Unfallversicherungsschutz von Schülern beim Abweichen vom direkten Nachhauseweg
Gründe:
I. Der am 29. April 1995 geborene Kläger besuchte die E-Volksschule in M. Von dort fuhr er am 28. November 2003 gegen 13.00
Uhr mit dem Schulbus nach Hause. Er verließ den Bus jedoch nicht wie sonst an der ca. 230 Meter von der Familienwohnung entfernten
Haltestelle "M-straße", sondern wegen Unaufmerksamkeit erst zwei Haltestellen weiter an der Haltestelle "B-straße", von der
aus der Fußweg nach Hause ca 550 Meter beträgt. Auf dem verlängerten Nachhauseweg wurde er beim Überqueren der W-straße von
einem Pkw erfasst und erlitt einen Oberschenkelbruch und ein Schädelhirntrauma.
Der beklagte Gemeindeunfallversicherungsverband lehnte es ab, den Verkehrsunfall als Arbeitsunfall anzuerkennen (Bescheid
vom 23. Februar 2004, Widerspruchsbescheid vom 1. April 2004). Der Kläger habe sich auf einem nicht versicherten Abweg befunden,
als er, in das Gespräch mit einer Mitschülerin vertieft, die Haltestelle "M-straße" verpasst habe und zu weit gefahren sei.
Während das Sozialgericht (SG) die Klage abgewiesen hat (Urteil vom 3. August 2005), hat das Landessozialgericht (LSG) den Beklagten verurteilt, den Unfall
als Arbeitsunfall (Wegeunfall) anzuerkennen (Urteil vom 27. Juni 2006). Der Kläger habe sich, als er verunglückt sei, nicht
auf einem Abweg, sondern auf einem Umweg befunden, denn er habe weder einen zusätzlichen Weg einschieben noch die Zielrichtung
"Familienwohnung" aufgeben wollen. Seine Handlungstendenz habe er auch nicht dadurch geändert, dass er ungeachtet der Aufforderung
einer Mitschülerin, "er müsse raus", weiter im Bus verblieben sei. Denn es sei nicht erwiesen, dass er diese Aufforderung
gehört, verstanden und richtig bewertet habe. Bei seinem Alter hätten ihm die Einsichtsfähigkeit und die Reife gefehlt, den
kürzesten Weg nach Hause zu nehmen und an der "richtigen" Haltestelle auszusteigen. Durch eine Erkrankung an ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung)
habe sich die alterstypische Unkonzentriertheit noch verstärkt. Der innere Zusammenhang mit dem Schulbesuch sei durch die
verhältnismäßig geringe Verlängerung des Fußweges nicht gelöst worden.
Mit der Revision rügt der Beklagte, das angefochtene Urteil verletze §
8 Abs
2 Nr
1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (
SGB VII). Als er verunglückt sei, habe der Kläger sich nicht mehr auf dem unmittelbaren Weg von der Schule nach Hause, sondern auf
einem unversicherten Abweg befunden. Der "subjektiven Handlungstendenz" könne dabei keine Bedeutung zukommen, zumal letztlich
unklar sei, was den Kläger zum Verbleiben im Bus bewogen habe. Die vom LSG festgestellte Gedankenlosigkeit sei der privaten
Sphäre zuzurechnen und für den Versicherungsschutz belanglos. Auf die Einsichtsfähigkeit und Reife des Versicherten könne
es im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz und das Gebot der Rechtssicherheit nicht ankommen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichtes vom 27. Juni 2006 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil
des Sozialgerichts Augsburg vom 3. August 2005 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
II. Die Revision des Beklagten ist unbegründet.
Zutreffend hat das LSG den Unfall des Klägers am 28. November 2003 als einen vom Beklagten zu entschädigenden Arbeitsunfall
gewertet. Lediglich der Tenor des Berufungsurteils war insofern zu ergänzen und richtigzustellen, als neben dem erstinstanzlichen
Urteil auch der zugrunde liegende Verwaltungsakt aufzuheben sowie die Verurteilung des Beklagten zur Anerkennung des Arbeitsunfalls
durch die entsprechende gerichtliche Feststellung zu ersetzen war (zur kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage als
zutreffender Klageart bei Streitigkeiten über die Anerkennung eines Arbeitsunfalls siehe BSG SozR 4-2700 § 8 Nr 6 und Nr 16;
BSG SozR 4-2700 § 2 Nr 3).
