Überprüfung von Verwaltungsakten in der Pflegeversicherung, Rückwirkung des Schiedsspruchs, Preisvergleich zur leistungsgerechten
Vergütung
Gründe:
I
Die klagende Pflegekasse wendet sich dagegen, daß die beklagte Schiedsstelle für ihren Schiedsspruch die rückwirkende Geltung
ab dem Beginn des neuen Abrechnungszeitraums festgelegt hat.
Der Beigeladene zu 2) betreibt ein Pflegeheim in Hannover. Mit Schreiben vom 13. November 1998 forderte er die klagende Pflegekasse,
zwei Arbeitsgemeinschaften von Pflegekassen und die Stadt Hannover (als örtlichen Träger der Sozialhilfe) zu Pflegesatzverhandlungen
für den Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Dezember 1999 auf. Nach deren Scheitern beantragte er bei der beklagten Schiedsstelle
mit dort am 21. Dezember 1998 eingegangenem Schreiben die Festsetzung der Pflegesätze durch Schiedsspruch. Die Beklagte erließ
am 3. Februar 1999 einen Schiedsspruch mit Wirkung vom 1. Januar 1999, der unter dem 10. Februar 1999 schriftlich begründet
und den Beteiligten anschließend zugestellt wurde.
Vor dem Sozialgericht (SG) hat die Klägerin die Abänderung des Schiedsspruches hinsichtlich seines Wirksamwerdens ab 1. Januar
1999 und statt dessen die Feststellung begehrt, daß die Festsetzung erst ab dem Tage des Ausspruchs (3. Februar 1999) wirksam
geworden ist. Das SG hat die Klage abgewiesen und die Sprungrevision zugelassen (Urteil vom 27. Juli 1999). Es hat ausgeführt,
das in §
85 Abs
6 Satz 2 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (
SGB XI) enthaltene Rückwirkungsverbot sei zwar in Bezug auf die Pflegesatzvereinbarung absolut, in Bezug auf den Schiedsspruch bei
systematischer und historischer Auslegung jedoch nur relativ zu verstehen, da die Schiedsstelle andernfalls durch eine Verzögerung
des Verfahrens als Instrument der Konfliktlösung nahezu entwertet werden könne. Für dieses Ergebnis spreche auch, daß das
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) eine entsprechende Regelung vorsehe.
Mit ihrer (Sprung-)Revision rügt die Klägerin die Verletzung von §
85 Abs
6 Satz 2
SGB XI, nach dessen eindeutigem Wortlaut und systematischem Zusammenhang ein rückwirkendes Inkrafttreten von Pflegesätzen nicht
zulässig sei. Frühester Zeitpunkt für das Inkrafttreten des Schiedsspruchs sei die Zustellung der schriftlichen Ausfertigung;
insoweit werde das Klagebegehren erweitert. Bis zum Inkrafttreten neuer Pflegesätze würden die alten weitergelten. Eine sachfremde
Verzögerung oder Blockierung des Schiedsverfahrens sei nicht vorgekommen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 27. Juli 1999 aufzuheben, den Schiedsspruch der Beklagten vom 3. Februar 1999 insoweit
abzuändern, als darin die Festsetzung für den Zeitraum vor Bekanntgabe der Niederschrift enthalten ist und die Beklagte zu
verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladenen haben keinen Antrag gestellt.
II
Die zulässige Sprungrevision der Klägerin ist unbegründet.
