Krankenversicherung
Aufnahme eines Handbikes in das Hilfsmittelverzeichnis
Speedy-Duo 2
Grundbedürfnis der Erschließung des Nahbereichs
Keine Erschließung des Nahbereichs mit über Schrittgeschwindigkeit liegender Geschwindigkeit
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über die Aufnahme eines Handbikes in das Hilfsmittelverzeichnis (HMV).
Die klagende GmbH stellt Rollstuhlzuggeräte und Handbikes her, ua das "Speedy-Duo 2". Dabei handelt es sich um ein Handbike,
das als Einhängefahrrad vor den Rollstuhl gespannt und vom Rollstuhlfahrer mit einer Handkurbel manuell angetrieben wird.
Es ist zudem mit einem Elektromotor ausgestattet, der in der einen Ausführung Geschwindigkeiten von 10 km/h, in der anderen
von 14 km/h unterstützt. Der Rollstuhlfahrer kann den Motor zuschalten, um seinen Kraftaufwand zu senken; der manuelle Antrieb
bleibt aber auch dann erforderlich.
Die Rechtsvorgänger des beklagten Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) lehnten die im August 2002
beantragte Aufnahme des "Speedy-Duo 2" in das HMV - auch nach Widerspruch der Klägerin - ab, weil die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) nur für einen Basisausgleich der
Behinderung zuständig sei. Das Grundbedürfnis nach Fortbewegung und Mobilität umfasse lediglich die Möglichkeit, Entfernungen
zu überwinden, die ein Gesunder üblicherweise zu Fuß zurücklege. Das Radfahren könne zwar zu den Grundbedürfnissen von Kindern
gehören, nicht aber von Erwachsenen. Die Klägerin habe jedoch keine Nachweise dazu erbracht, dass das "Speedy-Duo 2" für den
Einsatz bei Kindern bestimmt und geeignet sei (Bescheid vom 11.5.2007; Widerspruchsbescheid vom 22.11.2007).
Im Klageverfahren hat die Klägerin geltend gemacht, das "Speedy-Duo 2" sei speziell für die Bedürfnisse behinderter Menschen
entwickelt worden und daher ein Hilfsmittel im Sinne der GKV. Behinderte Menschen könnten sich damit unabhängig von ihrem
Alter den Nahbereich erschließen. Funktionstauglichkeit, Sicherheit und Qualität des Produktes seien durch die vorhandene
CE-Kennzeichnung nachgewiesen. Es sei grundsätzlich unschädlich, wenn ein Hilfsmittel auch für weitere Strecken oder höhere
Geschwindigkeiten geeignet sei als diejenige, die ein Gesunder zu Fuß erreiche.
Das SG hat den Beklagten unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide antragsgemäß verurteilt. Der Anspruch auf Aufnahme des
"Speedy-Duo 2" in das HMV ergebe sich aus §
139 Abs
1 S 2
SGB V. Die Versorgung mit einem solchen Gerät könne im Einzelfall der Befriedigung von Grundbedürfnissen im Rahmen des mittelbaren
Behinderungsausgleichs dienen, weil auf einen Rollstuhl angewiesene Versicherte sich damit den Nahbereich erschließen könnten.
Eine Fahrrad-Rollstuhl-Kombination, die eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität ermögliche, komme für Erwachsene,
deren Bewegungsfreiheit mit einem Greifreifenrollstuhl nicht hinreichend sichergestellt sei, als Alternative zum Elektrorollstuhl
in Betracht. Die Erforderlichkeit im Einzelfall spiele für die Aufnahme eines Hilfsmittels in das HMV keine Rolle. Funktionstauglichkeit, Sicherheit und Qualitätsanforderungen seien hinreichend nachgewiesen. Der Beklagte müsse
ggf neue Produktgruppen im HMV schaffen, soweit die vorhandenen unpassend seien (Urteil vom 16.12.2010).
Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG dieses Urteil geändert und die Klage abgewiesen: Die Klägerin habe einen Anspruch
auf Aufnahme des "Speedy-Duo 2" in das HMV weder für die Variante, mit der 10 km/h, noch für die, mit welcher 14 km/h unterstützt werden. Dort seien lediglich "von
der Leistungspflicht umfasste Hilfsmittel" aufzuführen. In generalisierender Betrachtungsweise ermögliche das Hilfsmittel
behinderten Menschen jedoch eine Mobilität, für welche die GKV nicht einstehen müsse und die deren Leistungspflicht überschreite.
Eine Aufnahme des "Speedy-Duo 2" in das HMV sei mit dessen Charakter und Funktion als Auslegungs- und Orientierungshilfe für die Krankenkassen und die Leistungserbringer
nicht zu vereinbaren. Denn dadurch werde der Eindruck vermittelt, das Hilfsmittel sei regelmäßig von der Leistungspflicht
der GKV umfasst (Urteil vom 8.12.2015).
Mit der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von §
139 Abs
1 S 2
SGB V iVm Abs
4 SGB V. Das "Speedy-Duo 2" sei geeignet, einem auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesenen Versicherten den Nahbereich zu erschließen,
den nichtbehinderte Menschen üblicherweise zu Fuß erreichten. Es diene damit der Befriedigung von Grundbedürfnissen im Rahmen
des mittelbaren Behinderungsausgleichs. Hilfsmittel, die dem Versicherten eine über diesen Nahbereich hinausgehende Mobilität
ermöglichten, seien im Einzelfall von der Krankenkasse zu gewähren, wenn besondere qualitative Momente dieses "Mehr" an Mobilität
erforderten. Der Anspruch eines Herstellers auf Aufnahme seines Produktes in das HMV bestehe unabhängig von seiner Erforderlichkeit im Einzelfall. Das "Speedy-Duo 2" erfordere immer einen manuellen Antrieb
durch den Versicherten und sei daher mit einem Rollstuhlbike ohne elektrische Unterstützung oder mit einem Aktivrollstuhl
vergleichbar. Denn es seien - unabhängig von der Begrenzung der motorisch unterstützten Höchstgeschwindigkeit auf 6, 10, 12
oder 14 km/h - je nach Kraftaufwand auch höhere Geschwindigkeiten erreichbar. Der Beklagte dürfe nicht in den Wettbewerb der
Hilfsmittelhersteller eingreifen und die Entwicklung neuer Produkte behindern.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8. Dezember 2015 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen
das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 16. Dezember 2010 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Er schließt sich den Entscheidungsgründen des Berufungsgerichts an und führt ergänzend aus, für die Aufnahme in das HMV komme es ua auf die objektive Eignung und Erforderlichkeit des Hilfsmittels zur Erreichung der in §
33 Abs
1 S 1
SGB V genannten Versorgungsziele an. Ein Rollstuhlbike sei grundsätzlich nicht erforderlich und deshalb auch nicht ins HMV aufzunehmen. Bei allen elektromotorischen Antrieben von Behindertenfahrzeugen, die im HMV aufgeführt seien, sei eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 6 km/h vorgesehen, was einem schnellen Gehtempo eines nicht behinderten
Menschen entspreche. Motorunterstützte darüber hinausgehende Geschwindigkeiten seien im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs
nicht als Basisausgleich geschuldet.
II
Die zulässige Revision der klagenden Herstellerin von Rollstuhlzuggeräten und Handbikes ist unbegründet. Die Rechtsvorgänger
des beklagten GKV-Spitzenverbandes und das Berufungsgericht haben die Aufnahme des "Speedy-Duo 2" ins HMV zu Recht abgelehnt.
