Maßgeblicher Pflegebedarf bei ärztlich empfohlenem Spaziergang und sonntäglichem Gottesdienstbesuch
Gründe:
I
Streitig ist ein Anspruch auf Pflegegeld nach der Pflegestufe I.
Der im Jahre 1931 geborene Kläger leidet seit fast dreißig Jahren an Diabetes. Die Krankheit hat ua zu Durchblutungsstörungen
in beiden Beinen, zu offenen Wunden an den Füßen sowie zu Taubheitsgefühlen in den Gliedmaßen geführt. Er wird von seiner
Ehefrau betreut und gepflegt.
Den Antrag des Klägers, ihm ab 1. April 1995 Pflegegeld nach der Pflegestufe I zu bewilligen, lehnte die Beklagte ab, weil
der durchschnittliche tägliche Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege nicht, wie erforderlich, mehr als 45 Minuten betrage
(Bescheid vom 9. Oktober 1995, Widerspruchsbescheid vom 13. März 1996).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 22. Juni 1998), das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zurückgewiesen
(Urteil vom 4. März 1999). Es hat den Anspruch für unbegründet erachtet, weil sich der tägliche Hilfebedarf im Bereich der
Grundpflege auf höchstens 43 Minuten belaufe. Die notwendige Begleitung des Klägers durch seine Ehefrau bei den ärztlich angeratenen
täglichen Spaziergängen von mindestens einer Stunde Dauer sowie beim sonntäglichen Gottesdienstbesuch (Hin- und Rückweg jeweils
15 Minuten) könne nicht berücksichtigt werden. Die Hilfe beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung sei nur dann der Grundpflege
zuzurechnen, wenn die Maßnahme erforderlich sei, um ein Weiterleben in der eigenen Wohnung zu ermöglichen. Das sei nicht der
Fall.
Mit der Revision rügt der Kläger einen Verstoß gegen §
14 Abs
4 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (
SGB XI). Er vertritt die Auffassung, die Hilfe seiner Ehefrau bei den täglichen Spaziergängen und bei den sonntäglichen Gottesdienstbesuchen
sei als Teil der Grundpflege anzusehen. Mit den regelmäßigen Spaziergängen habe er bisher die wegen der fortschreitenden Durchblutungsstörungen
drohende Amputation der Füße und damit das Stadium vollstationärer Pflegebedürftigkeit vermeiden können. Die Begleitung zu
den Gottesdiensten sei zu berücksichtigen, weil nach §
2 Abs
3
SGB XI im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung auf die religiösen Bedürfnisse der Pflegebedürftigen Rücksicht zu nehmen sei.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG Nordrhein-Westfalen vom 4. März 1999 und des SG Duisburg vom 22. Juni 1998 zu ändern, den Bescheid der
Beklagten vom 9. Oktober 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. März 1996 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen,
ihm Pflegegeld nach der Pflegestufe I ab 1. April 1995 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil als zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach den §§
124 Abs
2,
153 Abs
1,
165
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) einverstanden erklärt.
II
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, daß der Hilfebedarf des Klägers
im Bereich der Grundpflege nicht das für die Pflegestufe I erforderliche Mindestmaß von täglich mehr als 45 Minuten (§
15 Abs
3 Nr
1
SGB XI; zur entsprechenden Anwendung dieser am 25. Juni 1996 in Kraft getretenen Vorschrift auf die Zeit bis zum 24. Juni 1996 vgl
BSG SozR 3-3300 § 15 Nr 1) erreicht und deshalb ein Anspruch auf Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nicht besteht.
1. Die Hilfestellung der Ehefrau bei den ärztlich angeratenen täglichen Spaziergängen ist bei der Feststellung des Umfangs
der Pflegebedürftigkeit des Klägers nicht zu berücksichtigen.
a) Die Hilfe betrifft nicht das Gehen iS des §
14 Abs
4 Nr
3
SGB XI. Ein Hilfebedarf bei der Verrichtung "Gehen" kann, wie vom Senat bereits entschieden, nur dann berücksichtigt werden, wenn
es sich um das Gehen im Zusammenhang mit einer der anderen in §
14 Abs
4
SGB XI genannten häuslichen Verrichtungen handelt (BSG SozR 3-3300 §
14 Nrn 5, 6, 8 und 10). Das Gehen außerhalb des häuslichen Bereichs kann entweder die Verrichtung "Verlassen und Wiederaufsuchen
der Wohnung" (Grundpflege) oder, soweit es im Zusammenhang mit der Beschaffung des täglichen Bedarfs an Nahrungs- und Genußmitteln
steht, die Verrichtung "Einkaufen" (hauswirtschaftliche Versorgung) betreffen (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 10). Letzteres kann
außer Betracht bleiben, weil die täglichen Spaziergänge des Klägers in der Regel nicht dazu dienen, zugleich die notwendigen
Einkäufe zu erledigen.
b) Der Verrichtung "Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung" kann die Hilfe bei den täglichen Spaziergängen ebenfalls nicht
zugeordnet werden.
