Kostenübernahme für Reha-Kinderwagen in der gesetzlichen Krankenversicherung
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten um die Gewährung eines Reha-Kinderwagens als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).
Die im Mai 1997 geborene Klägerin ist bei der beklagten Krankenkasse über ihren Vater familienversichert. Sie ist in ihrer
geistigen Entwicklung gestört und leidet an einer Erethie (Bewegungsdrang), die sich in extremer Unruhe und Konzentrationsschwäche
manifestiert. Sie kann für längere Dauer weder ruhig sitzen noch stehen oder gehen; außer Haus besteht ständig die Gefahr
des Davonlaufens. Dies bedingt eine akute Selbstgefährdung, weil die Klägerin im Straßenverkehr keinerlei Gefahrenbewusstsein
entwickeln kann. Zudem liegt eine Fehlstellung von Hüften und Beinen mit daraus resultierender starker Innenrotation der Füße
vor, was zu einem schnellen Ermüden und erhöhter Stolpergefahr führt. Seit 2003 besucht die Klägerin eine Schule für Körperbehinderte
(Sonderschule).
Im Januar 2001 beantragte die Klägerin unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung des Kinderarztes Dr. J. und eines Kostenvoranschlages
ihres Sanitätshauses die Versorgung mit einem Reha-Kinderwagen "Kimba" mit Zubehör - Straßengestell Größe I - zum Gesamtpreis
von 4.008,56 DM. Die Beklagte lehnte dies nach Einholung einer schriftlichen Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der
Krankenversicherung (MDK) mit Bescheid vom 27. Februar 2001 ab, weil ein Weglaufen des Kindes auch mit handelsüblichen Kinderwagen
oder -buggys verhindert werden könne. Hiergegen machte die Klägerin geltend, dass sie mit einem Alter von fast vier Jahren
und einer Körpergröße von über einem Meter keinen Kinderwagen oder -buggy mehr benutzen könne. Ohne das begehrte Hilfsmittel
könne sie wegen ihres unkontrollierbaren Bewegungsdrangs und der dadurch bedingten Gefahren keine Spaziergänge oder Ausflüge
unternehmen. Die Beklagte holte daraufhin eine weitere Stellungnahme des MDK ein, der darauf hinwies, dass ein Reha-Kinderwagen
in erster Linie bei schweren Gangstörungen indiziert sei; eine solche liege hier jedoch nicht vor. Die Klägerin könne auf
einen sog Baby-Jogger verwiesen werden. Mit Bescheid vom 17. April 2001 lehnte die Beklagte die begehrte Hilfsmittelversorgung
erneut ab. Den gegen beide Bescheide gerichteten Widerspruch wies die Beklagte nach Einholung einer weiteren Stellungnahme
von Dr. J. mit Widerspruchsbescheid vom 22. Oktober 2001 zurück.
Das Sozialgericht (SG) hat schriftliche Auskünfte von Dr. J. , Dr. L. und Dr. B. eingeholt und die Klage sodann
mit Urteil vom 19. August 2002 abgewiesen. Mit dem begehrten Hilfsmittel werde keine Erweiterung des geistigen oder körperlichen
Freiraums der Klägerin angestrebt, sondern eine Entlastung der jeweiligen Begleitperson, der die Beaufsichtigung erleichtert
werde; eine eigenständige Teilnahme an den Aktivitäten Gleichaltriger werde nicht ermöglicht. Dagegen hat die Klägerin Berufung
eingelegt.
Am 9. Oktober 2002 beantragte die Klägerin außerdem erneut unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung des Kinderarztes Dr.
J. und eines Kostenvoranschlages ihres Sanitätshauses die Versorgung mit einem Reha-Kinderwagen "Kimba" mit Zubehör
- nunmehr Straßengestell Größe II - zum Gesamtpreis von 2.666,01 EUR. Mit Schreiben vom 3. Januar 2003 lehnte die Beklagte
dies ab, da es sich wie beim Erstantrag um dasselbe Hilfsmittel mit lediglich geringfügigen Änderungen bei der Ausstattung
handele; die Klägerin möge den Ausgang des Klageverfahrens abwarten. Einen weiteren Antrag der Klägerin vom 9. Juli 2004 (Kosten
nunmehr: 2.801,97 EUR) hat die Beklagte unter Hinweis auf das laufende Gerichtsverfahren nicht beschieden.
Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG geändert und die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, die Klägerin mit einem Reha-Kinderwagen
"Kimba" nebst Zubehör zu versorgen (Urteil vom 18. Juni 2004). Das streitige Hilfsmittel sei zum Ausgleich einer Behinderung
der Klägerin erforderlich und betreffe das Grundbedürfnis des Gehens, Laufens und Stehens. Zwar könne sich die Klägerin selbstständig
von einem Ort zum anderen fortbewegen, dies aber wegen ihrer kognitiven Entwicklung nicht zielgerichtet und unbehindert tun.
Wegen des extremen Bewegungsdrangs und des fehlenden Gefahrenbewusstseins sei sie ohne den Einsatz des Reha-Kinderwagens schon
im Nahbereich der Wohnung von sämtlichen Aktivitäten ausgeschlossen. Dass das Hilfsmittel seinem Verwendungszweck nach auf
Personen mit schweren Gang- oder Bewegungsstörungen zugeschnitten sei, stehe nicht entgegen, denn der vorliegende Fall zeige,
dass damit auch ein an sich gehfähiges Kind in die Lage versetzt werden könne, Wegstrecken außer Haus zurückzulegen und seine
Grundbedürfnisse zu befriedigen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte einen Verstoß gegen §
33 Abs
1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung - (
SGB V), da sie eine Versicherte mit einem Hilfsmittel ausstatten müsse, das üblicherweise Gehbehinderten zur Erschließung eines
gewissen körperlichen Freiraums diene, aber im konkreten Fall nutzungsfremd zur Einschränkung des natürlichen Bewegungsdrangs
eines Kindes (Fixierung) eingesetzt werde (sog "off-label-use"). Das begehrte Hilfsmittel diene nicht der Verschaffung eines
körperlichen oder geistigen Freiraums, sondern schränke diesen im Gegenteil ein. Die Klägerin besitze gute motorische Fähigkeiten,
die sie allerdings entsprechend ihrem geistigen Entwicklungsstand nicht sinnvoll und zielgerichtet einsetzen könne. Durch
den Reha-Kinderwagen werde sie lediglich ruhig gestellt, um nicht in der Schule zu stören. Das Hilfsmittel sei deshalb möglicherweise
aus sozialen Gründen zweckmäßig, aber nicht aus medizinischen Gründen zum Ausgleich eines Funktionsdefizits notwendig. Außerdem
sei eine familiengerichtliche Genehmigung zur Fixierung der Klägerin erforderlich.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18. Juni 2004 zu ändern und die Berufung der Klägerin gegen das
Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19. August 2002 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Sie verteidigt das Urteil des LSG und weist ergänzend darauf hin, dass es nicht allein um eine Ruhigstellung in der Schule
gehe. Durch die Fixierung im Reha-Kinderwagen werde sie überhaupt erst in die Lage versetzt, Informationen mit der nötigen
Ruhe aufzunehmen und mit anderen zu kommunizieren.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§
124 Abs
2 Sozialgerichtsgesetz >SGG<) einverstanden erklärt.
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Zu Recht hat das LSG die Entscheidung des SG geändert und die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, die Klägerin mit einem Reha-Kinderwagen
"Kimba" nebst Zubehör zu versorgen.