1. Die Klägerin hat die Aufnahme des Handbikes "Speedy-Duo 2" in das HMV zu Recht im Wege der gegen den Beklagten gerichteten kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§
54 Abs
4 SGG) geltend gemacht. Die Entscheidung über einen Antrag auf Eintragung erfolgt durch einen Bescheid bzw Verwaltungsakt (vgl
§
139 Abs
6 S 3 und 4
SGB V idF des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes [GKV-WSG] vom 26.3.2007, BGBl I 378; zur früheren Rechtslage ebenso bereits BSGE
87, 105, 106 = SozR 3-2500 § 139 Nr 1 S 3). Der Beklagte ist seit 1.7.2008 als Funktionsnachfolger der früheren Spitzenverbände der
Krankenkassen für die Führung des HMV zuständig (§
139 Abs
1 S 1
SGB V). Im gerichtlichen Verfahren ist damit kraft Gesetzes ein Beteiligtenwechsel eingetreten (§
202 SGG iVm §§
239 ff
ZPO; vgl hierzu BSGE 62, 269, 271 = SozR 1200 §
48 Nr 14 S 72).
2. Die Klägerin hat aber keinen Anspruch auf Aufnahme des "Speedy-Duo 2" in das HMV, weil die gesetzlichen Voraussetzungen dafür (dazu a) nicht erfüllt sind (dazu b bis g).
a) Anspruchsgrundlage hierfür ist §
139 Abs
1 S 2
SGB V iVm §
139 Abs
3 und
4 SGB V (mW ab 1.4.2007 idF von Art 2 Nr 26 Buchst a GKV-WSG). Auf die bei Antragstellung der Klägerin im Jahr 2002 stattdessen noch geltende Regelung des §
128 S 2
SGB V aF (idF von Art 1 des Gesundheits-Reformgesetzes vom 20.12.1988, BGBl I 2477), die mit §
139 Abs
1 S 2
SGB V im Wesentlichen inhaltsgleich war, kommt es hingegen nicht an. Dem steht zum einen der Charakter des ausschließlich an der
objektiven Rechtslage orientierten HMV entgegen (vgl hierzu zuletzt BSGE 121, 230 = SozR 4-2500 § 139 Nr 8, RdNr 19 mwN), zum anderen ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei der kombinierten
Anfechtungs- und Leistungsklage die letzte mündliche Verhandlung in der Tatsacheninstanz, (vgl hierzu allgemein zB Keller
in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl 2017, §
54 RdNr 34, 40b).
Nach §
139 Abs
1 S 2
SGB V sind im HMV "von der Leistungspflicht umfasste Hilfsmittel" aufzuführen. Die Aufnahme eines Hilfsmittels in das HMV erfolgt auf Antrag des Herstellers (§
139 Abs
3 SGB V). Nach §
139 Abs
4 SGB V ist ein Hilfsmittel in das HMV aufzunehmen, wenn der Hersteller die Funktionstauglichkeit und Sicherheit, die Erfüllung der Qualitätsanforderungen nach
Abs 2 und, soweit erforderlich, den medizinischen Nutzen nachgewiesen hat und es mit den für eine ordnungsgemäße und sichere
Handhabung erforderlichen Informationen in deutscher Sprache versehen ist.
Unabhängig vom Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen nach §
139 Abs
3 und
4 SGB V ist das "Speedy-Duo 2" schon deshalb nicht in das HMV aufzunehmen, weil es sich nicht um ein von der Leistungspflicht der GKV umfasstes Hilfsmittel iS von §
139 Abs
1 S 2
SGB V handelt. Zwar werden auch Hilfsmittel, die dem Versicherten im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs (dazu b und
c) eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität ermöglichen und daher nur im Einzelfall bei Vorliegen besonderer qualitativer
Momente vom Versorgungsanspruch umfasst sind (dazu d), in das HMV aufgenommen (dazu e). Unabhängig von der medizinischen Indikation und den Grundbedürfnissen im Einzelfall überschreitet jedoch
die motorunterstützte Leistungsfähigkeit des "Speedy-Duo 2" in beiden hier im Streit stehenden Ausführungen das Maß des Notwendigen
(dazu f). Versicherte können solche Hilfsmittel zwar ggf nach §
33 Abs
1 S 5
SGB V unter Tragung der Mehrkosten und der dadurch bedingten höheren Folgekosten wählen; solche Hilfsmittel sind aber nicht ins
HMV aufzunehmen (dazu g).
