Anerkennung eines Wegeunfalls in der gesetzlichen Unfallversicherung beim Schulbesuch; ursächlicher Zusammenhang bei einer
sukzessiven Fahrgemeinschaft
Gründe:
I
Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung eines Arbeitsunfalls streitig.
Der Kläger und sein Bruder waren Schüler der Waldorfschule in T.. Am Morgen des 13.1.2005 brachte der Kläger seinen Bruder
mit dem Motorrad von der elterlichen Wohnung zu dem "An der Härenwies" gelegenen Parkplatz des Südbades. Von dort ging der
Bruder zu Fuß über einen für den Straßenverkehr gesperrten Weg zur Schule. Um zum Parkplatz zu gelangen war der Kläger von
dem üblicherweise genutzten Weg zur Schule abgewichen. Nachdem er den Bruder abgesetzt hatte, fuhr er zurück, um einen Schulfreund
am "Abteiplatz" abzuholen und mit diesem zur Schule zu fahren. Noch bevor der Kläger wieder den üblichen Schulweg erreicht
hatte, um zurück in Richtung der elterlichen Wohnung zum "Abteiplatz" zu fahren, stieß er mit einem Fußgänger zusammen. Dabei
zog er sich eine Schulterverletzung zu.
Die Beklagte entschädigte zunächst den Unfall, lehnte aber dann dessen Feststellung als Arbeitsunfall wegen eines nicht versicherten
Abweges ab (Bescheid vom 24.7.2007, Widerspruchsbescheid vom 22.11.2007). Das Sozialgericht Trier hat sie hierzu und zur weiteren
Entschädigung verurteilt (Urteil vom 3.4.2008). Das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (LSG) hat die Berufung der Beklagten
zurückgewiesen (Urteil vom 6.11.2008). Der Kläger sei als Mitglied einer Fahrgemeinschaft versichert gewesen. Eine Fahrgemeinschaft
setze nicht voraus, dass sämtliche Teilnehmer zumindest zeitweise gemeinsam das Fahrzeug benutzten. Da Versicherte in der
Wahl des Verkehrsmittels frei seien, könnten Mitfahrer auch sukzessiv mitgenommen werden. Der Versicherungsschutz sei weder
von der Länge des Um- oder Abweges noch davon abgängig, dass die Fahrgemeinschaft eine Energieeinsparung bewirke oder das
Unfallrisiko mindere. Ein Fahrdienst aus eigenwirtschaftlichen Motiven liege nicht vor.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des §
8 Abs
2 Nr
2 Buchst b Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (
SGB VII). Der Abweg sei nicht versichert gewesen, da auf ihm die Schule mit dem Motorrad nicht zu erreichen gewesen wäre. Infolgedessen
habe auch auf dem Rückweg kein Versicherungsschutz bestanden. Eine Fahrgemeinschaft scheitere schon daran, dass eine gemeinsame
Fahrt mit dem Bruder und dem Schulfreund nicht möglich gewesen wäre. Der Kläger habe einen Fahrdienst betrieben. Durch den
Abweg sei der Schulweg um ca ein Viertel verlängert worden.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung der Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 6. November 2008 und des Sozialgerichts Trier vom
3. April 2008 die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hat die Klage auf die Feststellung eines Arbeitsunfalls beschränkt und hält insoweit die angefochtene Entscheidung für
zutreffend.
II
Die zulässige Revision ist nicht begründet. Die Ablehnung der allein noch begehrten Feststellung eines Arbeitsunfalls im Bescheid
der Beklagten vom 24.7.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.11.2007 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger
in seinen Rechten. Er hat am 13.1.2005 einen Arbeitsunfall erlitten.
Nach §
8 Abs
1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§
2,
3 oder 6
SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit; Satz 1). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende
Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (Satz 2). Für einen Arbeitsunfall eines Versicherten ist danach
im Regelfall erforderlich, dass seine Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer
oder sachlicher Zusammenhang), sie zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis
- geführt (Unfallkausalität) und das Unfallereignis einen Gesundheitsschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat
(haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitsschadens (haftungsausfüllende
Kausalität) ist keine Bedingung für die Feststellung eines Arbeitsunfalls (vgl BSG vom 4.9.2007 - B 2 U 24/06 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 24 RdNr 9 mwN).