1. Die beklagte Krankenkasse hat die ihr obliegende Sachleistung "Reha-Kinderwagen" zu Unrecht abgelehnt. Versicherte haben
nach §
33 Abs
1 Satz 1
SGB V in der Fassung des Art 5 Nr 9 iVm Art 67 des Gesetzes vom 19. Juni 2001 (BGBl I S 1046) Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen
und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1. Alternative),
einer drohenden Behinderung vorzubeugen (2. Alternative) oder eine Behinderung auszugleichen (3. Alternative), soweit die
Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach §
34 Abs
4 SGB V ausgeschlossen sind. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung der GKV auch, müssen die Leistungen nach §
33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die
nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken
und die Krankenkasse nicht bewilligen (§
12 Abs
1 SGB V).
Im vorliegenden Fall geht es um die Frage eines Behinderungsausgleichs, der von der 3. Alternative des §
33 Abs
1 Satz 1
SGB V erfasst wird. Nach dieser Vorschrift besteht ein Anspruch auf das begehrte Hilfsmittel, weil es erforderlich ist, um das
Gebot eines möglichst weit gehenden Behinderungsausgleichs zu erfüllen. Gegenstand des Behinderungsausgleichs sind zunächst
solche Hilfsmittel, die auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet sind, also zum unmittelbaren Ersatz der ausgefallenen
Funktionen dienen (BSGE 37, 138, 141 = SozR 2200 § 187 Nr 1; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 18 S 88 und Nr
20 S 106). Der in §
33 Abs
1 Satz 1
SGB V genannte Zweck des Behinderungsausgleichs umfasst jedoch auch solche Hilfsmittel, die die direkten und indirekten Folgen
einer Behinderung ausgleichen. Ein Hilfsmittel ist von der GKV immer dann zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung
im täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis betrifft. Nach der ständigen Rechtsprechung (vgl BSGE
93, 176 = SozR 4-2500 § 33 Nr 7 jeweils RdNr 12 und BSGE 91, 60 = SozR 4-2500 § 33 Nr 3 jeweils RdNr 9 mwN; vgl auch Höfler, Kasseler Kommentar Band 1, Stand: Juni 2005, §
33 SGB V RdNr 11 ff mwN aus der Rspr) gehören zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören,
Nahrungsaufnehmen, Ausscheiden, (elementare) Körperpflegen, selbstständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen
und geistigen Freiraums im Nahbereich der Wohnung und das Bedürfnis, bei Krankheit oder Behinderung Ärzte und Therapeuten
aufzusuchen.
a) Im Falle der Klägerin ist das elementare Grundbedürfnis der "Bewegungsfreiheit" betroffen, das bei Gesunden durch die Fähigkeit
des Gehens, Laufens, Stehens usw sichergestellt wird (vgl BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 7 - Rollstuhlboy). Ist diese Fähigkeit durch
eine Behinderung beeinträchtigt, so richtet sich die Notwendigkeit eines Hilfsmittels in erster Linie danach, ob dadurch der
Bewegungsradius in einem Umfang erweitert wird, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreicht. Hier besteht jedoch die
Besonderheit, dass die Klägerin nach den nicht mit Revisionsrügen angegriffenen und deshalb für den Senat bindenden (§
163 SGG) Feststellungen des LSG zwar an einer Fehlstellung der Hüften und Beine leidet und dadurch zu starkem Stolpern neigt, auf
Grund ihrer motorischen Fähigkeiten aber durchaus in der Lage ist, sich selbstständig von einem Ort zum anderen zu verändern.
Das genannte Grundbedürfnis ist nur insoweit tangiert, als sie auf Grund ihrer kognitiven Entwicklung, der ständigen Unruhe
und des extremen Bewegungsdrangs, verbunden mit einem fehlenden Gefahrenbewusstsein, nicht fähig ist, sich außer Haus im Nahbereich
zielgerichtet und ungefährdet zu bewegen. Damit wird aber auch das Grundbedürfnis des "Erschließens eines gewissen körperlichen
und geistigen Freiraums" betroffen, das die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben umfasst (BSGE 66, 245, 246 = SozR 3-2500 § 33 Nr 1; vgl auch SozR 3-2500 § 33 Nr 7 und SozR 2200 § 182b Nr 12, 29, 33, 34 und 37). Nach den Feststellungen
des LSG ist die Klägerin auf Grund ihrer Behinderung von nahezu sämtlichen Aktivitäten außer Haus ausgeschlossen, wie etwa
kurzen Spaziergängen, Unternehmungen mit ihren Geschwistern im Kreise der Familie oder Begegnungen mit gleichaltrigen Freunden.