b) Der Anspruch eines Herstellers - wie der Klägerin - auf Aufnahme eines von ihm produzierten Hilfsmittels in das HMV ist schon nach dem Wortlaut des §
139 Abs
1 S 2
SGB V auf "von der Leistungspflicht umfasste Hilfsmittel" beschränkt. Dadurch wird auch für das - im vorliegenden Rechtsstreit
betroffene - Leistungserbringungsrecht unmittelbar an das für die GKV geltende Leistungsrecht, dh an §
33 SGB V und §
31 SGB IX idF vom 19.6.2001 angeknüpft. Nach §
33 Abs
1 S 1
SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die
im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder
eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen
oder nach §
34 Abs
4 SGB V ausgeschlossen sind. Für Hilfsmittel im Sinne des - für die Krankenkassen gleichermaßen bedeutsamen - Rechts der Rehabilitation
und Teilhabe behinderter Menschen (vgl §
6 Abs
1 Nr
1 iVm §
5 Nr
1 SGB IX) konkretisiert §
31 Abs
1 SGB IX idF vom 19.6.2001 den Anspruch weitgehend inhaltsgleich. Soweit das Hilfsmittel nicht dazu dient, die beeinträchtigte Körperfunktion
unmittelbar wieder herzustellen oder auszugleichen, ist es nach ständiger Rechtsprechung des Senats im Rahmen eines nur die
Folgen der Behinderung betreffenden, mittelbaren Behinderungsausgleichs von der GKV allerdings nur zu gewähren, wenn es die
Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des
täglichen Lebens betrifft. Dazu gehören das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnehmen, Ausscheiden,
die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums
(stRspr vgl zB BSGE 108, 206 = SozR 4-2500 § 33 Nr 34, RdNr 32; BSG Urteil vom 18.5.2011 - B 3 KR 12/10 R - Juris RdNr 13; BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 33 RdNr 13 ff, jeweils mwN).
c) Das "Speedy-Duo 2" soll im Bereich des mittelbaren Behinderungsausgleichs zum Einsatz kommen, denn es ermöglicht nicht
das Gehen selbst, sondern setzt bei den Folgen und Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung der Beine an.
Der mit dem "Speedy-Duo 2" angestrebte Behinderungsausgleich betrifft das Bedürfnis auf Erschließung eines körperlichen Freiraums.
Als Grundbedürfnis umfasst dieses die Bewegungsmöglichkeit in der eigenen Wohnung und im umliegenden Nahbereich mit einem
Bewegungsradius, den ein nicht behinderter Mensch üblicherweise zu Fuß zurücklegt oder der mit einem vom behinderten Menschen
selbst betriebenen Aktivrollstuhl erreicht werden kann (vgl zB BSGE 108, 206 = SozR 4-2500 § 33 Nr 34, RdNr 34; sowie die Parallelentscheidung vom selben Tag: BSG Urteil vom 18.5.2011 - B 3 KR 12/10 R - Juris RdNr 15; BSGE 107, 44 = SozR 4-2500 § 33 Nr 31, RdNr 20 ff; BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 27 RdNr 15, jeweils mwN). Räumlich ist dieser Nahbereich auf den unmittelbaren Umkreis der Wohnung des Versicherten als
Ausgangs- und Endpunkt der Wege beschränkt, wobei allerdings nicht die konkreten Wohnverhältnisse des behinderten Menschen
maßgebend sind. Denn der Nahbereich konkretisiert ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens und betrifft somit die
Eignung und Erforderlichkeit des Hilfsmittels als objektive Anspruchsvoraussetzung.
