Zulässigkeit einer Sachaufklärungsrüge, Wiederholung eines Beweisantrags, Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
Gründe:
I. Der im Jahre 1942 geborene Kläger hat bis zu seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland am 28. Januar 1996 in
Workuta in der ehemaligen UdSSR gelebt. Im September 1997 beantragte er die Gewährung einer Rente für Bergleute nach langjähriger
Untertagebeschäftigung und Vollendung des 50. Lebensjahres gemäß §
45 Abs
3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VI). Im Verwaltungsverfahren benannte der Kläger verschiedene Zeiträume zwischen dem 8. Juli 1968 und 9. Dezember 1995, in denen
er einer Untertagebeschäftigung nachgegangen sei. Im Hinblick auf einige Zeiten gab er an, in diesen monatlich 18 bzw 21 Schichten
unter Tage tätig gewesen zu sein. Für die Zeiträume 4. Januar 1976 bis 3. September 1980 und 1. Mai 1981 bis 31. Januar 1989
teilte der Kläger eine Tätigkeit unter Tage von monatlich 17 Schichten und für die Zeit vom 25. März 1993 bis 9. Dezember
1995 eine solche von 15 Schichten bei 6 Schichten im Übertagebereich mit. Mit eidesstattlicher Versicherung vom 24. November
1997 bestätigte der Kläger für die Zeit vom 1. Mai 1981 bis 31. Januar 1989 und für die Zeit vom 25. März 1993 bis 9. Dezember
1995 eine monatliche Untertagetätigkeit von 16 Tagen bei 5 Tagen Übertagetätigkeit. Mit Bescheid vom 30. Januar 1998 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 16. Juni 1998 lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil der Kläger in der Zeit vom 8. Juli 1968
bis 9. Dezember 1995 nur 125 Monate und nicht mindestens 25 Jahre mit ständigen Arbeiten unter Tage zurückgelegt habe. Das
Sozialgericht Hannover hat mit Urteil vom 29. August 2000 die Klage abgewiesen. Die hiergegen eingelegte Berufung des Klägers,
mit der er geltend machte, mindestens 21 Schichten im Monat unter Tage gearbeitet zu haben, hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
(LSG) mit Beschluss vom 22. März 2005 zurückgewiesen, nachdem es zuvor die Beteiligten mit Verfügungen vom 26. November 2004
und 2. Februar 2005 hinsichtlich einer Entscheidung durch Beschluss gemäß §
153 Abs
4 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) angehört hatte. Zur Begründung hat das LSG im Wesentlichen ausgeführt: Dem Kläger stehe der geltend gemachte Rentenanspruch
mangels Nachweises einer ausreichend langen Untertagetätigkeit nicht zu. Nach §
61 Abs
1 SGB VI seien ständige Arbeiten unter Tage solche Arbeiten nach dem 31. Dezember 1967, die ihrer Natur nach ausschließlich unter
Tage ausgeübt würden. Gemäß Abs 2 Nr 1 dieser Vorschrift würden den ständigen Arbeiten unter Tage Arbeiten gleichgestellt,
die nach dem Tätigkeitsbereich der Versicherten sowohl unter als auch über Tage ausgeübt würden, wenn sie während eines Kalendermonats
in mindestens 18 Schichten überwiegend unter Tage ausgeübt worden seien. Nach dem Arbeitsbuch des Klägers sei dieser vom 4.
Januar 1976 bis 3. September 1980 und 1. Mai 1981 bis 31. Januar 1989 als Revier-Markscheider sowie vom 25. März 1993 bis
9. Dezember 1995 als Bergwerks-Hauptmarkscheider beschäftigt gewesen. Nach den vom Kläger selbst ausgefüllten Fragebögen habe
er in diesen Zeiten nicht mindestens 18 Schichten überwiegend unter Tage gearbeitet. Etwas anderes bestätigten auch nicht
die Befragungen der vom Kläger benannten Zeugen S. und W.. Während der Zeuge S. nach ausführlichen Bemühungen des Senats nicht
habe erreicht werden können, habe der Zeuge W. schriftlich am 23. Juni 2004 mitgeteilt, dass es ihm bei der Größe der Grube
nicht mehr möglich sei, die entsprechenden Schichten des Klägers unter Tage anzugeben. Eine Vernehmung der Kinder des Klägers
habe der Senat nicht für geboten erachtet, da diese nicht bei dessen beruflicher Tätigkeit zugegen gewesen seien und von daher
keine eigenen Angaben zu den Beweisfragen hätten machen können. Die vom Kläger angegebenen möglichen Beobachtungen seiner
Kinder zur Anzahl der monatlich abzuleistenden Schichten seien nicht geeignet, eine konkrete Anzahl dieser Schichten in den
in Frage kommenden Monaten zu belegen.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Beschluss hat der Kläger Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt, mit der er das
Vorliegen von Verfahrensmängeln iS des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG in Form einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht gemäß §
