Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsreaktion als Unfallfolge in der gesetzlichen Unfallversicherung für einen Schienenfahrzeugführer
nach einer Notbremsung
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten um die Feststellung eines Arbeitsunfalls.
Der im Jahre 1955 geborene Kläger ist seit Oktober 1974 bei der S-Bahn B. als Führer von Schienenfahrzeugen beschäftigt. Am
18.6.2007 führte der Kläger als Triebfahrzeugführer einen S-Bahn-Zug und erlitt ausweislich der Unfallanzeige des Arbeitgebers
einen Beinaheunfall an einem Bahnübergang. Wegen einer Störung einer Schrankenanlage wurde der Kläger im Vorfeld des Dienstantritts
schriftlich beauftragt, mit seinem Zug vor einem bestimmten Bahnübergang zu halten. An diese Anweisung hielt sich der Kläger.
Nachdem er festgestellt habe, dass sich keine Fahrzeuge den Gleisen rechts näherten bzw diese vor dem Bahnkreuz (linke Seite)
angehalten hätten, habe er das "Achtungssignal" gegeben und den Zug in Bewegung gesetzt. Als der sich in Fahrt befindliche
S-Bahn-Zug bereits den Straßenbereich des Bahnübergangs erreicht gehabt habe, fuhr ein Kraftfahrzeug von rechts kommend unmittelbar
vor dem Zug über die Gleise. Nur durch eine sofortige Schnellbremsung habe ein Zusammenprall verhindert werden können. Der
Kläger war daraufhin nicht mehr in der Lage, seinen Dienst ordnungsgemäß zu beenden und musste abgelöst werden. Der Durchgangsarzt
diagnostizierte am 18.6.2007 bei dem Kläger eine posttraumatische Belastungsreaktion. Arbeitsunfähigkeit lag vom 18.6.2007
bis 30.6.2007 vor.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 20.9.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.1.2008 einen Anspruch des Klägers
auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen der Folgen des Ereignisses vom 18.6.2007 ab. Zur Begründung wurde
ausgeführt, dass ein Unfallereignis im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung als Ursache einer Verletzung nicht stattgefunden
habe. Der Kläger habe sich zu keinem Zeitpunkt in einer lebensbedrohlichen Situation befunden, vielmehr fehle es am äußeren
Ereignis. Es handele sich um eine berufstypische Belastung.
Das SG Berlin hat durch Gerichtsbescheid vom 16.1.2009 die Klage abgewiesen, das LSG durch Urteil vom 26.8.2010 die Berufung
des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, die unstreitig vorliegende Gefahrenbremsung des Klägers
habe nicht den Begriff des Unfalls iS des §
8 Abs
1 Satz 2
SGB VII erfüllt, denn es fehle die zeitlich begrenzte Einwirkung von außen - das eigentliche Unfallereignis. Reduziere man das streitgegenständliche
Ereignis auf seinen Kern, dann habe der Kläger eine Zugbremsung ausgelöst. Wolle man den Tatbestand des Unfalls in §
8 Abs
1 SGB VII nicht völlig aushöhlen und durch das Tatbestandsmerkmal "jeder (auch noch so übliche und alltägliche) Geschehensablauf" ersetzen,
so müsse an dem Erfordernis eines von der versicherten Tätigkeit selbst abzugrenzenden Ereignisses festgehalten werden. Die
gesetzliche Unfallversicherung schütze nicht alltägliche Tätigkeiten und Geschehensabläufe, die im Rahmen der versicherten
Tätigkeit üblich und selbstverständlich seien, sondern nur die sich davon abhebenden Ereignisse. Dass der Kläger gesehen habe,
wie ein Pkw knapp vor dem Zug die Gleise überquerte, genüge nicht, weil dieses einen ganz normalen Vorgang des täglichen (Berufs-)Lebens
darstelle.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner - vom LSG zugelassenen - Revision. Er rügt die Verletzung des §
8 Abs
1 SGB VII. Zur Begründung trägt er vor, das LSG verenge den Begriff des Arbeitsunfalls in unzulässiger Weise. §
8 SGB VII gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass lediglich solche Ereignisse, die über die alltäglichen beruflichen Anforderungen hinausgingen,
Arbeitsunfälle darstellen könnten. §
8 SGB VII nehme insbesondere keine Einschränkungen auf nicht berufstypische Einwirkungen vor, sondern der Unfallbegriff werde unabhängig
von den jeweiligen Pflichten, die die ausgeübte und versicherte Berufstätigkeit mit sich bringe, definiert. Bei einer Gefahrenbremsung
zur Vermeidung einer Kollision mit einem PKW handele es sich gerade nicht um einen "alltäglichen" Vorgang für einen Triebfahrzeugführer.