Rechtsgrundlage für die begehrte Feststellung ist §
8 SGB VII. Nach dessen Absatz
1 Satz 1 sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§
2,
3 oder 6
SGB VII begründenden Tätigkeit. Zu den versicherten Tätigkeiten zählt gemäß §
2 Abs
1 Nr
8 Buchst a
SGB VII der Besuch einer allgemeinbildenden Schule, wobei sich der Versicherungsschutz nach §
8 Abs
2 Nr
1 SGB VII auf das Zurücklegen des mit dem Schulbesuch zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Schule erstreckt.
Die in §
8 Abs
2 Nr
1 SGB VII gebrauchte Formulierung "mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängend" kennzeichnet nicht einen Kausalzusammenhang, sondern
den durch Wertentscheidung zu bestimmenden inneren bzw sachlichen Zusammenhang des unfallbringenden Weges mit der eigentlichen
versicherten Tätigkeit. Ein solcher Zusammenhang besteht, wenn der Weg wesentlich zu dem Zweck zurückgelegt wird, den Ort
der Tätigkeit zu erreichen oder nach Beendigung der Tätigkeit nach Hause zurückzukehren. Die darauf gerichtete Handlungstendenz
des Versicherten muss durch die objektiven Umstände bestätigt werden (BSG SozR 2200 § 539 Nr 119; SozR 1500 § 75 Nr 74; SozR
3-2200 § 550 Nr 4 und Nr 16, jeweils mwN).
Der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit und damit der Versicherungsschutz entfallen, wenn der Weg zum oder vom Ort
der Tätigkeit aus eigenwirtschaftlichen Gründen unterbrochen wird. Dafür ist es unerheblich, ob der Versicherte lediglich
seine Fortbewegung an Ort und Stelle unterbricht, um etwa in einem Geschäft am Straßenrand einzukaufen (so die Fallgestaltung
in BSGE 91, 293 = SozR 4-2700 § 8 Nr 3), oder ob er den eingeschlagenen Weg verlässt, um an anderer Stelle einer privaten Verrichtung nachzugehen
und erst danach auf den unter Versicherungsschutz stehenden Weg zurückzukehren (wie in der Entscheidung des Senats vom 24.
Juni 2003 - B 2 U 40/02 R - USK 2003-103 = DAR 2003, 483). Entscheidend ist die Änderung der Handlungstendenz weg von der Zurücklegung des durch die versicherte Tätigkeit veranlassten
Weges hin zu einer dem unversicherten privaten Bereich zuzurechnenden Verrichtung. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass eine
Zäsur oder eine Abweichung vom direkten Weg nicht als Unterbrechung im Rechtssinne zu werten ist, wenn sie keine in der Privatsphäre
des Versicherten begründeten Ursachen hat, sondern weiterhin der Zurücklegung des versicherten Weges dienen soll. So bleibt
der Versicherungsschutz erhalten, wenn der gewöhnliche Weg verlassen wird, um einen Stau oder eine Baustelle zu umfahren (BSG
SozR 3-2700 § 8 Nr 9 mwN), oder wenn der Versicherte sich verfährt und irrtümlich einen Umweg macht (BSG SozR Nr 13 zu § 543
RVO aF; BSG Beschluss vom 27. Mai 1997 - 2 BU 56/97 - HVBG-INFO 1997, 1983), letzteres allerdings nur, solange der Irrtum nicht wesentlich durch in seiner Person liegende und damit dem eigenwirtschaftlichen
Bereich zugehörige Umstände hervorgerufen wird (BSG SozR Nr 13 zu § 543
RVO aF - Einschlafen während der Bahnfahrt; BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 17 - Verpassen mehrerer Autobahnausfahrten wegen angeregter Unterhaltung).