1. Die Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt. Die Klage ist auch in der im Revisionsverfahren geänderten Form zulässig (§§
165,
153 Abs
1,
99 Abs
3 Nr
2
SGG). Richtiger Klagegegner ist, wie auch vom SG angenommen, die nicht rechtsfähige, aber in entsprechender Anwendung von §
70 Nr
4 iVm §
51 Abs
2 Satz 1
SGG beteiligtenfähige Schiedsstelle (vgl zum folgenden Urteil des Senats vom 14. Dezember 2000, B 3 P 19/00 R, zur Veröffentlichung vorgesehen). Die Schiedsstelle nach §
76
SGB XI zählt zwar nicht zu den in §
51 Abs
2 Satz 1 Nr
2
SGG aufgeführten gemeinsamen Gremien von Ärzten, Zahnärzten, Krankenhäusern oder anderen Leistungserbringern und Krankenkassen,
wohl aber das Schiedsamt nach §
89 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (
SGB V), wie sich auch aus der ausdrücklichen Erwähnung in §
71 Abs
4
SGG schließen läßt. Es besteht kein sachlicher Grund, die Schiedsstelle nach §
76
SGB XI abweichend zu behandeln, und nicht sie, sondern etwa das Land als allein beteiligtenfähig anzusehen, zumal dieses nicht Träger
der Schiedsstelle ist, sondern nur die Rechtsaufsicht führt (§
76 Abs
4
SGB XI). Die Schiedsstelle im Bereich des Pflegeversicherungsrechts gleicht nach ihrer Funktion, ihrer Aufgabe und ihrer Zusammensetzung
derjenigen nach §
114
SGB V, die wiederum dem Schiedsamt nach §
89
SGB V nachgebildet worden ist (Hess in KassKomm Bd 1, Stand August 2000, §
114
SGB V, RdNrn 1 und 7; Udsching,
SGB XI, 2. Aufl 2000, §
76 RdNr 2; Knittel in Krauskopf, Soziale Krankenversicherung/Pflegeversicherung, August 2000, §
85
SGB XI RdNr 15; Spellbrink in Hauck/Wilde
SGB XI, Stand November 2000, §
76 RdNr 21). Ebenfalls zutreffend gehen die Vorinstanzen ferner gemäß §
70 Nr 2
SGG iVm §
52
SGB XI von der Beteiligtenfähigkeit der zu 3) und 4) beigeladenen Arbeitsgemeinschaften von Pflegekassen aus (hierzu näher Senatsurteil
vom 6. August 1998, B 3 P 8/97 R, BSGE 82, 252, 253 f = SozR 3-3300 § 73 Nr 1).
Einer Beiladung der Heimbewohner bzw des Heimbeirats (§ 5
Heimgesetz) bedurfte es trotz der gemäß §
85 Abs
6 Satz 1 2. Halbsatz
SGB XI auch für sie unmittelbar geltenden Wirkung des Schiedsspruchs nicht. Bei einer notwendig einheitlichen Entscheidung schreibt
§
75 Abs
2
SGG zwar die Beiladung vor, um die Rechtskraft des Urteils auf alle Beteiligten zu erstrecken. Zur Rechtskrafterstreckung ist
eine Beiladung aber dann nicht erforderlich, wenn die Rechte Dritter dadurch gewahrt werden, daß ihre treuhänderische Vertretung
im Wege der Prozeßstandschaft erfolgt. Das ist hier der Fall. Die Interessen der Pflegebedürftigen bei der Festlegung des
Pflegesatzes werden von den Pflegekassen treuhänderisch mit wahrgenommen (vgl Udsching aaO, §
85 RdNr 6; Vogel/Schmähing in Klie/Krahmer
SGB XI, 1998, §
84 RdNr 11).
Die Beklagte ist nicht nur beteiligtenfähig, sondern auch passiv legitimiert. Wenn das Sozialhilferecht neuerdings (§ 93b Abs 1 Satz 4 BSHG, eingefügt durch Gesetz vom 23. Juli 1996 - BGBl I 1088 -), eine abweichende Regelung vorsieht, indem dort die Klage gegen
eine der Vertragsparteien zu richten ist, nicht aber gegen die Schiedsstelle, kommt eine analoge Übertragung auf das Pflegeversicherungsrecht
nicht in Betracht. Zwingende sachliche Gründe dafür, von einer Verfahrensregelung abzusehen, die sich bislang im Kassenarzt-
und Krankenversicherungsrecht bewährt hat, sind nicht erkennbar. In der jetzigen sozialhilferechtlichen Konzeption bleibt
die prozessuale Rolle der Schiedsstelle unklar. Auch die Rechtsnatur des Schiedsspruches als Verwaltungsakt wird dadurch in
Frage gestellt. Der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts >BVerwG< (vgl BVerwGE 108,
47) dürfte nach der Gesetzesänderung die Grundlage entzogen sein.
2. Die Klage ist aber unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Neubescheidung. Der Schiedsspruch der Beklagten vom
3. Februar 1999 verstößt hinsichtlich seines in ihm festgesetzten Geltungsbeginns - 1. Januar 1999 - nicht gegen Gesetzesrecht
(vgl zum folgenden Urteil des Senats vom 14. Dezember 2000, B 3 P 19/00 R, zur Veröffentlichung vorgesehen). Zu Recht sind das SG und die Beklagte davon ausgegangen, daß ein Schiedsspruch seinen
Geltungsbeginn auch rückwirkend festsetzen kann, soweit der Geltungsbeginn nicht noch vor den Eingang des Antrags bei der
Schiedsstelle, sondern frühestens auf dieses Datum verlegt wird. Da der Antrag hier am 21. Dezember 1998 bei der Schiedsstelle
einging, bestehen gegen die Festsetzung des Geltungsbeginns auf den Beginn des neuen Abrechungszeitraums (1. Januar 1999)
keine Bedenken.