Diese Voraussetzungen sind nach den für den Senat bindenden (§
163 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) tatsächlichen Feststellungen des LSG erfüllt. Der Kläger war als Schüler der Waldorfschule während des Schulbesuchs
nach §
2 Abs
1 Nr
8 Buchst b
SGB VII versichert. Durch den Zusammenstoß hat er einen Unfall erlitten, der zu einer Schulterverletzung und damit einem Gesundheitsschaden
führte. Zur Zeit des Unfallereignisses ist er auch einer versicherten Tätigkeit nachgegangen. Versicherte Tätigkeit ist nach
§
8 Abs
2 Nr
1 SGB VII das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit.
Gemäß §
8 Abs
2 Nr
2 Buchst b
SGB VII ist zudem das Zurücklegen des von einem solchen Weg abweichenden Weges, um mit anderen Berufstätigen oder Versicherten gemeinsam
ein Fahrzeug zu benutzen, eine versicherte Tätigkeit. Eine solche Tätigkeit hat der Kläger zum Unfallzeitpunkt verrichtet.
Der Unfall hat sich nicht auf dem unmittelbaren Weg ereignet, den der Kläger zwischen der elterlichen Wohnung und der Schule
regelmäßig gefahren ist. Er war von dem direkten Weg nach dem Ort der Tätigkeit abgewichen, um zunächst seinen Bruder in die
Nähe der Schule zu bringen und danach den Schulfreund abzuholen, um mit diesem zur Schule zu fahren. Mit dem Schulfreund wollte
er gemeinsam das Motorrad benutzen, also eine Fahrgemeinschaft bilden. Unter einer Fahrgemeinschaft iS des §
8 Abs
2 Nr
2 Buchst b
SGB VII ist der (beabsichtigte) Zusammenschluss mehrerer Personen zur gemeinsamen Zurücklegung eines Weges mit nur einem Fahrzeug
zu verstehen. Der Schulfreund war als Schüler der Waldorfschule ebenso wie der Kläger nach §
2 Abs
1 Nr
8 Buchst b
SGB VII versichert.
An einer Abweichung vom unmittelbaren Weg fehlt es nicht deshalb, weil der Kläger zunächst mit ihr im Wesentlichen eigenwirtschaftliche
Zwecke verfolgt hätte (vgl hierzu BSG vom 22.11.1984 - 2 RU 41/83 - Juris RdNr 13 f). Die Fahrt mit dem Bruder zum Parkplatz des Südbades ist nicht dem privaten Lebensbereich des Klägers
zuzurechnen. Auch mit ihr wurde ein Weg iS des §
8 Abs
2 Nr
2 Buchst b
SGB VII zurückgelegt. Der Kläger und sein Bruder, der ebenfalls als Schüler der Waldorfschule nach §
2 Abs
1 Nr
8 Buchst b
SGB VII versichert war, nutzten gemeinsam das Motorrad, um einen Teil des Weges zur Schule zu fahren. Dass der Bruder den letzten
Teil des Weges zur Schule zu Fuß gegangen ist, steht der Annahme einer versicherten Fahrgemeinschaft nicht entgegen.
§
8 Abs
2 Nr
2 Buchst b
SGB VII geht auf die Vorläuferregelung des § 550 Abs 2 Nr 2
Reichsversicherungsordnung (
RVO) zurück. Nach dieser durch § 15 Nr 1 Buchst b des 17. Rentenanpassungsgesetzes vom 1.4.1974 (BGBl I 821) eingeführten Bestimmung war die Versicherung nicht ausgeschlossen,
wenn der Versicherte von dem unmittelbaren Weg zwischen der Wohnung und dem Ort der Tätigkeit abgewichen ist, weil er mit
anderen berufstätigen oder versicherten Personen gemeinsam ein Fahrzeug für den Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit benutzt
hat. Sie sollte zur Förderung von Fahrgemeinschaften beitragen und sicherstellen, dass der Unfallversicherungsschutz auf Umwegen
erhalten bleibt, die gemacht werden, weil mitfahrende Personen unterwegs aufgenommen oder abgesetzt werden (vgl BT-Drucks
7/1642 S 4 zu II 2). Es ist daher nicht erforderlich, dass die Teilnehmer einer Fahrgemeinschaft vom Ausgangspunkt aus mitfahren
und bis zum Ziel mitgenommen werden. Vielmehr genügt es, dass ein Teil des Weges mit Hilfe der Fahrgemeinschaft zurückgelegt
wird. Vorliegend zu verlangen, dass der Kläger seinen Bruder bis zur Schule hätte fahren müssen, würde auch dem Grundsatz
widersprechen, dass Versicherte für das Zurücklegen des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit in der Wahl des Verkehrsmittels
frei sind (vgl BSG vom 4.9.2007 - B 2 U 24/06 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 24 RdNr 19 mwN).