Durch das begehrte Hilfsmittel werden ihr Aktivitäten im Nahbereich der Wohnung sowie im Umgang mit anderen Menschen ermöglicht,
die ihr ansonsten nicht oder nur unter erheblicher Gefährdung ihrer Gesundheit möglich wären. Dieser zusätzlich gewonnene
Freiraum rechnet zu den Grundbedürfnissen.
b) Der Senat hat schon in früheren Entscheidungen darauf hingewiesen, dass §
33 Abs
1 Satz 1
SGB V die Erforderlichkeit des Hilfsmittels "im Einzelfall" verlangt - es ist also auf die individuellen Verhältnisse des Betroffenen
und die Umstände des konkreten Einzelfalles abzustellen. Die Zuordnung bestimmter Betätigungen zu den Grundbedürfnissen hängt
ua auch vom Lebensalter des Betroffenen ab. Besondere Umstände hat der Senat zB bei einem querschnittsgelähmten Jugendlichen
angenommen, der auf den Rollstuhl angewiesen war (SozR 3-2500 § 33 Nr 27 - Rollstuhl-Bike für Jugendliche; zur vergleichbaren
Ermöglichung des Schulbesuchs vgl SozR 2200 § 182b Nr 13 - Faltrollstuhl). Die Notwendigkeit der Hilfsmittelversorgung ergab
sich hier nicht aus der rein quantitativen Erweiterung des Bewegungsradius, sondern aus dem Gesichtspunkt der Integration
behinderter Jugendlicher in das Lebensumfeld nichtbehinderter Gleichaltriger sowie der Ermöglichung des Schulbesuches. Der
durch die Hilfsmittelversorgung anzustrebende Behinderungsausgleich ist also auf eine möglichst weit gehende Eingliederung
des behinderten Kindes bzw Jugendlichen in den Kreis Gleichaltriger ausgerichtet. Er setzt nicht voraus, dass das begehrte
Hilfsmittel nachweislich unverzichtbar ist, eine Isolation des Kindes zu verhindern. Denn der Integrationsprozess ist ein
multifaktorielles Geschehen, bei dem die einzelnen Faktoren nicht isoliert betrachtet und bewertet werden können. Es reicht
deshalb aus, wenn durch das begehrte Hilfsmittel die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wesentlich gefördert
wird (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 46). So liegt es hier. Zwar wird durch die Benutzung des Reha-Kinderwagens gleichzeitig auch
die Bewegungsfreiheit der Klägerin eingeschränkt und ihr damit ein Stück Eigenständigkeit genommen. Angesichts ihrer konkreten
Behinderung dienen diese Beschränkungen jedoch gerade dazu, ihr beim Verlassen des häuslichen Umfeldes Möglichkeiten zu eröffnen,
die sie ansonsten kaum in Anspruch nehmen könnte; erst durch die Einschränkung des Bewegungsdrangs wird ihre Bewegungsfreiheit
gesichert und das Erschließen eines gewissen körperlichen Freiraums ermöglicht.
c) Von der Konzeption her ist das begehrte Hilfsmittel - im Hilfsmittelkatalog der GKV unter der Position 18.99.01.2014 aufgeführt
- zwar zuvorderst darauf zugeschnitten, einen Behinderungsausgleich bei nicht gehfähigen oder erheblich gehbehinderten Kindern
herbeizuführen. Damit erschöpft sich der Verwendungsbereich des Reha-Kinderwagens jedoch nicht, denn wie gerade der vorliegende
Fall zeigt, kann er auch die Sicherheit extrem motorischer Kinder mit stark eingeschränktem Gefahrenbewusstsein garantieren,
die ohne ein solches Hilfsmittel nicht in der Lage wären, Grundbedürfnisse außerhalb des häuslichen Bereichs gefahrlos zu
befriedigen. Eine Reduzierung des Hilfsmittels allein auf die Verwendung bei nicht gehfähigen oder gehbehinderten Kindern
- wie es die Beklagte sieht - ist nicht gerechtfertigt, weil es nicht auf die Eignung eines Hilfsmittels im Allgemeinen, sondern
im jeweiligen Einzelfall ankommt.
