Auswirkungen einer Prozessunfähigkeit
Ausnahmen von einer Vertreterbestellung
Haltloses Begehren
1. Steht die Prozessunfähigkeit eines Klägers für den Prozess fest, kann dieser grundsätzlich nur mit einem besonderen Vertreter
fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet ist und das Amtsgericht von der Bestellung
eines Betreuers abgesehen hat.
2. Zwar sind Ausnahmen von der Vertreterbestellung dann für zulässig erachtet worden, wenn das Rechtsmittel unter Anlegung
eines strengen Maßstabs "offensichtlich haltlos" ist, was insbesondere bei absurden Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz
oder bei offensichtlich unschlüssigem Vorbringen anzunehmen ist, etwa wenn kein konkreter Streitgegenstand erkennbar ist,
der Kläger nur allgemeine Ausführungen ohne irgendeinen Bezug zum materiellen Recht macht oder wenn sein Vorbringen bereits
mehrmals Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen war.
3. Ein solches haltloses Begehren liegt aber regelmäßig nicht schon dann vor, wenn das LSG die Berufung (aus anderen Gründen
als der Prozessunfähigkeit) als unzulässig angesehen hat.
Gründe:
I
Der 1958 geborene, nicht unter Betreuung stehende Kläger, der an einer paranoiden Persönlichkeits- und einer rezidivierenden
depressiven Störung leidet, ist voll erwerbsgemindert und bezieht Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
(Grundsicherungsleistungen) nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII). Seine (wiederholten) Anträge auf Übernahme von Kosten für den Mitgliedsbeitrag eines Automobilclubs, für Medikamente sowie
für ein fachpsychiatrisches Gutachten und seinen Antrag auf höhere Leistungen unter Berücksichtigung eines geringeren Einkommens,
das sich um seine Aufwendungen für die Verlängerung seiner Fahrerlaubnis vermindere, lehnte der Beklagte ab. Die beim Sozialgericht
(SG) Gießen erhobenen Klagen blieben ohne Erfolg.
Das hiergegen jeweils angerufene Hessische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufungen des Klägers als unzulässig verworfen
(Beschlüsse vom 19.3.2014, 26.3.2014, 9.4.2014). Die Berufungen seien unzulässig, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes
jeweils 750 Euro nicht übersteige und die Berufung im jeweiligen Urteil des SG nicht zugelassen worden sei.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revisionen in den bezeichneten Beschlüssen rügt der Kläger einen Verfahrensmangel
(§
160 Abs
2 Nr
3 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Das LSG habe zu Unrecht von der Bestellung eines besonderen Vertreters nach §
72 SGG abgesehen, weil auch in der Sache keine offensichtlich haltlose Rechtsverfolgung vorliege.
II
Die durch den vom Senat bestellten besonderen Vertreter des Klägers eingelegte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision
ist zulässig. Sie genügt hinsichtlich der geltend gemachten Verfahrensfehler den Bezeichnungserfordernissen des §
160a Abs
2 Satz 3 iVm §
160 Abs
2 Nr
3 SGG. Da die gerügten Verfahrensmängel auch vorliegen, konnten die angefochtenen Beschlüsse gemäß §
160a Abs
5 SGG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Die angefochtenen Entscheidungen beruhen auf einem Verstoß gegen §
72 Abs
1 SGG, weil das LSG zu Unrecht von der Bestellung eines besonderen Vertreters für den bereits in den Klage- und Berufungsverfahren
prozessunfähigen Kläger abgesehen hat. Der Kläger war dadurch im Verfahren nicht wirksam vertreten (§
202 SGG iVm §
547 Nr 4
Zivilprozessordnung [ZPO]); hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt wird, dass die Entscheidung des LSG auf ihm beruht
(zu dieser Voraussetzung siehe §
162 SGG).
Gemäß §
72 Abs
1 SGG muss der Vorsitzende des jeweiligen Spruchkörpers für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter
bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle
Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Prozessunfähig ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten
kann (vgl §
71 Abs
1 SGG), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des §
104 Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB) ist, weil sie sich gemäß §
104 Nr 2
BGB in einem nicht nur vorübergehenden die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit
befindet und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Dabei können
bestimmte Krankheitsbilder auch zu einer sog partiellen Prozessunfähigkeit führen, bei der die Willensbildung nur bezüglich
bestimmter Prozessbereiche eingeschränkt ist. Soweit eine solche partielle Prozessunfähigkeit anzunehmen ist, erstreckt sie
sich auf den gesamten Prozess (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 65).
Eine solche partielle Prozessunfähigkeit im Hinblick auf die Führung von sozialgerichtlichen Rechtsstreitigkeiten liegt beim
Kläger vor, wie der Senat im Einzelnen in dem Beschluss vom 8.4.2014 (B 8 SO 48/13 B) unter Bezugnahme auf aktenkundige psychiatrische
Gutachten ausgeführt hat; zur Vermeidung von Wiederholungen wird hierauf Bezug genommen.
In den Berufungsverfahren durfte nicht davon abgesehen werden, einen besonderen Vertreter zu bestellen. Steht - wie vorliegend
- die Prozessunfähigkeit für den Prozess fest, kann dieser grundsätzlich nur mit einem besonderen Vertreter fortgeführt werden,
wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet ist und - wie hier - das Amtsgericht von der Bestellung eines
Betreuers abgesehen hat (im Einzelnen zuletzt BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 9). Zwar sind Ausnahmen von der Vertreterbestellung dann für zulässig erachtet worden, wenn das Rechtsmittel unter
Anlegung eines strengen Maßstabs "offensichtlich haltlos" ist (BSGE 5, 176, 178 f), was insbesondere bei absurden Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz oder bei offensichtlich unschlüssigem
Vorbringen anzunehmen ist, etwa wenn kein konkreter Streitgegenstand erkennbar ist, der Kläger nur allgemeine Ausführungen
ohne irgendeinen Bezug zum materiellen Recht macht oder wenn sein Vorbringen bereits mehrmals Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen
war (BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 10).
Ein solches haltloses Begehren liegt aber regelmäßig nicht schon dann vor, wenn - wie hier - das LSG die Berufung (aus anderen
Gründen als der Prozessunfähigkeit) als unzulässig angesehen hat. Da der Kläger auch vor dem SG nicht ordnungsgemäß vertreten war, lag jedenfalls ein Verfahrensmangel vor, der bei Beratung durch das Gericht auf entsprechende
Beschwerde hin (vgl §
144 Abs
2 Nr
3 SGG) einer Überprüfung durch das LSG zugänglich wäre. Es ist darüber hinaus nicht erkennbar, dass jedenfalls die im Klagewege
geltend gemachten Ansprüche des Klägers auf Übernahme von Kosten für Medikamente von vornherein ein haltloses Klagebegehren
ohne jeden Rückhalt im Gesetz darstellen. Es ist damit nicht ausgeschlossen, dass zumindest nach Hinweisen des Vorsitzenden
(§
106 SGG) unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes (vgl nur: BSGE 74, 77 ff = SozR 3-4100 § 104 Nr 11 S 49 ff) ein besonderer Vertreter oder ein von diesem bestellter Prozessbevollmächtigter in
der Lage ist, im wohlverstandenen Interesse des Klägers sachdienliche Anträge mit hinreichendem Bezug zum materiellen Recht
zu formulieren.
Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.