Entziehung der Zulassung eines Zahnarztes zur vertragsärztlichen Versorgung nach sexuellen Übergriffen auf Auszubildende
Gründe:
I
Streitig ist die Entziehung der Zulassung eines Zahnarztes.
Vorwürfe gegen den Kläger, einen Vertragszahnarzt, er habe im Jahr 1995 in der Praxis der elfjährigen H. S. in das Unterhöschen
gegriffen, sich einige Zeit später gegenüber deren eineinhalb Jahre jüngeren Schwester ähnlich verhalten und zwei Sprechstundenhilfen
wiederholt vorsätzlich an Brust und Gesäß berührt, führten zu seiner Verurteilung durch einen Strafbefehl. Dieser lautete
auf sexuellen Missbrauch von Kindern in zwei Fällen in Tatmehrheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und im Strafmaß
auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten, unter Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung auf drei Jahre, mit der
Auflage der Zahlung einer Geldbuße von 40.000 DM (Strafbefehl vom 8.12.1995). Dieser Strafbefehl wurde rechtskräftig.
Das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Soziales untersagte dem Kläger, weibliche Auszubildende einzustellen und auszubilden
(Bescheid vom 22.4.1996). Das Berufsgericht für Heilberufe verhängte eine Geldbuße von 5.000 DM (Bescheid vom 25.4.1997).
Die Regierung von Oberbayern lehnte es indessen ab, seine Approbation zu widerrufen (Bescheid vom 29.9.1997).
Den Antrag von Krankenkassen, ihm die Zulassung zur vertragszahnärztlichen Versorgung zu entziehen, lehnte der Zulassungsausschuss
ab (Beschluss vom 20.5.1998). Auf den Widerspruch der Beigeladenen zu 3. und 6. (BKK und VdAK) entzog der beklagte Berufungsausschuss
ihm die Zulassung (Bescheid vom 17.3.1999). Dieser führte aus, die sexuellen Übergriffe unterlägen keinen Zweifeln. Sie belegten
einen schwerwiegenden persönlichen Mangel. Der Ausschuss ordnete aber nicht die sofortige Vollziehung seiner Entscheidung
an.
Das vom Kläger angerufene Sozialgericht (SG) hat seine Klage abgewiesen (Urteil vom 9.1.2003). Auf seine Berufung hin hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des
SG und den Bescheid des Beklagten aufgehoben, weil der Vorwurf gröblicher Pflichtverletzung nicht durchgreife (Urteil vom 12.12.2006).
Im Urteil ist ausgeführt:
Bei den Übergriffen gegenüber Kindern, wie sie dem Kläger vorgeworfen würden, könne von einer Entscheidung der Frage, ob sie
als gröbliche Pflichtverletzungen im Sinne des §
95 Abs
6 SGB V gewertet werden könnten, abgesehen werden. Sie stünden jedenfalls nicht mit der notwendigen Gewissheit fest. Sie beruhten
lediglich auf Angaben der elfjährigen H. S. und ihrer jüngeren Schwester R. S. bei polizeilichen Vernehmungen. Diese Angaben
seien nicht zeitnah gerichtlich überprüft worden. Zur Hinnahme des Strafbefehls habe der Kläger überzeugend dargelegt, dass
er eine strafgerichtliche Hauptverhandlung habe vermeiden wollen, da diese in dem ländlichen Umfeld hätte vernichtend sein
können. Sein Verzicht auf einen Einspruch dürfe nicht als Geständnis gewertet werden. Der Strafbefehl entfalte anders als
ein Strafurteil keine Bindungswirkung für das Zulassungsentziehungsverfahren, weil ihm nur ein summarisches Verfahren zugrunde
liege. Die in ihm getroffenen Feststellungen müssten eigenständig gewürdigt werden. Dies ergebe, dass nicht ausgeschlossen
werden könne, dass sexuelle Phantasien - auch durch Fernsehsendungen - das Kind H. S. zu seinen Angaben veranlasst hätten
und dass in Anbetracht der ihr zugewandten Aufmerksamkeit dann ihre jüngere Schwester sich ebenfalls durch derlei Vorbringen
habe in Szene setzen wollen, was sich gerade bei der exakten Entsprechung ihrer Schilderungen aufdränge. Ein Nachweis erfordere
nähere Kenntnisse der Einzelumstände, die durch zeitnahe Vernehmungen der Kinder hätten erlangt werden müssen. Eine Vernehmung
sei indessen nunmehr nach Ablauf von mehr als zehn Jahren seit den Handlungen, die - wie im Protokoll der Kriminalbeamtin
erwähnt - eher als flüchtig zu werten seien, nicht mehr dienlich.