Entgegen der Ansicht der Beklagten ist die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum sog "off-label-use" im vorliegenden
Fall nicht einschlägig. Danach kann ein zugelassenes Arzneimittel grundsätzlich nicht zu Lasten der Krankenversicherung in
einem Anwendungsgebiet verordnet werden, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt - es sei denn, bei einer schweren Krankheit
gibt es keine Behandlungsalternative und nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis besteht die begründete Aussicht,
dass mit dem Medikament ein Behandlungserfolg erzielt werden kann (vgl BSGE 89, 184 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8). Die Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis der GKV ist schon nicht mit einer arzneimittelrechtlichen
Zulassung vergleichbar. Die arzneimittelrechtliche Zulassung dient in erster Linie der präventiven Abwehr von Gefahren durch
nicht erprobte Arzneimittel. Die Zulassung erfolgt deshalb nur für die Indikationen, für die das Arzneimittel hinreichend
auf seine Unbedenklichkeit getestet worden ist. Bei Hilfsmitteln wird die Gefahrenabwehr dadurch gewährleistet, dass sie vor
Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis ihre Funktionstauglichkeit und Qualität nachzuweisen haben (§
139 Abs
2 Satz 1
SGB V). Dazu gehört auch die Erfüllung der Voraussetzung für das Inverkehrbringen von Medizinprodukten nach dem Medizinproduktegesetz - sog CE-Kennzeichnung -. Das hier streitige Hilfsmittel ist in das Hilfsmittelverzeichnis eingetragen worden; seine hinreichende
Sicherheit ist damit belegt, soweit es vorschriftsmäßig benutzt wird. Auch wenn die Benutzung des Reha-Kinderwagens aus anderen
medizinischen Gründen als üblich erfolgt, bleibt die Art der Benutzung dennoch die gleiche. In allen Fällen geht es um den
bloßen Behinderungsausgleich, sodass ein therapeutischer Nutzen nicht weiter zu prüfen ist. Ein höheres Gefahrenpotenzial
ist damit nicht verbunden.
d) Der vorstehenden Beurteilung steht die Entscheidung des Senats vom 26. März 2003 (SozR 4-2500 § 33 Nr 2 - Therapie-Tandem)
nicht entgegen. In dem damals zu bewertenden Fall ist der krankhaft übersteigerte Bewegungsdrang eines Kindes nicht als Grundbedürfnis
anerkannt worden, dessen Befriedigung ein Hilfsmittel der GKV im Wege des Behinderungsausgleichs dienen kann; es kam dort
aber eine Versorgung zur Sicherung der ärztlichen Behandlung - also eine therapeutische Wirkung - in Betracht. Hier handelt
es jedoch nicht um die Behandlung eines überschießenden Bewegungsdrangs der Klägerin, sondern um dessen Ausgleich; das Hilfsmittel
soll ihr trotz ihrer extremen Motorik eine ausreichende Bewegungsfreiheit sichern und das Erschließen eines gewissen körperlichen
Freiraums ermöglichen.
e) Der Hilfsmitteleigenschaft steht schließlich auch nicht entgegen, dass das begehrte Hilfsmittel nur unter Einschaltung
Dritter genutzt werden kann (hierzu eingehend BSG SozR 2200 § 182b Nr 20; vgl zuletzt BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 7 S 28). Maßgeblich
ist allein, dass die Klägerin durch den Reha-Kinderwagen - wenn auch mit fremder Hilfe - ihre Bewegungsfreiheit sichern und
sich einen gewissen körperlichen und geistigen Freiraum erschließen kann. Deshalb spielt es auch keine Rolle, dass das begehrte
Hilfsmittel - als Nebeneffekt - der Entlastung der jeweiligen Begleitperson dient und eine Hilfe für den Begleiter ist; die
Hilfsmitteleigenschaft entfällt nicht deshalb, weil das Hilfsmittel gleichzeitig die Pflege durch Dritte erleichtert (BSG
aaO).
f) Die begehrte Hilfsmittelversorgung ist ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich; sie überschreitet das Maß des Notwendigen
nicht (§
12 Abs
1 SGB V). Nach den Feststellungen des LSG war es der Klägerin mit einem Alter von fast vier Jahren und einer Körpergröße von über
einem Meter bereits im Zeitpunkt des Verwaltungsverfahrens nicht mehr möglich, einen Kinderwagen oder -buggy zu benutzen.
