Amtsermittlungspflicht im sozialgerichtlichen Verfahren
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten um die Feststellung psychischer Unfallfolgen und die Gewährung einer Verletztenrente.
Der im Jahre 1939 geborene Kläger kroatischer Staatsangehörigkeit erlitt am 29. Oktober 1985 als Bauhelfer einen Arbeitsunfall,
als - so die Unfallanzeige des Arbeitgebers - eine Flächenschalung gegen sein rechtes Bein kippte. In der Folgezeit wurde
er chirurgisch und orthopädisch behandelt und erhielt wegen Unfallfolgen am rechten Bein vorübergehend eine Verletztenrente
nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH. Die gegen die Rentenentziehung gerichtete Klage wurde abgewiesen. Im
Jahre 1995 machte der Kläger als weitere Unfallfolge ein ängstlich-depressives Syndrom geltend und stellte einen Überprüfungsantrag,
der von der Beklagten abgelehnt wurde. Die dagegen erhobene Klage wurde ebenfalls abgewiesen, die Berufung vom Kläger zurückgenommen.
Aufgrund des zum vorliegenden Verfahren führenden Neufeststellungsantrags des Klägers vom 2. November 1999 holte die Beklagte
eine Auskunft der Nervenärztin Dr. O. zur Behandlung des Klägers seit 1987 ein und lehnte den Antrag ab (Bescheid
vom 27. Juni 2000, Widerspruchsbescheid vom 26. Januar 2001). In dem anschließenden Klageverfahren wurde vom Sozialgericht
ua ein nervenärztliches Fachgutachten bei Prof. T. eingeholt, der einen Zusammenhang der bei dem Kläger vorliegenden
depressiven Störung mit dem Arbeitsunfall verneinte. Die Klage wurde abgewiesen (Urteil vom 13. März 2003). Das Landessozialgericht
(LSG) hat nach Einholung einer ergänzenden Stellungnahme von Prof. T. die Berufung zurückgewiesen und die Revision
nicht zugelassen (Beschluss vom 20. Juli 2004). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Nach den Ausführungen von
Prof. T. setze die Anerkennung eines posttraumatischen Stresssyndroms ein schweres katastrophenähnliches, existenzbedrohendes
Ereignis voraus. Ein solches könne in der aktenkundigen Unfallschilderung nicht gesehen werden. Der Unfall habe lediglich
zu einer Beinverletzung geführt. Die zeitnahen Unfallschilderungen des Klägers enthielten keine Anhaltspunkte dafür, dass
der Kläger, wie nun von seiner Seite geschildert werde, von Platten begraben worden, mit dem Kopf auf den Boden gefallen sei
und eine Prellung mit unerträglichen Kopfschmerzen erlitten habe.
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger ua als Verfahrensfehler Verstöße gegen §
103 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG), weil entgegen seinen Anträgen im Schriftsatz vom 1. April 2004, die er auch nach der Anhörungsmitteilung des LSG aufrechterhalten
habe, die mit Anschriften benannten Zeugen J. , D. und H. zur Schwere der Gewalteinwirkung und der von ihm
behaupteten Bewusstlosigkeit nicht als Zeugen gehört worden seien.
II
Die zulässige Beschwerde des Klägers ist begründet. Eine schlüssig gerügte Verletzung des §
103 SGG liegt vor und führt gemäß §
160a Abs
5, §
160 Abs
2 Nr
3 SGG zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das LSG. Denn die Rüge des Klägers, das LSG sei seinem bis zur Entscheidung
aufrechterhaltenen Beweisantrag auf Vernehmung der Zeugen J. , D. , H. zur Schwere der Gewalteinwirkung
durch den Arbeitsunfall und seiner Bewusstlosigkeit ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt, ist begründet.
Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist ua begründet, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die
angefochtene Entscheidung beruhen kann. Auf eine Verletzung des §
103 SGG (Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen) kann eine Nichtzulassungsbeschwerde nur gestützt werden, wenn diese sich auf
einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG). Ohne hinreichende Begründung in diesem Sinne bedeutet, dass die Revision zuzulassen ist, wenn das LSG sich hätte gedrängt
fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben (BSG SozR 1500 § 160 Nr 5). Zur Begründung eines solchen Verfahrensfehlers
ist die schlüssige Darlegung des Klägers erforderlich, inwiefern nach den dem LSG vorliegenden Beweismitteln Fragen zum tatsächlichen
und medizinischen Sachverhalt aus der rechtlichen Sicht des LSG erkennbar offen geblieben sind und damit zu einer weiteren
Aufklärung des Sachverhalts zwingende Veranlassung bestanden hat (stRspr des Senats, s ua Beschluss vom 14. Dezember 1999
- B 2 U 311/99 B - mwN).
Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil es aus Sicht des LSG für die Entscheidung über das Vorliegen von psychischen
Unfallfolgen und die Gewährung einer Verletztenrente beim Kläger aufgrund des Arbeitsunfalls vom 29. Oktober 1985 entscheidend
auf das Unfallgeschehen und die Schwere der dadurch erfolgten Verletzung des Klägers ankam. Hat der Kläger damals nur eine
Verletzung am rechten Bein erlitten, ist für die Ursachenbeurteilung hinsichtlich der in der Folgezeit aufgetretenen psychischen
Störungen von einem anderen Primärtrauma auszugehen, als wenn der Kläger von Platten begraben wurde, eine Kopfverletzung erlitt
und bewusstlos war. Letzteres war vom Kläger ordnungsgemäß durch die Bezeichnung von Unfallzeugen mit Namen und Anschrift
unter Beweis gestellt worden. Diesen Antrag hatte der Kläger auch nach Zugang der Mitteilung des LSG, durch Beschluss zu entscheiden,
aufrechterhalten. Warum das LSG diesem Beweisantrag nicht nachgekommen ist, hat es in seinem Beschluss nicht begründet.
Es hat lediglich ausgeführt, dass die jetzige, von den früheren aktenkundigen Feststellungen wesentlich abweichende Unfallschilderung
des Klägers seine - des LSG - Überzeugung vom Nichtvorliegen einer unfallbedingten posttraumatischen Belastungsstörung nicht
erschüttern könnte. Die ursprünglichen zeitnahen Angaben zum Unfallhergang ergäben keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Kläger
ua, wie im letzten anwaltlichen Schriftsatz geschildert, von "Platten begraben" worden sei. Es wäre zu erwarten gewesen, dass
solche gravierenden Ereignisse, wenn sie sich tatsächlich in diesem Ausmaß ereignet hätten, nicht nach mehr als 15 Jahren
erstmals geschildert worden wären. Auch seien entsprechende Beschwerden oder (Kopf-)Verletzungen weder bei der ersten ärztlichen
Untersuchung geltend gemacht noch im Durchgangsarztbericht oder den zeitnah folgenden Berichten beschrieben worden. Diese
Überlegungen können die Ablehnung des Beweisantrags nicht rechtfertigen. Die Ermittlung von rechtserheblichen Tatsachen darf
nicht mit der Begründung unterbleiben, die zu erwartende Zeugenaussage könnte an der bereits feststehenden Überzeugung des
Gerichts nichts mehr ändern, etwa weil zuviel Zeit verstrichen sei oder den zeitnahen Unfallschilderungen ein höherer Beweiswert
zukomme. Eine solche vorweggenommene Beweiswürdigung ist unzulässig, denn ob ein Zeuge etwas zur Sachaufklärung beitragen
kann, soll durch die Vernehmung gerade erst geklärt werden.
Auf dem gerügten Verfahrensmangel kann die Entscheidung des LSG auch beruhen. Denn es ist nicht auszuschließen, dass das LSG
nach vollständiger Aufklärung des Unfallhergangs und Vernehmung der Zeugen zu einer anderen Gesamtwürdigung des Unfallgeschehens
und ggf der Ursachenbeurteilung hinsichtlich der Unfallfolgen auf psychischem Fachgebiet gekommen wäre.
Auf die weiteren Rügen des Klägers kommt es für die Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde nicht an.
Nach §
160a Abs
5 SGG kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde den angefochtenen Beschluss aufheben und
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG erfüllt sind. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.