Die Hilfe bei der Mobilität außerhalb der eigenen Wohnung ist nur dann zu berücksichtigen, wenn sie erforderlich ist, um das
Weiterleben in der eigenen Wohnung zu ermöglichen, also Krankenhausaufenthalte und die stationäre Pflege in einem Pflegeheim
zu vermeiden. Ausgeschlossen sind damit zB die Bereiche Kommunikation, Bildung, Erwerbstätigkeit, Freizeitgestaltung und Unterhaltung.
Zudem darf es sich nicht um Hilfestellungen bei Maßnahmen handeln, die vorrangig dem Ziel dienen, zur selbständigen Lebensführung
notwendige Fähigkeiten zu erhalten oder wiederzugewinnen und damit den Pflegeaufwand in späteren Lebensabschnitten zu vermeiden
oder geringer zu halten (BSG SozR 3-3300 § 14 Nrn 5, 6, 8 und 10). Ausgeschlossen sind damit Hilfen bei Maßnahmen, die vorrangig
der Rehabilitation körperlich oder geistig Behinderter zwecks Vermeidung oder Verringerung der Pflegebedürftigkeit dienen
(§§
5 und
31
SGB XI) und in den Zuständigkeitsbereich anderer Sozialleistungsträger fallen. Als Maßnahme der Grundpflege anerkannt worden ist
demgemäß die Hilfe durch Begleitung bei durchschnittlich wenigstens einmal wöchentlich anfallenden Arztbesuchen. Gleiches
gilt für die Begleitung zum Krankengymnasten, wenn die Maßnahme ärztlich verordnet ist (BSG SozR 3-3300 § 14 Nrn 6, 8 und
9, § 15 Nr 7). Im vorliegenden Fall handelt es sich nicht um eine rehabilitative Maßnahme zur Vermeidung eines erhöhten Pflegeaufwandes
bei Verlust der Gehfähigkeit. Es geht vielmehr in erster Linie um eine durch den Diabetiker selbst vorzunehmende, vom behandelnden
Arzt wegen der drohenden Verschlimmerung der Folgen der bestehenden Durchblutungsstörungen in den Beinen empfohlene Ergänzung
der ärztlichen Behandlung der Diabeteserkrankung. Die täglichen Spaziergänge stellen sich daher als Teil der ärztlichen Therapie
dar. Sie dienen dem weiteren Verbleib in der Wohnung, damit der Vorbeugung von Krankenhausaufenthalt bzw Heimunterbringung,
wofür die Leistungen bei häuslicher Pflege der Pflegeversicherung grundsätzlich vorgesehen sind.
c) Dennoch kann der Zeitaufwand für die Begleitung des Klägers bei den täglichen Spaziergängen bei der Bemessung des Pflegebedarfs
nicht berücksichtigt werden. Es kann dahinstehen, ob der Kläger die nötige Bewegung nicht auch auf andere geeignete Weise
erreichen könnte, bei der eine Hilfestellung durch die Ehefrau oder andere Pflegepersonen nicht erforderlich ist. Statt eines
mindestens einstündigen Spaziergangs im Freien kommt zB ein kontinuierliches Gehen von gleicher Dauer in der eigenen Wohnung
in Betracht, wo der Kläger jederzeit Halt finden kann. Zu denken ist auch an eine selbständige Fortbewegung mit Hilfe eines
Rollators.
Aber auch dann, wenn die nötige Bewegung des Klägers nur unter Mithilfe der Ehefrau oder einer anderen Pflegeperson ermöglicht
werden könnte, scheidet die Anrechnung des Zeitaufwandes der Pflegeperson hier aus. Da die täglichen Spaziergänge Teil der
ärztlichen Therapie sind, handelt es sich bei der Hilfestellung der Sache nach um Behandlungspflege und nicht um Grundpflege.
Für Maßnahmen der Behandlungspflege außerhalb eines Pflegeheimes ist nach §
37 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (
SGB V) aber die gesetzliche Krankenversicherung zuständig, ohne daß es darauf ankommt, mit welchen Leistungen diese im konkreten
Fall eintritt (zur Leistungspflicht der Krankenkasse auch bei sog einfacher Behandlungspflege vgl Urteile des Senats vom 30.
