Anspruch auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII; Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1 für erwachsene Leistungsberechtigte mit gemeinsamer Haushaltsführung mit anderen
Erwachsenen ohne Partner zu sein
Gründe:
I
Im Streit sind höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem
Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) für die Zeit vom 1.5.2011 bis 30.11.2011.
Der 1981 geborene Kläger ist schwerbehindert (Grad der Behinderung von 80; Merkzeichen "G", "H" und "B"). Er leidet ua an
einer mittleren Intelligenzminderung (Intelligenzquotient von höchstens 50) und Grand-Mal-Epilepsie. Er lebt gemeinsam mit
seiner Mutter, die auch seine Betreuerin ist, in einer Wohnung.
Der Beklagte bewilligte dem Kläger zunächst für die Zeit von Dezember 2010 bis November 2011 Grundsicherungsleistungen nach
dem SGB XII in Höhe von insgesamt 665,69 Euro unter Zugrundelegung eines Regelbedarfs in Höhe von 359 Euro nebst eines Mehrbedarfs für
Erwerbsgeminderte mit dem Merkzeichen "G" in Höhe von 61,03 Euro und anteiliger Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe
von 257,09 Euro, abzüglich eines anrechenbaren Einkommens aus einer Tätigkeit in der Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM)
in Höhe von 11,43 Euro (Bescheide vom 23.9.2010 und 20.12.2010). Ab 1.5.2011 hob der Beklagte diese Bescheide unter Hinweis
auf die geänderten Regelbedarfsstufen teilweise auf, bewilligte dem Kläger nur noch Grundsicherungsleistungen in Höhe von
insgesamt 565,57 Euro und legte dabei ua lediglich noch einen Regelsatz nach der Regelbedarfsstufe 3 in Höhe von 291 Euro
(80 vH) sowie einen Mehrbedarf für behinderte Menschen in Höhe von 49,47 Euro zugrunde (Bescheid vom 19.4.2011; Widerspruchsbescheid
vom 22.9.2011). Für August 2011 bewilligte der Beklagte aufgrund eines um einen Cent höheren Freibetrags für Werkstatteinkommen
insgesamt 565,58 Euro (Bescheid vom 25.7.2011).
Die Klage gegen diese Bescheide blieb ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts [SG] Potsdam vom 27.9.2012). Zur Begründung seiner
Entscheidung hat das SG ausgeführt, der Beklagte habe dem Kläger ab Mai 2011 zu Recht nur noch Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 3 in Höhe von
291 Euro gewährt. Der Kläger unterfalle der Regelbedarfsstufe 3, weil er im Haushalt seiner Mutter lebe und damit keinen eigenen
Haushalt führe. Die Höhe der seit dem 1.1.2011 geltenden Regelbedarfssätze sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Dass Leistungsberechtigte nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) ab Vollendung des 25. Lebensjahrs Anspruch auf den vollen Regelsatz hätten, beruhe auf Systemunterschieden zwischen dem
SGB II und SGB XII.
Mit seiner Sprungrevision rügt der Kläger, die Regelbedarfsstufe 3 sei verfassungswidrig. Sie verstoße insbesondere gegen
das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, weil ihr keine spezielle Sonderauswertung der Einkommens-
und Verbrauchsstichprobe 2008 zugrunde liege. Außerdem sei der allgemeine Gleichheitssatz des Art
3 Abs
1 Grundgesetz (
GG) dadurch verletzt, dass über 25jährige Leistungsbezieher nach dem SGB II den vollen Regelsatz erhielten. Schließlich verstoße der geringere Regelsatz nach der Regelbedarfsstufe 3 gegen Art
3 Abs
3 Satz 2
GG, weil der Gesetzgeber dadurch einen erwachsenen behinderten Menschen in eine Abhängigkeit zu anderen Haushaltsangehörigen
zwinge, die seinem Selbstbestimmungsrecht widerspreche. Der Gesetzgeber dürfe nicht unterstellen, dass die übrigen erwachsenen
Haushaltsmitglieder die überwiegenden Kosten der Haushaltsführung übernehmen wollten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des SG und die Bescheide des Beklagten vom 19.4.2011 und 25.7.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.9.2011 aufzuheben
und den Beklagten zu verurteilen, für die Zeit vom 1.5. bis 30.11.2011 höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des SG für zutreffend.