Inhaltlich umfasst der Nahbereich gesundheitserhaltende Wege (zB Besuch von Ärzten und Therapeuten, Aufsuchen der Apotheke),
Versorgungswege, die den Grundbedürfnissen der selbstständigen Existenz und des selbstständigen Wohnens dienen (Alltagsgeschäfte
wie Einkauf, Post, Bank) sowie elementare Freizeitwege, die - in Abgrenzung zu der durch andere Leistungsträger sicherzustellenden
Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft - allerdings nur bei besonderer Bedeutung für die physische und psychische Gesundheit
durch Leistungen der GKV abzudecken sind (zB kurzer Spaziergang an der frischen Luft, Gang zum Nachbarn zur Gewährleistung
der Kommunikation; vgl ausführlich zum Ganzen BSGE 108, 206 = SozR 4-2500 § 33 Nr 34, RdNr 37 sowie die Parallelentscheidung BSG Urteil vom 18.5.2011 - B 3 KR 12/10 R - Juris RdNr 18, jeweils mwN).
d) Hiervon ausgehend eröffnet das "Speedy-Duo 2" dem behinderten Menschen eine dem Radfahren vergleichbare Mobilität, die
über den nach den dargelegten Grundsätzen bestimmten Nahbereich hinausgeht. Denn mit dem "Speedy-Duo 2" können nicht nur die
im Nahbereich der Wohnung liegenden Ziele erreicht, sondern auch erheblich darüber hinausgehende Entfernungen zurückgelegt
werden (vgl zum Rollstuhlbike: BSGE 108, 206 = SozR 4-2500 § 33 Nr 34, RdNr 41; sowie die Parallelentscheidung BSG Urteil vom 18.5.2011 - B 3 KR 12/10 R - Juris RdNr 22).
Dies allein steht zwar grundsätzlich der Leistungspflicht in der GKV entgegen; allerdings sind Hilfsmittel, die dem Versicherten
eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität ermöglichen, im Einzelfall gleichwohl von der Krankenkasse zu gewähren, wenn
besondere qualitative Momente dieses "Mehr" an Mobilität erfordern. Solche besonderen qualitativen Momente liegen zB vor,
wenn der Nahbereich ohne das begehrte Hilfsmittel nicht in zumutbarer Weise erschlossen werden kann oder wenn eine über den
Nahbereich hinausgehende Mobilität zur Wahrnehmung eines anderen Grundbedürfnisses notwendig ist. So ist etwa die Erschließung
des Nahbereichs ohne das begehrte Hilfsmittel unzumutbar, wenn Wegstrecken im Nahbereich nur unter Schmerzen oder nur unter
Inanspruchnahme fremder Hilfe bewältigt werden können (BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 27 RdNr 24), oder wenn die hierfür benötigte Zeitspanne erheblich über derjenigen liegt, die ein nicht behinderter Mensch
für die Bewältigung entsprechender Strecken zu Fuß benötigt (vgl BSGE 108, 206 = SozR 4-2500 § 33 Nr 34, RdNr 41; BSG Urteil vom 18.5.2011 - B 3 KR 12/10 R - Juris RdNr 22). Andere Grundbedürfnisse, die eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität erfordern, hat der Senat
in der Integration von Kindern und Jugendlichen in den Kreis Gleichaltriger (BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 10 RdNr 16; SozR 3-2500 § 33 Nr 27 S 158 f) sowie in der Erreichbarkeit von Ärzten und Therapeuten bei Bestehen einer besonderen gesundheitlichen Situation
(BSGE 93, 176 = SozR 4-2500 § 33 Nr 7 RdNr 13 ff) gesehen.
e) Das "Speedy-Duo 2" wäre - anders als das LSG meint - unter Berücksichtigung der unter d) dargestellten Grundsätze auch
dann in das HMV aufzunehmen, wenn es nur in Einzelfällen vom Versorgungsanspruch umfasst wäre, in denen besondere qualitative Momente vorliegen.