Nach diesen für die allgemeine Unfallversicherung geltenden Maßstäben läge im Fall des Klägers eine für den Versicherungsschutz
schädliche Unterbrechung des versicherten Weges vor, denn das Verbleiben im Bus über die Haltestelle "M-straße" hinaus bis
zur Haltestelle "B-straße" und die damit verbundene Verlängerung des Nachhauseweges waren weder durch die Beschaffenheit des
Weges veranlasst noch Folge eines einfachen Versehens. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts waren sie vielmehr darauf
zurückzuführen, dass der Kläger die Busfahrt "hangelnd, redend, unkonzentriert und bezüglich der Umstände seines Nachhausekommens
gedankenlos" zurückgelegt und in diesem Zustand die Aufforderung seiner Mitschülerin, "er müsse raus", entweder gar nicht
verstanden oder jedenfalls in ihrer Bedeutung nicht richtig eingeschätzt hatte. Sind solche besonderen persönlichen Eigenarten
und Verhaltensweisen der wesentliche Grund dafür, dass der unmittelbare Weg zum oder vom Ort der Tätigkeit nicht eingehalten
wird, so bewirkt das bei erwachsenen Versicherten in der Regel eine Lösung von der versicherten Tätigkeit.
Auf Kinder und Jugendliche im Schulalter lassen sich diese Grundsätze jedoch nicht uneingeschränkt übertragen. Zwar kommt
auch in der Schülerunfallversicherung der Handlungstendenz des Verletzten im Unfallzeitpunkt für den sachlichen Zusammenhang
mit der versicherten Tätigkeit maßgebliche Bedeutung zu. Das Bundessozialgericht (BSG) hat aber stets betont, dass in diesem
Punkt bei Schülern oder jugendlichen Auszubildenden weniger strenge Maßstäbe anzulegen sind, die der altersentsprechenden
Entwicklung und den durch die Zugehörigkeit zu einem Schul- oder Klassenverband beeinflussten Verhaltensweisen Rechnung tragen
(ständige Rechtsprechung seit Einführung der Schülerunfallversicherung im Jahre 1971; siehe bereits BSGE 42, 42, 44 f = SozR 2200 § 550 Nr 14 S 27; BSGE 43, 113, 115 = SozR 2200 § 550 Nr 26 S 59; BSG Urteil vom 7. November 2000 - B 2 U 40/99 R - USK 2000-131 = NJW 2001, 2909; zuletzt: BSG SozR 4-2700 § 8 Nr 7). Aktivitäten, die dem natürlichen Spiel- und Nachahmungstrieb oder dem Gruppenverhalten
von Schulkindern entspringen, werden vom Unfallversicherungsschutz erfasst, wenn sie in der jeweiligen Situation den üblichen
Verhaltensweisen von Schülern des betreffenden Alters entsprechen. Das gilt auch für das Verhalten auf dem Schulweg, der zwar
außerhalb des Verantwortungs- und Einflussbereichs der Schule liegt, vom Gesetz aber der versicherten Tätigkeit zugerechnet
wird.