Die sexuellen Übergriffe gegen die Auszubildenden seien demgegenüber nachgewiesen. Dies ergebe sich aus deren gleichlautenden
Angaben. Diese Verhaltensweisen stellten jedoch keine gröblichen Pflichtverletzungen dar. Es handele sich um ungehörige Umgangsformen,
die Ausdruck männlicher Betrachtung junger Mitarbeiterinnen als "Freiwild" seien. Dies sei zu maßregeln, mache den Kläger
aber nicht ungeeignet für die weitere vertragszahnärztliche Tätigkeit. Eine Zulassungsentziehung wäre unverhältnismäßig. Es
stünden mildere disziplinarische Mittel zur Verfügung, und der Kläger habe bereits erhebliche Einbußen durch die Untersagung
der Einstellung weiblicher Auszubildender und durch Geldbußen erlitten. Ferner stünden einer späteren erneuten Zulassung möglicherweise
eine Sperre wegen Überversorgung und/oder eine Überschreitung der Zugangsaltersgrenze von 55 Jahren entgegen.
Schließlich scheitere eine Zulassungsentziehung auch an dem vom Kläger seitdem gezeigten Wohlverhalten. Da der Beklagte keinen
Sofortvollzug angeordnet habe, sei die weitere Entwicklung einzubeziehen, die mangels weiterer Beanstandungen ihm gegenüber
während der folgenden elfeinhalb Jahre ein Wohlverhalten ergebe.
Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG machen die Beigeladenen zu 2. bis 7. die
grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und eine Abweichung von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) geltend.
II
Die Beschwerde der Beigeladenen zu 2. bis 7. hat keinen Erfolg. Zwar greifen die Grundsatzrügen an sich zum Teil durch. So
wirft die Beschwerdebegründung zu Recht die Frage auf, ob sexuelle Übergriffe eines Arztes bzw Zahnarztes gegen die von ihm
Auszubildenden gröbliche Verletzungen vertrags(zahn)ärztlicher Pflichten darstellen (siehe unten 1.). Auch die Grundsatzrüge,
mit der sich die Beigeladene zu 2. bis 7. gegen die Verneinung einer Präjudizwirkung bei Strafbefehlen wenden, wird zu Recht
erhoben (siehe unten 2.). Diese Gesichtspunkte können dennoch nicht zur Revisionszulassung führen. Dem steht entgegen, dass
das Berufungsurteil auf den weiteren Gesichtspunkt gestützt ist, nämlich dass die Annahme eines ausreichend langen Wohlverhaltens
nicht widerlegt werden könne; hierin liegt eine das Berufungsurteil selbstständig tragende Begründung (siehe unten 3.).
1. Die Frage, ob sexuelle Übergriffe eines Arztes bzw Zahnarztes gegen die von ihm Auszubildenden gröbliche Verletzungen vertrags(zahn)ärztlicher
Pflichten darstellen, hat grundsätzliche Bedeutung. Sie ist, wie das vorliegende Berufungsurteil mit seiner Verneinung zeigt,
klärungsbedürftig und von allgemeiner Bedeutung. Zwar ist die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten eine gröbliche Pflichtverletzung
darstellt, im Regelfall nicht generalisierender Beantwortung zugänglich, verbleibt vielmehr dem jeweils zu entscheidenden
Einzelfall und seinen Besonderheiten verhaftet. Dies ist jedoch anders bei der Frage nach Grundsätzen für das Verhalten eines
Arztes bzw Zahnarztes gegenüber den von ihm Auszubildenden. Insoweit ist hier die grundsätzlich bedeutsame Klarstellung auszusprechen,
dass sexuelle Übergriffe des Arztes bzw Zahnarztes gegen die von ihm Auszubildenden - auch solche, wie sie vorliegend in Frage
stehen - gröbliche Verletzungen seiner vertrags(zahn)ärztlichen Pflichten darstellen und ihn als ungeeignet für die Tätigkeit
im Beruf und somit auch in der vertrags(zahn)ärztlichen Tätigkeit erweisen (vgl ebenso zu einem Fall versuchter Vergewaltigung
BSG, Beschluss vom 19.6.1996 - 6 BKa 52/95 -, juris; dies in Bezug nehmend BSG, Beschluss vom 31.3.2006 - B 6 KA 69/05 B -, juris).