103 SGG und seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß §
62 SGG rügt.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG Erfolg.
Die gerügten Verfahrensmängel liegen jedenfalls insoweit vor, als das LSG den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen
Gehörs (Art
103 Abs
1 Grundgesetz, §
62, §
128 Abs 2
SGG) verletzt hat.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör impliziert einen Anspruch auf Unterrichtung über alle entscheidungserheblichen Tatsachen,
insbesondere über Beweiserhebungen und ihre Ergebnisse. Denn als Ausfluss der Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs verbietet
§
128 Abs
2 SGG dem Gericht, seine Entscheidung auf Tatsachen oder Beweisergebnisse zu stützen, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern
konnten; eine Äußerung ist dem Beteiligten jedoch nur möglich, wenn das Gericht ihm Gelegenheit gibt, von den entscheidungserheblichen
Tatsachen Kenntnis zu nehmen. Dementsprechend sind insbesondere Schriftsätze der anderen Beteiligten (§
108 Satz 2
SGG), beigezogene Akten (BSG SozR 4-1500 §
118 Nr 1), Beweisaufnahmen und sonstige gerichtliche Aufklärungsmaßnahmen und ihre Ergebnisse (vgl §§
107,
116,
127 SGG) bekannt zu geben (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 8. Aufl 2005, §
62 RdNr 9). Hierzu gehört auch die Mitteilung, dass vom Gericht veranlasste Aufklärungsversuche gescheitert sind. Nur in diesem
Fall hat der die objektive Beweislast tragende Beteiligte die Möglichkeit, auf ggf vorhandene zusätzliche Wege der Sachaufklärung
hinzuweisen. Die Mitteilungspflicht gilt in besonderem Maße, wenn beim Beteiligten Kenntnisse über den Verbleib einer vom
Gericht nicht erreichten Auskunftsperson zu vermuten sind, nachdem sich gerade dieser Beteiligte auf dieses Beweismittel berufen
hat.
Das LSG hat gegen seine Mitteilungspflicht verstoßen. Nach dem Inhalt der vorliegenden Akten ist der Kläger ebenso wie die
Beklagte erst durch die Urteilsgründe davon unterrichtet worden, dass der Berufungssenat eine schriftliche Erklärung des Zeugen
S. einholen wollte und dass er schließlich davon absah, als es nicht gelang, den Aufenthaltsort des Zeugen zu ermitteln.
Der Kläger ist durch §
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 2
SGG nicht gehindert, seine Beschwerde auf diesen Verfahrensfehler zu stützen. Eine Gehörsrüge, die letztlich auf eine weitere
Beweiserhebung abzielt, setzt zwar voraus, dass sie sich auf einen bis zuletzt aufrechterhaltenen Beweisantrag bezieht, dem
das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist, da anderenfalls diese für die Sachaufklärungsrüge (§
103 SGG) normierte Beschränkung im Ergebnis leer liefe. Deshalb ist ein Beweisantrag, der nach Erhalt einer Anhörungsmitteilung nicht
wiederholt wird, nach ständiger Rechtsprechung des BSG grundsätzlich so zu behandeln, als habe er sich erledigt (stellvertretend:
BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 31; Beschluss vom 18. Februar 2003 - B 11 AL 273/02 B - Juris). Hieraus folgt jedoch nicht, dass auch der nach einer ersten Anhörungsmitteilung gestellte bzw ausdrücklich aufrechterhaltene
Beweisantrag als erledigt anzusehen ist, wenn er nach einer weiteren, nicht näher begründeten Anhörungsmitteilung nicht wiederholt
wird. In dieser prozessualen Situation würde der Zwang, einen Beweisantrag stets wiederholen zu müssen, zu einem endlosen
Hin und Her zwischen Anhörung und Beweisantrag führen, da das LSG unter Beachtung der Rechtsprechung des BSG auf den wiederholten
Beweisantrag mit einem erneuten Hinweis auf §
153 Abs
4 SGG reagieren müsste. Das Schweigen der Prozessbeteiligten auf eine nochmalige Anhörungsmitteilung ist infolgedessen nur dann
als Verzicht auf einen vorher gestellten Beweisantrag anzusehen, wenn besondere Umstände des Einzelfalls dafür sprechen (zum
Ganzen BSG vom 6. Juli 2006 - B 9a SB 52/05 B - mwN).