Denn es kommt für den Anspruch auf Aufnahme eines Hilfsmittels in das HMV nach §
139 Abs
1 S 2, Abs
3,
4 SGB V nicht darauf an, ob ein Hilfsmittel nur in Ausnahmefällen oder regelmäßig zur Befriedigung eines Grundbedürfnisses benötigt
wird. Von der Leistungspflicht der GKV umfasst sind nach §
139 Abs
1 S 2
SGB V auch solche Hilfsmittel, die nur im Falle eines eher seltenen Krankheitsbildes oder wegen besonderer Grundbedürfnisse (zB
bei Kindern) erforderlich werden. Dies entspricht auch der Funktion des HMV als Auslegungs- und Orientierungshilfe für die Krankenkassen und die Leistungserbringer (zur Funktion des HMV insoweit vgl zB BSGE 113, 33 = SozR 4-2500 § 139 Nr 6, RdNr 13). Denn im HMV werden regelmäßig die objektiven Voraussetzungen der Verordnung des Hilfsmittels wie beispielsweise die medizinische Indikation
(zB wenn die Restkräfte zur Erschließung des Nahbereichs mittels Greifreifenrollstuhl nicht ausreichen) oder die Voraussetzungen
eines besonderen Grundbedürfnisses (zB nur für Kinder) angegeben. Gerade in den seltenen und daher für die Praxis eher schwierigen
Fällen, in denen andere Versorgungsmöglichkeiten nicht ausreichen, kann das HMV für die Krankenkassen und die Leistungserbringer die nötige Orientierungshilfe bieten. Aus diesem Grund sind bereits jetzt
im HMV verschiedene Rollstuhlzuggeräte gelistet, die vor einen vorhandenen Rollstuhl gekuppelt werden, den Aktionsradius des Versicherten
erhöhen und über einen Elektromotor angetrieben werden (vgl https://hilfsmittel.gkv-spitzenverband.de/produktlisteZurArt_input.action?paramArtId=939,
unter der Positionsnummer 18.99.04.0). Dazu wird im HMV unter dem Stichwort "Indikation" ausgeführt:
"Rollstuhl-Zuggeräte, die durch den Rollstuhlbenutzer selbst bedient werden, sind dann angezeigt, wenn normalerweise ein handbetriebener
Rollstuhl ausreicht, die Restkräfte des Rollstuhlbenutzers aber zu gering sind, sich selbständig in seinem näheren Wohnumfeld
mittels Greifreifenantrieb fortzubewegen. Vor der Bewilligung eines Rollstuhl-Zuggerätes ist zu prüfen, ob die Versorgung
mit einem Elektrorollstuhl nicht die sinnvollere Alternative darstellt."
Daneben sind - allerdings nur für Kinder - Vorspann-/Einhängefahrräder mit Handkurbelantrieb gelistet (unter der Positionsnummer
18.51.04.). Ebenso sind Zwei- und Dreiräder sowie entsprechendes Zubehör (Positionsnummern 22.51.01., 22.51.02. und 22.51.03.)
auf Kinder beschränkt. Zu den Elektromobilen enthält das HMV den Hinweis, dass eine Versorgung dann angezeigt ist, wenn die Benutzung handgetriebener Rollstühle aufgrund der Behinderung
nicht, die sachgerechte Bedienung eines elektromotorischen Antriebs aber noch möglich ist (Positionsnummer 18.51.05.).