Der Fahrer einer Fahrgemeinschaft verliert nicht dadurch seinen Unfallversicherungsschutz, dass er eine Person zu dessen Zielort
bringt, um dann zu einer anderen Person zu fahren, um mit diesem eine weitere Fahrgemeinschaft zu bilden. Weder aus dem Wortlaut
des §
8 Abs
2 Nr
2 Buchst b
SGB VII noch den Materialien zur Vorläuferregelung des § 550 Abs 2 Nr 2
RVO (aaO) lässt sich eine Beschränkung auf die Beteiligung an nur einer Fahrgemeinschaft ableiten. Wie der Senat wiederholt betont
hat, begründet das Bestehen einer Fahrgemeinschaft aus sich heraus keinen neuen Versicherungsschutz. §
8 Abs
2 Nr
2 Buchst b
SGB VII erweitert den durch §
8 Abs
2 Nr
1 SGB VII zugebilligten Versicherungsschutz auf dem unmittelbaren Weg vom und nach dem Ort der Tätigkeit auf bestimmte Um- und Abwege,
die wegen des gemeinsamen Fahrens zu einer Erweiterung der Wegstrecke führen. Daher kommt es nicht entscheidend darauf an,
ob infolge der Mitnahme von versicherten Personen zunächst ein Weg in entgegengesetzter Richtung zum Zielort zurückgelegt
wird (vgl BSG vom 26.1.1988 - 2 RU 12/87 - SozR 2200 § 550 Nr 77 S 201 f; BSG vom 22.11.1984 - 2 RU 41/83 - Juris RdNr 14; BSG vom 8.12.1983 - 2 RU 75/82 - SozR 2200 § 550 Nr 60 S 150 f). Entscheidend ist vielmehr die Handlungstendenz der an einer Fahrgemeinschaft teilnehmenden
Personen, den Weg nach und von dem Ort der versicherten Tätigkeit zurückzulegen (vgl BSG vom 11.11.2003 - B 2 U 32/02 - NZS 2004, 660; BSG vom 8.12.1983 aaO S 151). Sowohl der Kläger als auch sein Bruder und Schulfreund verfolgten das Ziel, gemeinsam zur
Schule fahren zu wollen. Liegt diese Handlungstendenz vor, werden auch zwei nacheinander mit unterschiedlichen Teilnehmern
durchgeführte Fahrgemeinschaften ("sukzessive Fahrgemeinschaften"), bei denen sich die jeweils Mitfahrenden nicht sehen, die
aber - wie hier - in engem zeitlichen Zusammenhang mit einer den Versicherungsschutz nach §§
2,
3 oder 6
SGB VII begründenden Tätigkeit stehen, von der Regelung des §
8 Abs
2 Nr
2 Buchst b
SGB VII erfasst.
Daraus folgt nicht, dass ein Pendeln und wiederholtes Zurücklegen desselben Weges als versicherte Tätigkeit anzusehen wäre,
denn in einem solchen Fall hat der Fahrer sein Ziel bereits erreicht. Ein derartiges Verhalten des Klägers hat das LSG nicht
festgestellt. Nach den nicht angegriffenen und damit bindenden Feststellungen des LSG hatte der Kläger mit dem Absetzen seines
Bruders sein Fahrziel, die Waldorfschule, noch nicht erreicht.
Die Beklagte kann sich schließlich nicht darauf berufen, dass wegen des genutzten Motorrads eine gemeinsame Fahrt mit dem
Bruder und dem Schulfreund nicht möglich gewesen wäre und sich der Schulweg um ca ein Viertel verlängert hätte. Die Anzahl
der insgesamt an einer - ggf "sukzessiven Fahrgemeinschaft" - teilnehmenden Personen ist nicht durch das jeweils genutzte
Fahrzeug beschränkt. Im Hinblick darauf, dass mit §
8 Abs
2 Nr
2 Buchst b
SGB VII die Beteiligung an Fahrgemeinschaften gefördert werden und der Unfallversicherungsschutz auf Umwegen erhalten bleiben soll,
die dadurch bedingt sind, dass mitfahrende Personen unterwegs aufgenommen oder abgesetzt werden (vgl BT-Drucks aaO), müssen
sich nicht sämtliche Mitglieder der Fahrgemeinschaft für zumindest einen Teil des Weges gemeinschaftlich auf dem Weg zu ihrem
Ort der Tätigkeit befinden (vgl BSG vom 28.7.1982 - 2 RU 49/81 - BSGE 54, 46, 48 f = SozR 2200 § 550 Nr 51 S 127). Auch hängt der Unfallversicherungsschutz der Teilnehmer einer Fahrgemeinschaft nicht
von der Länge des Um- oder Abweges ab (BSG vom 11.11.2003 - B 2 U 32/02 R - NZS 2004, 660; BSG vom 28.7.1982 aaO S 128).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§
183,
193 SGG.