März 2000 - B 3 KR 23/99 R - BSGE 86, 101 = SozR 3-2500 § 37 Nr 2 und B 3 KR 11/99 R - nicht veröffentlicht). Bei der Feststellung des Pflegebedarfs nach den §§
14,
15
SGB XI sind Maßnahmen der Behandlungspflege nur zu berücksichtigen, wenn sie entweder Bestandteil einer Maßnahme der Grundpflege
sind (BSGE 82, 27 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2) oder wenn sie aus medizinisch-pflegerischen Gründen in unmittelbarem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang
mit einer Maßnahme der Grundpflege erforderlich werden (BSGE 82, 276 = SozR 3-3300 § 14 Nr 7; BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 11). Daran fehlt es hier; die Spaziergänge stehen mit keiner anderen Verrichtung
der Grundpflege (§
14 Abs
4 Nrn 1 bis 3
SGB XI) in unmittelbarem Zusammenhang.
2. Die Begleitung zu den sonntäglichen Gottesdiensten ist ebenfalls keine Hilfe bei der Verrichtung Verlassen und Wiederaufsuchen
der Wohnung iS des §
14 Abs
4 Nr
3
SGB XI. Hier fehlt es bereits an der Voraussetzung, daß die Maßnahme zum Weiterleben in der eigenen Wohnung nötig sein muß. Der
Gottesdienstbesuch dient zwar auch der Erhaltung und Wiedergewinnung der geistigen und seelischen Kräfte der Pflegebedürftigen
(§
2 Abs
1 Satz 2
SGB XI), hat aber nicht das Ziel, das selbständige Weiterleben in der eigenen Wohnung zu ermöglichen und Krankenhaus- bzw Heimaufenthalte
zu vermeiden.
a) Der Kläger kann sich auch nicht darauf berufen, daß Katholiken nach dem Recht der Katholischen Kirche gehalten sind, an
den "gebotenen Festtagen" (Sonntage, kirchliche Feiertage) an der Messe teilzunehmen (vgl C 1247 des Codex Iuris Canonici
>CIC< 1983), es ihm also kirchenrechtlich nicht freistehe, den sonntäglichen Gottesdienst zu besuchen oder nicht, und er sich
als gläubiger Katholik an diese Verpflichtung ("Sonn- und Feiertagspflicht") gebunden fühle. Gläubige, die durch Krankheit
oder Behinderung daran gehindert sind, zur Kirche zu gehen und an der Messe teilzunehmen, sind nämlich von dieser Pflicht
nach Maßgabe der Regelungen des CIC (vgl C 1248 § 2) befreit (Sebott in Listl/Schmitz, Handbuch des katholischen Kirchenrechts,
2. Aufl 1999, S 804; zu den Pflichten der Pfarrer gegenüber Gläubigen, die an der Messe nicht teilnehmen können, vgl C 529
§ 1 und C 918).
b) Die Vorschrift des §
2 Abs
3 Satz 1
SGB XI, wonach auf die religiösen Bedürfnisse der Pflegebedürftigen Rücksicht zu nehmen ist, begründet ebenfalls keinen Leistungsanspruch.
Es handelt sich lediglich um einen Appell an die Pflegekassen und die Leistungserbringer, bei der Wahl der die stationäre
Pflege durchführenden Einrichtung (vgl §
2 Abs
2 und Abs
3 Satz 2
SGB XI) und bei der Durchführung der Pflege auf die religiösen Bedürfnisse der Pflegebedürftigen zu achten (zB rechtzeitige Durchführung
der morgendlichen Pflege durch einen Pflegedienst an Sonntagen, damit der Pflegebedürftige in der Lage ist, den Gottesdienst
zu besuchen).
c) Auf Art
4 Abs
2
Grundgesetz (
GG), wonach die ungestörte Religionsausübung zu gewährleisten ist, kann sich der Kläger gleichfalls nicht stützen. Diese Vorschrift
gebietet, "Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf
weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern" (BVerfGE 41, 29, 49; 52, 223, 240), gibt aber keinen Anspruch auf Gewährung finanzieller Mittel zur Ausübung der Glaubensfreiheit (BVerwGE
65, 52, 57; 87, 115, 133; vgl Jarass/Pieroth,
GG, 5. Aufl 2000, Art
4 RdNr 13 mwN). Um Letzteres geht es aber, wenn die Hilfe beim Gottesdienstbesuch auf Kosten der Pflegeversicherung durchgeführt
werden soll.
3. Da der tägliche Hilfebedarf des Klägers im Bereich der Grundpflege im übrigen mit höchstens 43 Minuten ohne Revisionsrügen
festgestellt worden ist und die geltend gemachten weiteren Hilfen nicht zu berücksichtigen sind, bedarf es keiner Entscheidung,
ob die Bemessung des Zeitaufwands für die Grundpflege durch das LSG mit 43 Minuten im übrigen rechtlich zutreffend erfolgt
ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 Abs
1
SGG.