Gegen diese im HMV vorgenommene Ausdifferenzierung bestehen keine rechtlichen Bedenken; sie ist vielmehr gesetzlich gewollt. Denn die aufgeführten
Hilfsmittel sind unter den angegebenen Indikationen und ggf unter Beachtung der weiteren angegebenen Einschränkungen (beispielsweise
auf den Kreis der Kinder) zum Behinderungsausgleich grundsätzlich objektiv geeignet und erforderlich und daher (unabhängig
von einem individuell bestehenden Bedarf bei dem jeweiligen Versicherten) iS von §
139 Abs
1 S 2
SGB V auch generell "von der Leistungspflicht umfasst". Auf das Vorliegen der weiteren Einzelfallvoraussetzungen, insbesondere
der subjektiven Geeignetheit und Erforderlichkeit des Hilfsmittels, kommt es für dessen Aufnahme ins HMV naturgemäß nicht an. Vor dem Hintergrund des geltenden, sehr spezifisch ausdifferenzierten HMV würde eine Versagung der Aufnahme eines bestimmten Hilfsmittels - wie hier des "Speedy-Duo 2" - in das HMV allein mit der Begründung, es ermögliche eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität im Vergleich zu Produkten, die
ebenfalls solche Möglichkeiten bieten und die unter Angabe der entsprechenden Indikationen derzeit im HMV gelistet sind, zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung der betreffenden Hilfsmittelhersteller und zu einer wettbewerbswidrigen
Benachteiligung der Hersteller führen, deren Produkte nicht dort aufgenommen werden. Soweit sich die objektiven medizinischen
und ggf sonstigen Voraussetzungen für eine Hilfsmittelversorgung zulasten der GKV abstrakt definieren und im HMV mit aufführen lassen, gibt es keinen erkennbaren sachlich gerechtfertigten Grund, der gegen die Aufnahme des Hilfsmittels
in das HMV spricht. Eine Grenze ist erst dann zu ziehen, wenn weder medizinische Indikationen noch Grundbedürfnisse ersichtlich sind,
anhand derer sich die objektiven Voraussetzungen der Leistungspflicht abstrakt definieren lassen.
f) Das "Speedy-Duo 2" ist in seinen beiden Ausführungsvarianten im vorstehend unter e) beschriebenen Sinne allerdings selbst
in Einzelfällen, deren Voraussetzungen sich abstrakt definieren ließen, nicht von der Leistungspflicht der GKV umfasst und
deshalb in keiner seiner Ausführungen im HMV zu listen. Denn es besteht kein Anspruch auf Aufnahme eines Hilfsmittels in das HMV, wenn sich auch im Einzelfall keine Leistungspflicht der Krankenkasse ergeben kann, weil keine medizinischen Indikationen
oder sonstigen Umstände erkennbar sind, bei deren Vorliegen das Hilfsmittel in seiner speziellen Ausführung zur Befriedigung
eines Grundbedürfnisses erforderlich sein kann.
Es kann dahingestellt bleiben, ob sich die Voraussetzungen einer Gewährung des "Speedy-Duo 2" allein deshalb nicht abstrakt
definieren lassen, weil es im Unterschied zu den im HMV bereits aufgeführten Rollstuhlzuggeräten nicht allein durch einen Elektromotor, sondern mittels einer elektromotorisch unterstützten
Handkurbel angetrieben wird. Zumindest in Ausnahmefällen scheint es jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass ein handbetriebener
Rollstuhl zwar (beispielsweise innerhalb der Wohnung) noch ausreichend sein kann, die individuell vorhandenen Restkräfte des
Nutzers aber einerseits zu gering sind, sich selbstständig in seinem näheren Wohnumfeld mittels Greifreifenantrieb fortzubewegen,
sie aber andererseits für den elektromotorisch unterstützten Handkurbelantrieb noch ausreichen. Selbst wenn unter diesen Voraussetzungen
nur in wenigen Fällen eine Leistungspflicht der Krankenkassen für dieses Hilfsmittel in Betracht kommen sollte, wären keine
Gründe gegen einen so eng definierten Indikationsbereich und dessen Aufnahme in das HMV ersichtlich.