Auch der von der Beklagten später angebotene Baby-Jogger stellt keine ausreichende und zweckmäßige Alternative dar, weil dieser
nicht auf die Körpergröße und die Beinlänge der inzwischen herangewachsenen Klägerin zugeschnitten ist. Unter Beachtung der
Behinderung der Klägerin und ihrer Lebenssituation steht auch kein weniger aufwändiges Hilfsmittel zur Verfügung. Anhaltspunkte
dafür, dass eine preiswertere - aber ebenso geeignete - Alternative hätte gewählt werden können, sind weder ersichtlich noch
von der Beklagten vorgetragen worden. Der Reha-Kinderwagen ist zudem nicht als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen
Lebens anzusehen oder nach §
34 Abs
4 SGB V von der Hilfsmittelversorgung ausgeschlossen.
2. Zu Unrecht verlangt die Beklagte vorab eine familiengerichtliche Genehmigung zur Fixierung der Klägerin. Zwar ist nach
§
1631b Satz 1
Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB) die Unterbringung eines Kindes, die mit einer Freiheitsentziehung verbunden ist, grundsätzlich nur mit Genehmigung des Familiengerichts
zulässig; dies soll auch unterbringungsähnliche Maßnahmen nach §
1906 Abs
4 BGB mit umfassen, also die regelmäßige oder über einen längeren Zeitraum andauernde Freiheitsentziehung durch mechanische Vorrichtungen,
Medikamente oder andere Handlungsweisen (Palandt-Diederichsen,
BGB, 64. Aufl 2005, §
1631b RdNr
4 mwN). Durch die Genehmigungspflicht nach §§ 1631b Satz 1, 1906 Abs 4
BGB wird die körperliche Bewegungs- und Entschließungsfreiheit zur Fortbewegung im Sinne der Freiheit der Aufenthaltsbestimmung
geschützt; es soll verhindert werden, dass eine mit Freiheitsentziehung oder gravierenden Freiheitsbeschränkungen verbundene
Fixierung des Kindes an einem bestimmten Ort ohne gerichtliche Kontrolle vorgenommen wird (Palandt-Diederichsen aaO § 1631b
RdNr 1 und § 1906 RdNr 17 - jeweils mwN). Diese Voraussetzungen sind vorliegend aber nicht erfüllt. Es liegt schon nicht die
vom Gesetz geforderte Unterbringung bzw ein Aufenthalt der Klägerin in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung
vor. Die Klägerin lebt und wohnt durchgängig in ihrer Familie; sie ist in das normale Familienleben eingebunden und keinem
anderweitigen Aufenthaltsort zwangsweise zugewiesen. Für diesen Personenkreis ist die familiengerichtliche Genehmigungspflicht
nicht vorgesehen (Palandt-Diederichsen aaO § 1906 RdNr 23 mwN). Zudem soll das Hilfsmittel hier gerade keine Freiheitsbeschränkung
bewirken, sondern den eigenständigen Freiraum der Klägerin erst gewährleisten - das Ziel der Hilfsmittelversorgung verfolgt
das genaue Gegenteil zu der in §§ 1631b Satz 1, 1906 Abs 4
BGB geregelten unterbringungsähnlichen Maßnahme. Im Übrigen hat auch der Gesetzgeber selbst schon bei der Konzeption der §§ 1631b,
1906
BGB deutlich gemacht, dass eine unterbringungsähnliche Maßnahme nur vorliegt, wenn sie darauf abzielt, den Betroffenen am Verlassen
des Aufenthaltsorts zu hindern; deshalb fallen zB Medikamente, die den Bewegungsdrang einschränken, nicht unter die familiengerichtliche
Genehmigungspflicht (BT-Drucks 11/4528 S 149).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.