Anders als die Revision meint, ist bei Anwendung dieser Grundsätze nicht auf einen fiktiven "Durchschnittsversicherten", sondern
auf die individuellen Verhältnisse des jeweiligen Schülers abzustellen. Entscheidend ist, wie weit dieser aufgrund seines
Alters und seiner Persönlichkeitsentwicklung in der Lage war, vernünftig und zielgerichtet zu handeln und sich beispielsweise
gruppentypischen Zwängen innerhalb seiner Klassengemeinschaft oder seiner "Clique" zu entziehen (vgl BSGE 42, 42, 47 = SozR 2200 § 550 Nr 14 S 30 - Spielerei mit Sprengkörpern; BSG Urteil vom 25. Januar 1977 - 2 RU 65/76 - USK 7778 - Einnahme von Arzneimitteln durch ein geistig behindertes Kind; Behrendt/Bigge, Unfallversicherung für Schüler
und Studierende sowie für Kinder in Tageseinrichtungen, 6. Aufl 2002, S 43; Kruschinsky in: Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung,
Band 3, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand: 2007, §
2 SGB VII RdNr 507). Für eine Anwendung schematischer Altersgrenzen ist dabei kein Raum (BSG SozR 4-2700 § 8 Nr 7 RdNr 10 mwN). Der
Einwand des Beklagten, das Abstellen auf die Einsichtsfähigkeit und Reife bei Schulkindern führe zu einer Ungleichbehandlung
gegenüber anderen Versicherten und zu einer Ausweitung des Versicherungsschutzes, lässt außer Acht, dass dies eine zwangsläufige
Folge der gesetzgeberischen Entscheidung ist, diese Personengruppe ebenso wie Kinder in Tageseinrichtungen und behinderte
Menschen in anerkannten Behindertenwerkstätten in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung einzubeziehen (§
2 Abs
1 Nr
4, §
2 Abs
1 Nr
8 Buchst a und b
SGB VII).
Ausgehend von diesen rechtlichen Erwägungen hat das LSG im Fall des Klägers zu Recht einen Arbeitsunfall (Schulunfall) bejaht.
Das zu späte Aussteigen aus dem Schulbus, das nach den Feststellungen im angefochtenen Urteil auf Gedankenlosigkeit, Unkonzentriertheit
und Fahrigkeit zurückzuführen war und wegen der Linienführung des Busses nur zu einer mäßigen Verlängerung des Fußweges nach
Hause um rund 350 Meter geführt hat, führt bei einem achtjährigen Kind nicht zum Verlust des Versicherungsschutzes. Denn es
ist nicht erkennbar, dass der Kläger dadurch seine auf das Erreichen der Familienwohnung gerichtete Handlungstendenz geändert
hätte.
Nach dem Unterricht besteht für Schüler ein natürliches Bedürfnis, sich zu bewegen (BSG, Urteil vom 14. November 1984 - 9b
RU 26/84 - BSGE 57, 222, 226 = SozR 2200 § 550 Nr 67 S 170; BGH, Urteil vom 27. April 1981 - III ZR 47/80 = NJW 1982, 37, 38), das typischerweise auch bei der anschließenden Heimfahrt im Schulbus noch andauert. Mehr oder weniger kontrollierte
"Energieentladungen" wie Raufen, Schubsen, auf die Sitze steigen, an den Stangen hangeln etc sind im Schulbus typische Verhaltensweisen
von Schülern insbesondere auf der Heimfahrt nach Schulende (Klaus Hilken, Eine kritische Bestandsaufnahme des Unfallgeschehens
im Rahmen der gesetzlichen Schüler-Unfallversicherung, Dissertation 1981, S 304). Dies wird dadurch unterstrichen, dass sich
auf dem Rückweg von der Schule bedeutend mehr Schülerunfälle im Zusammenhang mit der Benutzung eines Schulbusses ereignen
als auf dem Hinweg (Hilken, aaO, S 298). Dabei neigen gerade jüngere Schüler dazu, sich von ihrem Vorhaben, nach Hause zu
gelangen, ablenken zu lassen und an der falschen Bushaltestelle auszusteigen (Behrendt/Bigge, aaO, S 45; Doris Stecher, Die
Unfallversicherung für Schüler, Studierende und Kindergärten im Recht der "sozialen Sicherheit", Dissertation 1990, S 120).
Das Verhalten des Klägers stellt sich vor diesem Hintergrund als unmittelbare Nachwirkung des Schulbetriebs dar und entspricht
dem altersgemäßen Verhalten eines acht Jahre alten Kindes nach Schulschluss.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.