Das "Speedy-Duo 2" ist aber gleichwohl nicht geeignet, in das HMV aufgenommen zu werden. Es überschreitet jedenfalls wegen der Leistungsfähigkeit des elektromotorischen Antriebs in beiden
hier im Streit stehenden Ausführungen allgemein das Maß des Notwendigen. Das Grundbedürfnis der Erschließung des Nahbereichs
ist nämlich nicht nur im Hinblick auf die erreichbare Entfernung, sondern auch bezüglich der zu ihrer Bewältigung benötigten
Zeitspanne an der von Menschen ohne Behinderung üblicherweise zu Fuß erreichten Gehgeschwindigkeit orientiert (vgl BSGE 108,
206 = SozR 4-2500 § 33 Nr 34, RdNr 41; sowie Parallelentscheidung vom selben Tag: BSG Urteil vom 18.5.2011 - B 3 KR 12/10 R - Juris RdNr 22). Die übliche Gehgeschwindigkeit schwankt je nach Alter, Geschlecht und Faktoren wie dem Gehen allein oder
als Gruppe zwischen etwa 4 km/h und 6 km/h (vgl hierzu zB BSG Urteil vom 30.1.2002 - B 5 RJ 36/01 R - Juris RdNr 15; BSGE 62, 273, 280 = SozR 3870 § 60 Nr 2 S 8). Mit dem Elektromotor des "Speedy-Duo 2" werden aber je nach Ausführungsart 10 km/h bzw 14
km/h unterstützt. Unabhängig von der medizinischen Indikation und den Umständen des Einzelfalls ist kein Grundbedürfnis erkennbar,
zu dessen Befriedigung es erforderlich sein könnte, sich den Nahbereich mit einer Geschwindigkeit zu erschließen, die höher
ist als die übliche Schrittgeschwindigkeit. Es lassen sich daher für diese Ausführungen des "Speedy-Duo 2" keine abstrakten
Voraussetzungen definieren und im HMV mit aufführen, unter denen eine Verordnung zulasten der GKV in Betracht kommen könnte.
Die anderen im HMV aufgeführten Motoren und Antriebe für Hilfsmittel zur Fortbewegung erreichen ebenfalls nicht mehr als eine übliche Gehgeschwindigkeit
von maximal etwa 6 km/h. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass - wie die Klägerin geltend macht - auch Rollstuhlbenutzer
mit erheblicher Armkraft sogar rein mechanisch mit einem einfachen Greifreifenrollstuhl kurzzeitig darüber hinausgehende Geschwindigkeiten
erreichen. Entscheidend ist jedoch nicht die aufgrund individueller Kräfte oder Fähigkeiten erreichbare Geschwindigkeit, sondern
die technische Bauart und Ausstattung des Hilfsmittels mit einem Motor, dessen Leistungsfähigkeit bereits so angelegt ist,
dass er von vornherein über das Maß des Erforderlichen hinausgeht und deshalb nicht mehr vom Versorgungsanspruch in der GKV
umfasst ist.
g) Versicherte können über das Maß des Notwendigen hinausgehende Hilfsmittel zwar nach §
33 Abs
1 S 5
SGB V unter Tragung der Mehrkosten und der dadurch bedingten höheren Folgekosten wählen; solche Hilfsmittel sind aber nicht ins
HMV aufzunehmen. Insoweit ist dem Argument des LSG zu folgen, dass das HMV seiner Funktion als Auslegungs- und Orientierungshilfe für die Krankenkassen und die Leistungserbringer nicht gerecht werden
kann, wenn auch solche Hilfsmittel aufgeführt werden, die gerade nicht mehr vom Versorgungsanspruch umfasst sind, sondern
das Maß des Notwendigen überschreiten.
4. Die von den Vorinstanzen abweichende Festsetzung des Streitwerts orientiert sich am dreifachen Jahresgewinn der Klägerin
für das streitige Hilfsmittel und beruht auf §
197a Abs
1 S 1
SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 1, 3 S 2, § 47 Abs 1 GKG.