Nach der ersten Anhörungsmitteilung des LSG vom 26. November 2004 hat der Kläger mit Schriftsatz vom 13. Dezember 2004 seinen
Beweisantrag betreffend den Zeugen S. ausdrücklich aufrechterhalten. So hat der Kläger darauf hingewiesen, dass er den Vortrag
über seine Tätigkeit unter Tage und die Anzahl der Schichten ua durch das Zeugnis des J. S. unter Beweis gestellt habe, diesem
Beweisantrag bisher jedoch nicht nachgegangen worden sei. Es sind auch keine besonderen Umstände erkennbar, die es rechtfertigen
könnten, den Beweisantrag als erledigt anzusehen. Zwar hat die Beklagte zum Schriftsatz des Klägers mit Schriftsatz vom 28.
Januar 2005 ausführlich Stellung genommen, den das LSG diesem mit der zweiten Anhörungsmitteilung zur Kenntnis und evtl Stellungnahme
zugeleitet hat. Im oben genannten Schriftsatz hat die Beklagte sich indes nicht mit dem Antrag des Klägers auf Vernehmung
des Zeugen S. befasst. Schon deshalb bestand für den Kläger kein Anlass, erneut die Vernehmung des Zeugen S. zu beantragen.
Es kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, ob der vom Kläger formulierte Beweisantrag den gesetzlichen Anforderungen
(vgl §
118 Abs
1 SGG iVm §
373 Zivilprozessordnung) genügt hat. Das LSG hat durch seinen Versuch, den Zeugen S. zu vernehmen, selbst zum Ausdruck gebracht, von der Notwendigkeit
weiterer Ermittlungen, insbesondere zur Anzahl der vom Kläger unter Tage verrichteten Schichten überzeugt zu sein (vgl hierzu
BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 11). Deshalb kommt es auch nicht darauf an, inwieweit das LSG sich zu den betreffenden Ermittlungen
hätte gedrängt fühlen müssen.
Das LSG hat die eingeleitete Beweiserhebung ohne hinreichende Begründung nicht weiter verfolgt und die weitere Beweiserhebung
ohne objektiv ausreichenden Grund unterlassen (vgl hierzu Meyer-Ladewig in: ders/Keller/Leitherer,
SGG, 8. Aufl 2005 §
160 RdNr 18i). Das Gericht muss von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, Gebrauch machen
(BSGE 30, 192, 205). Von einer Beweisaufnahme darf es nur dann absehen bzw einen Beweisantrag nur dann ablehnen, wenn es auf die ungeklärte
Tatsache nicht ankommt, wenn sie also als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder unerreichbar
ist, wenn die behauptete Tatsache oder ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig
ist (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 8. Aufl 2005 §
103 RdNr 8 mwN). Das LSG hat die Vernehmung des Zeugen S. nicht weiterverfolgt, weil dieser weder unter der vom Kläger angegebenen
Anschrift noch unter den von verschiedenen Einwohnermeldeämtern benannten Adressen erreichbar war. Trotz dieser Bemühungen
stand jedoch nicht fest, dass der Zeuge unerreichbar ist. Nach den Darlegungen des Klägers erhält der Zeuge S. von der Beklagten
eine Rente, sodass diese über die gegenwärtige Wohnanschrift hätte befragt werden können.
Auf dem gerügten Verfahrensfehler kann die angegriffene Entscheidung auch beruhen. Hätte das LSG dem Kläger mitgeteilt, dass
es den Zeugen S. nicht hat erreichen können, hätte der Kläger das Berufungsgericht darüber informieren können, dass der Zeuge
von der Bundesknappschaft eine Rente bezieht und damit über diese ermittelbar ist. Nach entsprechender Auskunftserteilung
durch die Beklagte hätte das Berufungsgericht den Zeugen S. befragen können, ob er Auskunft über die Anzahl der vom Kläger
geleisteten Schichten unter Tage geben kann. Es wäre in diesem Fall nicht von vornherein ausgeschlossen, dass auf Grund der
Bekundungen des Zeugen S. hätte bewiesen werden können, dass der Kläger 25 Jahre im Monat mindestens 18 Schichten überwiegend
unter Tage beschäftigt gewesen ist. Ein günstigeres Ergebnis des Rechtsstreits wäre für den Kläger dann möglich gewesen.
Die Voraussetzungen des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG liegen somit vor. Der Senat hebt gemäß §
160a Abs
5 SGG in Ausübung seines Ermessens die angefochtene Berufungsentscheidung auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung an das LSG zurück. Da es im Rechtsstreit hauptsächlich um Tatsachenfeststellungen geht, sprechen prozessökonomische
Gründe für eine unmittelbare Zurückverweisung der Sache, zumal ein durch Zulassung eröffnetes Revisionsverfahren zu keinem
anderen Ergebnis führen könnte.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.