2. Auch die weitere von den Beigeladenen zu 2. bis 7. aufgeworfene Frage, ob ein Gericht von Feststellungen in einem Strafbefehl
abweichen darf sowie ob und in welchem Umfang ein Strafbefehl Präjudizwirkung im Rahmen eines Zulassungsentziehungsverfahrens
entfaltet, hat grundsätzliche Bedeutung. In der Rechtsprechung des BSG ist bereits geklärt, dass die Sozialgerichte bei ihrer
Feststellung, ob der Arzt bzw Zahnarzt ein Delikt begangen und damit seine vertrags(zahn)ärztlichen Pflichten gröblich verletzt
und sich als ungeeignet für die vertrags(zahn)ärztliche Tätigkeit erwiesen hat, im Sinne einer zusätzlichen Stütze auf Feststellungen
in einem Strafbefehl zurückgreifen dürfen (vgl zB BSG SozR 1500 § 128 Nr 40 S 49; weiterhin Beschlüsse vom 31.8.1990 - 6 BKa
33/90 -, juris, dort RdNr 5; vom 27.2.1992 - 6 BKa 15/91 -, juris, dort RdNr 8; ebenso BSGE 63, 270, 273 = SozR 1500 § 128 Nr 34 S 31 betr strafrechtliches Ermittlungsverfahren). Das BSG hat auch sonst schon in Zulassungsentziehungsverfahren
die Verwertung von Feststellungen aus anderweitigen bestandskräftig abgeschlossenen Verfahren gebilligt. So können in Zulassungsentziehungsverfahren,
die auf ständig wiederkehrendes unwirtschaftliches Behandlungs- oder Verordnungsverhalten gestützt werden, bestandskräftige
Entscheidungen über Honorarkürzungen wegen Unwirtschaftlichkeit verwertet werden (stRspr, vgl zB BSGE 34, 252, 253 = SozR Nr 36 zu § 368a
RVO; BSG USK 93142 S 772 f; ebenso betr Disziplinarverfahren zB BSG SozR 3-2500 § 81 Nr 6 S 22 und BSG, Beschluss vom 9.12.2004
- B 6 KA 70/04 B -, juris; ebenso zur Bestandskraft aufgrund gerichtlichen Vergleichs BSG, Beschlüsse vom 28.8.1996 - 6 BKa 22/96 -, juris,
dort RdNr 5, und vom 9.12.2004 - B 6 KA 70/04 B -, juris, dort RdNr 8). In Fortführung dieser Rechtsprechung ist klarzustellen, dass die Verwertung der Feststellungen aus
rechtskräftig abgeschlossenen Strafbefehlsverfahren keinen Einschränkungen unterliegt. Die in einem rechtskräftigen Strafbefehl
getroffenen Feststellungen sind ebenso beachtlich wie die Feststellungen in einem rechtskräftigen Strafurteil, was einzig
der Gleichstellung mit rechtskräftigen Urteilen gemäß §
410 Abs
3 Strafprozessordnung entspricht. Die in einem Strafbefehl erfolgten Feststellungen können also im Sinne eines Präjudizes im späteren Zulassungsentziehungsverfahren
zugrunde gelegt werden.
3. Die vorstehend unter 1. und 2. als grundsätzlich bedeutsam gekennzeichneten Fragen können hier allerdings nicht zur Revisionszulassung
führen. Das Urteil des LSG hat die Aufhebung der vom Beklagten ausgesprochenen Zulassungsentziehung auf den selbstständig
tragenden Gesichtspunkt gestützt, dass während der langen Dauer des bisherigen gerichtlichen Verfahrens ein ausreichend langes
Wohlverhalten vorliege. Damit hat das LSG nicht etwa - wie auf Seite 9 in der Beschwerdebegründung geltend gemacht wird -
den Rechtssatz aufgestellt, dass immer bereits dann von einem Wohlverhalten auszugehen ist, wenn weitere Pflichtverletzungen
nicht nachgewiesen sind. Vielmehr hält sich das Urteil des LSG im Rahmen der Rechtsprechung des BSG zum Vorliegen von Wohlverhalten
(hierzu siehe zuletzt zusammenfassend BSG, Urteil vom 19.7.2006 - B 6 KA 1/06 R -, MedR 2007, 131, 132 f, auch zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen). Hiernach kann eine an sich indizierte Ungeeignetheit nur durch eine
bloße lange Zeitdauer, die im Regelfall nach ca fünf Jahren ab der Verhandlung des Berufungsausschusses in Betracht kommt,
dann relativiert werden, wenn ein künftig rechtmäßiges Verhalten prognostiziert werden kann. Dies muss zweifelsfrei feststehen;
jeder ernstliche Zweifel, dass eine Verhaltensbesserung eingetreten ist, führt zur Verneinung von Wohlverhalten (BSG aaO S
132 f). Vorliegend gibt es nach den Feststellungen des LSG weder irgendwelche Indizien für eine immer noch bestehende Ungeeignetheit
noch Zweifel an einer Verhaltensänderung. Insbesondere sind solche Indizien oder Zweifel nicht vom Beklagten oder von den
die Zulassungsentziehung betreibenden Krankenkassen(-Verbänden) geltend gemacht worden. Auch in den umfänglichen Erörterungen
während des Berufungsverfahrens mit Nachfragen an die Beteiligten haben sich dafür keine Anhaltspunkte ergeben. Vielmehr hat
der Kläger sich einer Begutachtung unterzogen, die eine Persönlichkeitsstörung verneinte und auch sonst keine Zeichen einer
Neigung zu sexuellen Übergriffen erkennen ließ. Die Schlussfolgerungen und Feststellungen des LSG, alle diese Umstände reichten
für die Annahme eines Wohlverhaltens aus, lassen weder eine Abweichung von der Rechtsprechung des BSG noch eine Frage grundsätzlicher
Bedeutung erkennen. Welche Gesichtspunkte im Einzelnen bei der Prüfung des Wohlverhaltens von Bedeutung sind, entzieht sich
einer generalisierenden Beurteilung (BSG MedR 1997, 86, 87).
4. Von einer weiteren Begründung wird gemäß §
160a Abs
4 Satz 3 Halbsatz 2
SGG abgesehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 Abs
1 und 4 iVm §
194 SGG (in der bis zum 1.1.2002 geltenden und hier noch anzuwendenden Fassung).