Im vorliegenden Fall habe eine tatsächliche Einwirkung durch den sich verkehrswidrig verhaltenden Kraftfahrzeug-Fahrer vorgelegen,
der ohne seiner Wartepflicht nachzukommen, die Schienen unmittelbar vor dem Zug überquert habe. Schließlich habe das LSG Feststellungen
zu den gesundheitlichen Unfallfolgen unterlassen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 26.8.2010, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 16.1.2009
sowie die ablehnende Entscheidung im Bescheid der Beklagten vom 20.9.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.1.2008
aufzuheben und festzustellen, dass das Ereignis vom 18.6.2007 ein Arbeitsunfall ist.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Zur Begründung führt sie aus, mit dem Begriff des Unfalls könne nicht ein Beinaheunfall gemeint sein. Wenn der Unfallbegriff
soweit gehen würde, dass bereits ein in der Fantasie vorgestelltes Ereignis als Arbeitsunfall anerkannt werden müsste, dann
wäre die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Unfallversicherung unbegrenzt, denn dann müsste jede beliebige, nicht nachprüfbare,
allein vom Versicherten behauptete Vorstellung entschädigt werden. Die Unfreiwilligkeit der Einwirkung sei dem Unfallbegriff
immanent.
II
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§
170 Abs
2 Satz 2
SGG). Entgegen der Rechtsansicht des LSG stellte die vom Kläger am 18.6.2007 vorgenommene Gefahrenbremsung seines S-Bahn-Zuges
einen Unfall iS des §
8 Abs
1 Satz 2
SGB VII dar. Es fehlt jedoch an Feststellungen dazu, ob bei dem Kläger überhaupt ein Gesundheitsschaden vorlag und ob das Unfallereignis
einen solchen ggf vorliegenden Gesundheitsschaden verursachen konnte und verursacht hat. Entsprechende Feststellungen wird
das LSG nachzuholen haben.
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG war zulässig, ebenso die von ihm erhobene Anfechtungs- und Feststellungsklage. Diese Klagen sind gemäß §
54 Abs
1 iVm §
55 Abs
1 Nr
1 SGG als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage statthaft. Der Kläger hat zwar vor dem LSG noch beantragt, die Beklagte
zu der Feststellung eines Arbeitsunfalls zu verpflichten. Der Wechsel von der Verpflichtungs- zur Feststellungsklage ist jedoch
auch im Revisionsverfahren noch zulässig (vgl iÜ BSG Urteil vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - RdNr 14 ff, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist für einen Arbeitsunfall nach §
8 Abs
1 SGB VII in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen
ist (innerer bzw sachlicher Zusammenhang, vgl BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 10; BSGE 63, 273, 274 = SozR 2200 § 548 Nr 92, S 257), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden
Ereignis - dem Unfallereignis - geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder
den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen
auf Grund des Gesundheitserstschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls,
sondern für die Gewährung einer Verletztenrente.
Die vom Kläger zur Zeit des Unfalls ausgeübte Verrichtung - das Führen eines Schienenfahrzeugs - war Teil seiner versicherten
Tätigkeit als Triebwagenführer. Diese Verrichtung - das Führen des Triebwagens - führte auch zu dem Unfallereignis. Der Unfall
iS des §
8 Abs
1 Satz 2
SGB VII bestand hier darin, dass der Kläger wegen eines auf die Schienen fahrenden PKW's eine Gefahrenbremsung seines Triebwagens
vornahm. Das LSG hat für den Senat bindend (§
163 SGG) festgestellt, dass der Kläger vor einem Bahnübergang zunächst sein Triebfahrzeug angehalten hat. Nachdem er seinen S-Bahn-Zug
wieder in Bewegung gesetzt hat, nahm der Kläger einen PKW wahr, der von rechts kommend unmittelbar vor dem Zug über die Gleise
fuhr. Der Kläger konnte nur durch eine sofortige Schnellbremsung einen Zusammenprall verhindern. Anders als in dem Rechtsstreit
B 2 U 10/11 R des Klägers lagen bei dem nach den insofern nicht mit Rügen angegriffenen Feststellungen des LSG damit am 18.6.2007 alle
Merkmale eines Unfallereignisses vor.
Nach §
8 Abs
1 Satz 2
SGB VII sind Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum
Tod führen.
Es liegt hier zunächst eine Einwirkung iS des §
8 Abs
1 Satz 2
SGB VII vor, die von außen auf den Körper des Klägers einwirkte. Wie der Senat bereits entschieden hat, ist für die äußere Einwirkung
noch nicht einmal ein äußerliches, mit den Augen zu sehendes Geschehen zu fordern (vgl BSG Urteil vom 12.4.2005 - B 2 U 27/04 R - BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr 15, RdNr 9 f - Anheben eines festgefrorenen Grabsteins). Die äußere Einwirkung liegt im vorliegenden
Fall aber bereits darin, dass ein PKW an einem ungesicherten Bahnübergang so nahe vor dem Zug über die Schienen fuhr, dass
eine konkrete Gefahr ua für den Kläger bestand.