II
Die vom SG zugelassene Sprungrevision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das SG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung begründet (§
170 Abs
4 Satz 1 iVm Abs
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
Gegenstand des Verfahrens sind die Bescheide vom 19.4.2011 und 25.7.2011, letzterer gemäß §
86 SGG als Gegenstand des Widerspruchsverfahrens, in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.9.2011 (§
95 SGG) - und zwar in der Sache unbeschränkt. Ob der nach §
86 SGG Gegenstand gewordene Bescheid vom 25.7.2011 allerdings eine Regelung für die Zeit ab August 2011 oder nur für August selbst
(so die Auslegung des SG) oder gar für die Zeit davor trifft, wird das SG im wiedereröffneten Verfahren genauer zu prüfen haben; ggf wird es auch zu beachten haben, ob im Widerspruchsverfahren sozial
erfahrene Dritte gemäß § 116 Abs 2 SGB XII beteiligt worden sind. Gegen die Bescheide wendet sich der Kläger zutreffend mit der kombinieren Anfechtungs- und Leistungsklage
(§
54 Abs
1 und 4, §
56 SGG), obwohl sich die Rechtmäßigkeit beider angefochtenen Entscheidungen an § 48 Abs 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) misst. Denn der Kläger macht nicht nur geltend, es sei mit Inkrafttreten der Neuregelungen durch das Gesetz zur Ermittlung
von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 (BGBl I 453; RBEG/SGB II/SGB XII-ÄndG) zum 1.1.2011 (vgl Art 14 Abs 1 RBEG/SGB II/SGB XII-ÄndG) keine Änderung
zu seinen Lasten eingetreten. Vielmehr macht er höhere Grundsicherungsleistungen unter jedem denkbaren Gesichtspunkt geltend.
Dieses Ziel kann er nicht allein mit der Anfechtung der Bescheide erreichen.
Ob mit den zum 1.1.2011 in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in den rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass des (begünstigenden)
Verwaltungsaktes vom 23.9. bzw 20.12.2010 unter Berücksichtigung des Bescheids vom 25.7.2011 vorgelegen haben, eine wesentliche
Änderung der Verhältnisse eingetreten ist, wie dies § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X voraussetzt, und ob diese in Bezug auf die Höhe der bewilligten Leistungen (ggf ausschließlich) begünstigenden oder belastenden
Charakter haben, also einen Anspruch des Klägers auf höhere Leistungen gegen den örtlich und sachlich zuständigen Beklagten
begründen, kann nicht abschließend entschieden werden, weil ausreichende Feststellungen des SG zur Anspruchshöhe fehlen. Gemäß § 19 Abs 2 SGB XII iVm § 41 Abs 1 und 3 SGB XII (jeweils idF des RBEG/SGB II/SGB XII-ÄndG) erhalten Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die das 18. Lebensjahr
vollendet haben und dauerhaft voll erwerbsgemindert sind, auf Antrag Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung,
wenn sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht aus Einkommen und Vermögen nach den §§ 82 bis 84 und 90 SGB XII bestreiten können. Die Anspruchsvoraussetzungen für solche Leistungen dem Grunde nach erfüllte der Kläger, weil er nach den
Feststellungen des SG neben dem Einkommen aus seiner Tätigkeit in einer WfbM kein weiteres Einkommen bezog und vermögenslos war.
