Parallelentscheidung zu BSG - v. 21.09.2016 - B 8 SO 126/15 B
Gründe:
I
Die Klägerin ist 1963 geboren, steht nicht unter Betreuung, und bezieht seit dem Jahr 2009 wegen eines seelischen Leidens
Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer sowie seit Januar 2013 Pflegegeld nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch - Soziale
Pflegeversicherung - (
SGB XI) wegen Einschränkungen der Alltagskompetenz in erheblichem Maß. Sie bewohnt zusammen mit einer anderen Person eine Wohnung.
Im Streit sind und waren in einer Vielzahl von Verfahren Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen)
nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).
Mit der im Juli 2014 erhobenen Klage macht die Klägerin nach den Ausführungen des Landessozialgerichts (LSG) ein Auskunftsbegehren
geltend; die Klage blieb in beiden Instanzen ohne Erfolg (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts [SG] Osnabrück vom 21.10.2014;
Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 9.7.2015). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, es fehle am
Rechtsschutzbedürfnis für die Klage. Deshalb habe es, selbst wenn die Klägerin partiell prozessunfähig sein sollte, nicht
der Bestellung eines besonderen Vertreters bedurft. Das Rechtsmittel sei "offensichtlich haltlos".
Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt die Klägerin als Verfahrensmangel, das LSG habe zu Unrecht von
der Bestellung eines besonderen Vertreters abgesehen; die Rechtsverfolgung sei nicht offensichtlich haltlos.
II
Die durch den vom Senat bestellten besonderen Vertreter und Prozessbevollmächtigten eingelegte Beschwerde gegen die Nichtzulassung
der Revision ist zulässig und begründet. Da der gerügte Verfahrensmangel vorliegt, konnte das angefochtene Urteil gemäß §
160a Abs
5 SGG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verstoß gegen §
72 Abs
1 SGG, weil das LSG zu Unrecht von der Bestellung eines besonderen Vertreters für die bereits im Klage- und Berufungsverfahren
prozessunfähige Klägerin abgesehen hat. Diese war deshalb im Berufungsverfahren nicht wirksam vertreten (§
202 SGG iVm §
547 Nr 4
Zivilprozessordnung); hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt wird, dass das Urteil des LSG auf ihm beruht.
Gemäß §
72 Abs
1 SGG kann der Vorsitzende des jeweiligen Spruchkörpers für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter
bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle
Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Prozessunfähig ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten
kann (vgl §
71 Abs
1 SGG), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des §
104 Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB) ist, weil sie sich gemäß §
104 Nr 2
BGB in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit
befindet und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Dabei können
bestimmte Krankheitsbilder auch zu einer sog partiellen Prozessunfähigkeit führen, bei der die freie Willensbildung nur bezüglich
bestimmter Prozessbereiche eingeschränkt ist. Soweit eine partielle Prozessunfähigkeit anzunehmen ist, erstreckt sie sich
auf den gesamten Prozess (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 65).
Eine solche partielle Prozessunfähigkeit im Hinblick auf die Führung von sozialgerichtlichen Rechtsstreitigkeiten ist auf
Grund der überzeugenden Feststellungen des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr I in dem vom Senat
beigezogenen Gutachten vom 26.8.2013 samt ergänzender gutachterlicher Stellungnahme vom 22.4.2014 (im Verfahren S 4 SO 62/13
des SG Osnabrück) anzunehmen, die im Wege des Urkundenbeweises verwertet worden sind. Insoweit wird zur näheren Begründung
auf die Ausführungen im Senatsbeschluss vom 21.9.2016 - B 8 SO 126/15 B - verwiesen.
Im Berufungsverfahren durfte nicht davon abgesehen werden, einen besonderen Vertreter für die partiell prozessunfähige Klägerin
zu bestellen. Steht die Prozessunfähigkeit für den Prozess fest, muss dieser grundsätzlich mit einem besonderen Vertreter
fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet und ein Betreuer nicht bestellt ist (im
Einzelnen zuletzt BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 9). Zwar sind Ausnahmen von der Vertreterbestellung für zulässig erachtet worden, wenn unter Anlegung eines strengen
Maßstabs das Rechtsmittel eines Prozessunfähigen "offensichtlich haltlos" ist (BSGE 5, 176, 178 f), was insbesondere bei absurden Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz oder bei offensichtlich unschlüssigem
Vorbringen anzunehmen ist, etwa wenn kein konkreter Streitgegenstand erkennbar ist, nur allgemeine Ausführungen ohne irgendeinen
Bezug zum materiellen Recht geäußert werden oder wenn das Vorbringen bereits mehrmals Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen
war (BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 10). Diese Ausnahmen liegen nicht vor.
Bei der prozessualen Begründung eines offensichtlich haltlosen Klagebegehrens, wie es das LSG mit einer aus anderen Gründen
als der Prozessunfähigkeit unzulässigen Klage seiner Entscheidung angenommen hat, ist jedoch besondere Zurückhaltung geboten
(BSG aaO). Ein haltloses Klagebegehren ist deshalb nicht zu bejahen, wenn zumindest nach Hinweisen des Vorsitzenden (§
106 SGG) unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes (vgl nur: BSGE 74, 77 ff = SozR 3-4100 §
104 Nr 11 S 49 ff; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl 2014, §
92 RdNr 12 mwN) ein besonderer Vertreter in der Lage wäre, im wohlverstandenen Interesse der Klägerin sachdienliche Klageanträge
mit hinreichendem Bezug zum materiellen Recht zu formulieren (BSG aaO).
Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.