Aus dem Verbot einer rückwirkenden Vereinbarung der Pflegesätze durch die Parteien (§
85 Abs
3 Satz 1
SGB XI) folgt nicht zwingend, daß dies auch für den Schiedsspruch gilt. Allerdings erklärt §
85 Abs
6 Satz 2
SGB XI ein rückwirkendes Inkrafttreten von Pflegesätzen ohne Einschränkung für unzulässig, kann nach dem Wortlaut also auch auf
Schiedsstellenentscheidungen bezogen werden, die in dem voranstehenden Satz 1 gleichrangig neben den Pflegesatzvereinbarungen
aufgeführt werden. Das Rückwirkungsverbot will aber nur verhindern, daß - wie nach dem früheren Recht - die Pflegesätze nach
den entstandenen Kosten errechnet werden; statt dessen sollen die Pflegesätze prospektiv ermittelt werden. Daraus folgt nicht,
daß im Streitfall die Schiedsstelle gehindert wäre, als Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Schiedsspruches den Antragseingang
oder, wie hier, den Beginn des neuen Abrechnungsjahres festzusetzen. Nur wenn diese Möglichkeit besteht, kann auch hinreichender
Rechtsschutz für den Fall gewährt werden, daß eine Partei den Erlaß eines Schiedsspruches hinauszögert, um die Fortgeltung
der laufenden Verträge bis dahin auszunutzen. Daß eine solche einschränkende Auslegung des Gesetzes nach Sinn und Zweck, insbesondere
zur Stärkung des Schiedsstellenverfahrens als wirksamen Konfliktlösungsmechanismus geboten ist, wird darüber hinaus auch durch
die in diesem Fall entsprechend heranzuziehenden Regelungen in § 93b Abs 2 Satz 2 und 3
BSHG sowie § 78g Abs 3 Satz 2 und 3 Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) unterstrichen. Die hiergegen in der Literatur geäußerten Bedenken hinsichtlich der Durchführbarkeit einer Rückabwicklung
(Schmitz NZS 2000, S 539 f) gehen im Hinblick auf die Möglichkeiten einer elektronischen Abrechnung fehl, zumal es sich wegen
des Unverzüglichkeitsgebots des §
85 Abs
5 Satz 1
SGB XI zwischen Antragstellung und Schiedsstellenentscheidung regelmäßig um Zeiträume von nur wenigen Wochen handeln dürfte.
Die Schiedsstelle nach §
85 Abs
5
SGB XI ist allerdings nicht gezwungen, auf den Antragseingang oder einen anderen vor der Entscheidung liegenden Zeitpunkt zurückzugehen.
Sie hat vielmehr - ebenso wie die Schiedsstelle nach dem BSHG oder dem SGB VIII - insoweit einen Ermessensspielraum, den sie nach den jeweiligen Umständen - insbesondere nach den vorgelegten Unterlagen
und deren Bezugsdatum - pflichtgemäß auszufüllen hat, solange sie nicht noch hinter das Datum des Antragseingangs zurückgeht.
Denn der Antragsteller hat es in der Hand, die Vertragsverhandlungen so rechtzeitig einzuleiten, daß er bei deren Scheitern
nach 6 Wochen die Schiedsstelle, wie hier geschehen, noch vor Beginn des neuen Abrechnungszeitraumes anrufen kann. Gelingt
ihm dies nicht, hat er in Kauf zu nehmen, daß er eine Rückwirkung auf den Beginn des Abrechnungszeitraums nicht mehr erreichen
kann. Insoweit kommt das Rückwirkungsverbot zum Tragen, das sich an die Vertragsparteien richtet, denen aufgegeben ist, Pflegesatzverhandlungen
rechtzeitig und zukunftsgerichtet zu führen.
Die Beklagte hat mit der Feststellung der Wirksamkeit des Schiedsspruchs auf den Beginn des neuen Abrechnungszeitraums das
ihr zustehende Ermessen fehlerfrei ausgeübt. Sie war sich ihres Ermessensspielraums bewußt und hat sich innerhalb des gesetzlichen
Rahmens gehalten. Wenn sie sich dabei an der von dem Heimträger rechtzeitig vorgelegten Kostenkalkulation, die sich auf das
gesamte Kalenderjahr bezog, orientierte, ist dies ein sachlicher Gesichtspunkt, der eine Rückwirkung des Schiedsspruchs auf
den Jahresbeginn rechtfertigt. Daß das Schiedsverfahren von den anderen Beteiligten nicht mutwillig verzögert worden ist,
steht dem nicht entgegen. Es wäre nur ein besonders einleuchtender Grund, gleichsam als Sanktion die Rückwirkung des Schiedsspruchs
anzuordnen; es ist aber nicht der einzig mögliche sachliche Grund für einen Rückwirkungsausspruch.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193
SGG.