Die Höhe der Ansprüche auf Grundsicherungsleistungen für die Zeit ab dem 1.1.2011 richtet sich nach § 42 Nr 1 SGB XII in der zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Fassung des RBEG/SGB II/SGB XII-ÄndG, wobei sich eine Verminderung des Regelbedarfs
aus Anlass der Neuregelung wegen der Übergangsregelung in § 137 SGB XII vor dem 1.4.2011 nicht zu Lasten der Betroffenen auswirken kann. Danach umfassen die Grundsicherungsleistungen unter anderem
die Regelsätze nach den Regelbedarfsstufen der Anlage zu § 28 SGB XII; ergänzend ist § 27a Abs 3 und Abs 4 Satz 1 und 2 SGB XII (in der Normfassung dieses Gesetzes) anzuwenden. Zur Deckung des Regelbedarfs sind danach monatliche Regelsätze zu gewähren,
die sich nach den Regelbedarfsstufen der Anlage zu § 28 SGB XII ergeben (§ 27a Abs 3 Satz 1 SGB XII). Gemäß der Anlage zu § 28 SGB XII erhält seit dem 1.1.2011 Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1 in Höhe von 364 Euro eine erwachsene leistungsberechtigte
Person, die als alleinstehende oder alleinerziehende Person einen eigenen Haushalt führt; dies gilt auch dann, wenn in diesem
Haushalt eine oder mehrere weitere erwachsene Personen leben, die der Regelbedarfsstufe 3 zuzuordnen sind. Leistungen der
Regelbedarfsstufe 2 in Höhe von 328 Euro (mithin 90 vH der Regelbedarfsstufe 1) werden demgegenüber gewährt für jeweils zwei
erwachsene Leistungsberechtigte, die als Ehegatten, Lebenspartner oder in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher
Gemeinschaft einen gemeinsamen Haushalt führen. Die Regelbedarfsstufe 3, die Leistungen in Höhe von 291 Euro (80 vH der Regelbedarfsstufe
1) vorsieht, gilt für eine erwachsene leistungsberechtigte Person, die weder einen eigenen Haushalt führt, noch als Ehegatte,
Lebenspartner oder in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft einen gemeinsamen Haushalt führt. Für Kinder
und Jugendliche sind - abhängig von ihrem Alter - die weiteren Regelbedarfsstufen 4 bis 6 gebildet.
Von der jeweils maßgeblichen Regelbedarfsstufe leitet sich auch die Höhe des Mehrbedarfs nach § 42 Nr 2 SGB XII iVm § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII (in der Normfassung des RBEG/SGB II/SGB XII-ÄndG) - Merkzeichen "G" - ab, der dem Kläger zustand, sofern nicht - wofür bislang
keine Anhaltspunkte vorliegen - ein abweichender Bedarf bestand. Entgegen der Auffassung des Beklagten wird der notwendige
Regelbedarf des Klägers, der mit seiner Mutter in einem Haushalt lebt, nicht von vornherein mit der Regelbedarfsstufe 3 beschrieben.
Diese Auslegung legt schon der Wortlaut der Anlage zu § 28 SGB XII nahe; aus der Systematik des Gesetzes und seinem Zweck sowie der Entstehungsgeschichte der Vorschriften folgt dies vor dem
Hintergrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art
1 Abs
1 GG iVm Art
20 Abs
1 GG und Art
3 Abs
1 und Abs
3 Satz 2
GG zwingend, wie der Senat in seiner Entscheidung vom 23.7.2014 (B 8 SO 14/13 R) ausführlich dargestellt hat; zur Vermeidung
von Wiederholungen wird hierauf verwiesen.
Leben erwachsene nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte zusammen mit ihren Eltern in einem Haushalt, gilt Gleiches, selbst
wenn diese Konstellation nach der Begründung der entsprechenden Regelungen im Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales
angeblich der Hauptanwendungsfall für die Regelbedarfsstufe 3 ist (vgl BT-Drucks 17/4095, S 27 f und S 40 f). Es muss indes
typisierend bei familienhaftem Zusammenleben von behinderten und nicht behinderten Menschen, gerade auch beim Zusammenleben
von Eltern mit ihren behinderten erwachsenen Kindern, davon ausgegangen werden, dass die hilfebedürftige Person der Regelbedarfsstufe
1 (gemeinsamer eigener, kein fremder Haushalt) unterfällt, ergänzt durch die gesetzliche Vermutungsregelung des § 39 Satz 1 1. Halbsatz SGB XII (Senatsentscheidung vom 23.7.2014, aaO). Denn die zu fordernde Beteiligung an der Haushaltsführung muss sich auch hier an
den jeweiligen individuellen Fähigkeiten des behinderten Menschen orientieren.