Entgegen dem Urteil des LSG ist für den Unfallbegriff nicht konstitutiv, dass ein besonderes, ungewöhnliches Geschehen vorliegt
(vgl BSG aaO RdNr 7; vgl insbesondere auch BSG Urteil vom 17.2.2009 - B 2 U 18/07 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 31). Das von außen auf den Körper einwirkende Ereignis liegt nicht nur bei einem besonders ungewöhnlichen
Geschehen, sondern auch bei einem alltäglichen Vorgang vor, wie es das Stolpern über die eigenen Füße oder das Aufschlagen
auf den Boden darstellt, weil hierdurch ein Teil der Außenwelt auf den Körper einwirkt (vgl BSG Urteil vom 30.1.2007 - BSGE 98, 79 = SozR 4-2700 § 8 Nr 22, RdNr 16; BSG Urteil vom 12.4.2005 - BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr 15; BSG Urteil vom 18.4.2000 - B 2 U 7/99 R - RdNr 25 mwN). Die Revision rügt insofern zutreffend, dass das LSG offenbar eine Eingrenzung des Unfallbegriffs auf außergewöhnliche,
nicht alltägliche Ereignisse vorgenommen hat, die der Systematik des §
8 Abs
1 Satz 2
SGB VII nicht entspricht. Von daher kann hier auch dahinstehen, dass die vom Kläger vorgenommene Gefahrenbremsung schon keinen alltäglichen,
üblichen Vorgang darstellen dürfte, vielmehr gerade aus dem Bereich der Routinehandlungen herausfällt.
Ebenfalls überzeugt nicht die Einschränkung des LSG, dass Verrichtungen, die im Rahmen einer versicherten Tätigkeit "üblich
und selbstverständlich" sind, nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stünden. Hierdurch wird der Versicherungsschutz
in einer den Systemzweck der Unfallversicherung verkürzenden Weise verengt. Geschützt sind nach dem Zweck des
SGB VII alle Verrichtungen, die in einem inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen (vgl §
8 Abs
1 Satz 1
SGB VII). Eine Differenzierung in nicht versicherte "übliche" und versicherte "unübliche" Tätigkeiten ist dem Wortlaut und Regelungszweck
des §
8 Abs
1 Satz 1
SGB VII nicht zu entnehmen.
Nicht erheblich ist schließlich auch, dass der Kläger auf die von außen über die Sinneswahrnehmung auf ihn einwirkende Gefahr
durch den PKW selbst durch gewillkürtes Handeln (das Ziehen des Bremshebels) reagiert hat. Zwar ist die Unfreiwilligkeit der
Einwirkung bei dem, den das Geschehen betrifft, dem Begriff des Unfalls immanent, weil ein geplantes, willentliches Herbeiführen
einer Einwirkung dem Begriff des Unfalls widerspricht (BSGE 61, 113, 115 = SozR 2200 § 1252 Nr 6 S 20). Hiervon zu unterscheiden sind jedoch die Fälle eines gewollten Handelns auf Grund einer
ungewollten Einwirkung. Bei dieser liegt eine äußere Einwirkung vor. Dies ist für äußerlich sichtbare Einwirkungen unbestritten,
zB für den Sägewerker, der nicht nur ein Stück Holz absägt, sondern auch unbeabsichtigt seinen Daumen. Gleiches gilt für äußere
Einwirkungen, deren Folgen äußerlich nicht sichtbar sind (vgl BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr 15, RdNr 7). Im vorliegenden Fall ist auf Grund der Feststellungen des LSG davon auszugehen, dass ein
PKW vor dem Schienenfahrzeug des Klägers auf die Gleise fuhr, das sich bereits unmittelbar im Bereich des Übergangs befand.
Der eigentliche, gewillkürte Bremsakt ist mithin durch diese äußere Einwirkung (den PKW auf den Gleisen) ausgelöst worden.
Durch den Bremsakt wirkten wiederum Trägheits- oder Scheinkräfte auf den Körper des Klägers, sodass es sich eben gerade nicht
um einen rein mentalen oder nur "eingebildeten" Vorgang handelte. Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn das LSG
positiv festgestellt hätte, dass ein PKW objektiv nicht auf den Schienen gewesen sei und sich der Kläger die gesamte Gefahrensituation
nur vorgestellt hätte. Dann wäre der Unfall möglicherweise auf eine innere Ursache - die Überängstlichkeit des Klägers - zurückzuführen.
Von einem solchen Sachverhalt kann mangels eindeutiger, entgegenstehender Feststellungen des LSG - anders als in dem Rechtsstreit
des Klägers B 2 U 10/11 R - jedoch nicht ausgegangen werden.
Mithin stellte die Gefahrenbremsung des Klägers auf Grund des PKW's, der auf die Schienen fuhr, ein Unfallereignis iS des
§
8 Abs
1 Satz 2
SGB VII dar. Der Senat kann wegen fehlender weiterer tatsächlichen Feststellungen des LSG jedoch nicht darüber entscheiden, ob dieses
Unfallereignis bei dem Versicherten zu einem Gesundheitserstschaden geführt hat. Nach den Feststellungen des LSG steht schon
nicht fest, ob und welche Gesundheitsschäden im Einzelnen bei dem Kläger vorlagen. Ebenso wenig kann beurteilt werden, ob
diese ggf vorliegenden Gesundheitsschäden überhaupt kausal im Sinne der Wesentlichkeitstheorie auf das Unfallereignis zurückzuführen
sind.
Das LSG wird nach der Zurückverweisung der Sache entsprechende Feststellungen zu treffen und auch über die Kosten des Rechtsstreits
zu entscheiden haben.