinem Rechtsstandpunkt aus zu einem für den Kläger
günstigeren Ergebnis hätte gelangen können, wenn es das behauptete Ergebnis der unterlassenen Beweisaufnahme gekannt hätte
(BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 5 mwN und Nr 21 RdNr 5). Diesen Erfordernissen wird die Beschwerdebegründung gerecht.
2. Die somit formgerecht gerügte Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht liegt auch vor. Dem protokollierten
und damit bis zuletzt aufrechterhaltenen Hilfsbeweisantrag des Klägers ist das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt.
Dabei ist unerheblich, ob die Ablehnung des Beweisantrags durch das LSG eine hinreichende Begründung enthält, sondern es kommt
allein darauf an, ob das Gericht objektiv gehalten gewesen ist, den Sachverhalt zu dem von dem betreffenden Beweisantrag erfassten
Punkt weiter aufzuklären, ob es sich also - objektiv - zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (stRspr seit BSG vom 31.7.1975 - 5 BJ 28/75 - SozR 1500 § 160 Nr 5; vgl zuletzt Senatsbeschlüsse vom 26.11.2019 - B 2 U 122/19 B - juris RdNr 6, vom 31.8.2017 - B 2 U 76/17 B - juris RdNr 4 und vom 30.3.2017 - B 2 U 181/16 B - juris RdNr 7). Soweit der Sachverhalt nicht hinreichend geklärt ist, muss das Gericht von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise
zur Verfügung stehen, Gebrauch machen (Senatsbeschlüsse aaO und BSG vom 12.2.2009 - B 5 R 48/08 B - juris RdNr 8), insbesondere bevor es eine Beweislastentscheidung trifft. Einen Beweisantrag darf es nur dann ablehnen, wenn es aus seiner
rechtlichen Sicht auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, wenn diese Tatsache (zugunsten des Beweisführenden) als wahr
unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel unzulässig, völlig ungeeignet oder unerreichbar ist, wenn die behauptete Tatsache
oder ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist (vgl Senatsbeschlüsse aaO sowie vom 26.11.2019 - B 2 U 122/19 B - juris RdNr 6 und BSG vom 6.2.2007 - B 8 KN 16/05 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 12 RdNr 10; vom 27.11.2007 - B 5a/5 R 406/06 B - juris RdNr 8; vom 20.10.2010 - B 13 R 511/09 B - juris RdNr 14; vom 7.4.2011 - B 9 VG 15/10 B - juris RdNr 4 und vom 24.4.2014 - B 13 R 325/13 B - juris RdNr 13).
Ausgehend von seiner eigenen Rechtsauffassung hätte sich das LSG aus objektiver Sicht gedrängt fühlen müssen, ein arbeitstechnisches
Sachverständigengutachten zu den Fragen einzuholen, ob der Kläger Lastgewichte von 40 kg oder mehr auf der Schulter in der
ganz überwiegenden Anzahl der Arbeitsschichten getragen hat, ob der Tragevorgang zu einer nach vorn und seitwärts erzwungenen
Kopfbeugehaltung und gleichzeitiger maximaler Anspannung der Nackenmuskulatur nebst Verdrehung der HWS führte, welche kumulative
Gesamtbelastung damit verbunden war und ob die Belastungen "langjährig" waren, um über die Pflicht zur Rücknahme der Ablehnungsentscheidung
in dem Bescheid vom 20.1.2010 und die Feststellung einer BK 2109 entscheiden zu können. Lediglich beiläufig weist der Senat
darauf hin, dass nach seiner Rechtsprechung keine Mindesttragezeit pro Arbeitsschicht zu fordern ist, sondern eine gewisse
Regelmäßigkeit des Tragens schwerer Lasten auf der Schulter mit Zwangshaltung genügt, ohne dass eine genaue Zeitgrenze pro
Arbeitsschicht angegeben werden kann (BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 11/12 R - BSGE 114, 90 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1, RdNr 18 ff).
Soweit das LSG die Beweiserhebung abgelehnt hat, weil der Kläger in seiner Erklärung vom 2.11.2009 selbst angegeben habe,
in etwa 222 Arbeitsschichten pro Jahr wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten verrichtet und davon nur in ca 50 Arbeitsschichten
Lasten von 50 und mehr kg auf der Schulter getragen zu haben, konnte es daraus nicht schlussfolgern, das Fehlen der arbeitstechnischen
Voraussetzungen sei bereits erwiesen. Denn zu der - auch aus Sicht des LSG - maßgebenden Frage, ob der Kläger in der ganz
überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten (= [222 : 2] +1) Lasten von 40 kg und mehr auf der Schulter getragen hat, enthält
die Erklärung vom 2.11.2009 keine Aussage, weil sie sich auf deutlich höhere Lastgewichte ("50 kg und mehr") bezieht, die
seltener getragen worden sein können. Ebenfalls beiläufig sei darauf verwiesen, dass die Beklagte selbst in ihrem Formular
den Grenzwert von 50 kg eingeführt hat, sodass hieraus keine Schlussfolgerungen für Angaben des Klägers gerade zu Tragelasten
unter diesem Grenzwert gezogen werden dürften. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Annahme des LSG nicht gerechtfertigt,
der Kläger behaupte das Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen "ins Blaue hinein" und habe deshalb einen sogenannten
Beweisermittlungsantrag gestellt, dem die Tatsachengerichte nicht nachkommen müssten.
Bei dieser Sachlage ist in Übereinstimmung mit dem Vorbringen des Klägers nicht auszuschließen, dass die beantragte Zuziehung
eines arbeitstechnischen Sachverständigengutachtens den Vollbeweis der sogenannten arbeitstechnischen Voraussetzungen ("langjähriges
Tragen schwerer Lasten auf der Schulter") erbracht und zur Feststellung einer BK 2109 geführt hätten, zumal der Sachverständige
Dr. P. in seinem Gutachten vom 30.12.2013 zumindest das Vorliegen bandscheibenbedingter Erkrankungen der HWS bejaht hat.
Die Voraussetzungen des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG liegen somit vor. Der Senat hebt gemäß §
160a Abs
5 SGG die angefochtene Berufungsentscheidung auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück.
Auf die weiteren Verfahrensrügen des Klägers ist daher nicht mehr einzugehen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.