Das entsprechende Leitbild normiert §
1626 Abs
2 Satz 1
Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB) für die Pflege und Erziehung des (minderjährigen) Kindes, wonach Eltern dabei die wachsende Fähigkeit und das wachsende
Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln berücksichtigen. Gegenüber einer (nach heutigen Maßstäben
entwicklungsgefährdenden) Inanspruchnahme elterlicher Befugnisse, als die die elterliche Sorge noch vor wenigen Jahrzehnten
verstanden wurde, stellt sich §
1626 Abs
2 Satz 1
BGB als bewusste Selbstbeschränkung der Eltern zur Förderung der Persönlichkeitsentwicklung ihres Kindes dar (vgl etwa Huber
in Münchener Komm zum
BGB, 6. Aufl 2012, §
1626 BGB RdNr 61 mwN). Dieses gesetzgeberische Verständnis von Elternverantwortung findet wegen der Volljährigkeit des Klägers zwar
unmittelbar auf die zur Entscheidung stehende Konstellation keine Anwendung; es entspricht gleichwohl typisierend dem Bild
eines familienhaften Zusammenlebens auch mit behinderten erwachsenen Kindern, und zwar insbesondere dann, wenn das Kind -
wie hier - bei der Aufenthaltsbestimmung unter Betreuung durch das Elternteil steht, mit dem es zusammen lebt. Denn auch das
Handeln des Betreuers ist am Wohl des Betreuten auszurichten und nach dessen Fähigkeiten entsprechend seinen eigenen Wünschen
und Vorstellungen zu gestalten die Ziele der Rehabilitation behinderter Menschen sind dabei besonders in den Blick zu nehmen
(vgl §
1901 Abs
2 und
4 BGB).
Dem Bestreben, das Kind über seine Volljährigkeit hinaus mit dem Ziel der größtmöglichen Selbständigkeit zumindest in Teilbereichen
des Lebens zu fördern, stünde die Annahme entgegen, anknüpfend an die Schwere einer dauerhaften körperlichen, geistigen oder
seelischen Beeinträchtigung, damit an die Auswirkungen einer Behinderung, würde einem Kind im elterlichen Haushalt per se
eine geringere Selbständigkeit als zB in einer ambulant betreuten Wohngruppe zukommen. Ein solches Verständnis liefe neben
dem Verbot der Benachteiligung von behinderten Menschen aus Art
3 Abs
3 GG und dem Diskriminierungsverbot auch der Verpflichtung des Staates aus Art
23 Abs 3 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13.12.2006 (UN-Behindertenrechtskonvention
iVm dem Gesetz vom 21.12.2008 - BGBl II 1419 -, in der Bundesrepublik in Kraft seit 26.3.2009 - BGBl II 812) zuwider, wonach
die Vertragsstaaten gewährleisten, dass Kinder mit Behinderungen gleiche Rechte in Bezug auf das Familienleben haben. Ein
"fremder Haushalt" kann mithin nur vorliegen, wenn bei dem behinderten Menschen entgegen der gesetzlichen Vermutung keinerlei
eigenständige oder nur eine gänzlich unwesentliche Beteiligung an der Haushaltsführung vorläge. Die materielle Beweislast
liegt insoweit bei dem Beklagten; allerdings bedürfte es zu diesem neuen rechtlichen Gesichtspunkt noch eines qualifizierten
Vortrags, damit das SG überhaupt in weitere Ermittlungen eintreten muss.
Soweit in der Gesetzesbegründung ausgeführt wird, dass (jedenfalls) weit überwiegend "haushaltsführende" Eltern im Haushalt
mit ihren erwachsenen nicht erwerbsfähigen Kindern die Kosten der Haushaltsführung allein tragen (BT-Drucks 17/4095, S 40
f), ist dies ohne Bedeutung. Auf die Frage, wer die Kosten der Haushaltsführung trägt, kommt es bei der Zuordnung der Leistungsberechtigten
zur Regelbedarfsstufe 1 gerade nicht an (Senatsentscheidung vom 23.7.2014, aaO).
Das SG wird über die Leistungshöhe insgesamt und ggf über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.