Sozialrechtliche Handlungsfähigkeit minderjähriger Gewaltopfer
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über den Beginn von Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz (
OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Die im Oktober 1983 geborene Klägerin wurde über Jahre hinweg von ihrem Stiefvater sexuell schwer missbraucht. Am 4. Februar
1998 verließ sie die elterliche Wohnung; seither lebt sie in einem Jugendheim. Der Stiefvater wurde im Dezember 1998 angezeigt
und am 16. Juni 1999 vom Landgericht Halle wegen vier konkreter Taten, davon einer letzten am 3. Februar 1998, zu einer Freiheitsstrafe
verurteilt.
Am 3. April 2000 beantragte die Klägerin Beschädigtenversorgung nach dem
OEG. Der Beklagte erkannte eine "Persönlichkeitsstörung mit vorwiegend sensitiven, depressiven und katatonen Zügen" als Schädigungsfolge
an und bewilligte ab 1. April 2000 Beschädigtengrundrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 vH (Bescheid
vom 24. Oktober 2000; Widerspruchsbescheid vom 23. April 2002).
Das Sozialgericht (SG) Halle hat die auf einen Leistungsbeginn bereits ab 1. Februar 1998 gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 8. Oktober 2002).
Dabei hat es darauf abgestellt: Nach dem im Opferentschädigungsrecht entsprechend anwendbaren § 60 Abs 1 Satz 1 BVG beginne die Beschädigtenversorgung frühestens mit dem Antragsmonat, hier also am 1. April 2000. Die Ausnahmetatbestände nach
§ 60 Abs 1 Sätze 2 und 3 BVG lägen nicht vor. Das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (LSG) hat den Beklagten verurteilt, Grundrente nach einer MdE um
60 vH auch für die Zeit vom 1. Februar 1998 bis zum 31. März 2000 zu gewähren. Es hat sein Urteil vom 13. November 2003 auf
folgende Erwägungen gestützt: Versorgung sei nach § 60 Abs 1 Satz 2 BVG bereits für die Zeit vor der Antragstellung zu gewähren, vorausgesetzt, der Antrag werde innerhalb eines Jahres nach Eintritt
der Schädigung gestellt. Diese Frist habe die Klägerin selbst nicht versäumt. Die mit Vollendung des 15. Lebensjahres im Oktober
1998 eingetretene sozialrechtliche Handlungsfähigkeit wirke ausschließlich begünstigend, führe also nicht zu Nachteilen für
die Klägerin. Die Frist verlängere sich für die gesetzliche Vertreterin der Klägerin - ihre Mutter - , deren Verschulden sie
sich zurechnen lassen müsse, um die Zeit vom 4. Februar 1998 bis zum 24. Juni 1999 (Rechtskraft des Strafurteils). Während
dieses Zeitraums sei die Mutter durch Interessenkonflikt unverschuldet gehindert gewesen, Beschädigtenversorgung zu beantragen
(§ 60 Abs 1 Satz 3 BVG).
Der Beklagte macht mit seiner Revision geltend: Das Berufungsgericht habe § 60 BVG verletzt. Die Klägerin sei mit ihrem 15. Geburtstag am 11. Oktober 1998 sozialrechtlich handlungsfähig geworden, hätte also
innerhalb der Jahresfrist nach dem Anfang Februar 1998 abgeschlossenen schädigenden Vorgang Versorgung beantragen können.
Jedenfalls müsse sie sich das Verschulden ihrer Mutter als gesetzlicher Vertreterin zurechnen lassen. Die Mutter möge sich
zunächst zwar in einem Konflikt zwischen den Interessen ihres Ehemannes (des Täters) und der Tochter befunden haben. Ein solcher
Konflikt habe aber seit Aufnahme der strafrechtlichen Ermittlungen gegen den Täter im Dezember 1998 nicht mehr bestanden.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Sachsen-Anhalt vom 13. November 2003 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Halle
vom 8. Oktober 2002 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt die angegriffene Berufungsentscheidung.
II
Die Revision des Beklagten ist nicht begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Beschädigtenrente auch für die Zeit von Februar
1998 bis März 2000.
Nach §
1 Abs
1 Satz 1
OEG iVm § 60 Abs 1 Satz 1 BVG beginnt die Beschädigtenversorgung mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat,
hier also mit April 2000. Verzögert sich die Antragstellung um längstens ein Jahr nach Eintritt der Schädigung, so ist das
nach § 60 Abs 1 Satz 2 BVG unschädlich: Versorgung ist in diesem Fall auch für Zeiträume vor der Antragstellung zu leisten. Aus dieser Vorschrift allein
kann die Klägerin nichts für sich herleiten, weil die Schädigung nach der unangegriffenen Feststellung des LSG im Februar
1998 eingetreten, die Jahresfrist also - lange vor Antragstellung - im Februar 1999 abgelaufen war. Nach § 60 Abs 1 Satz 3 BVG verlängert sich die Jahresfrist aber um den Zeitraum, während dessen der Beschädigte ohne sein Verschulden verhindert war,
Versorgung zu beantragen. Das LSG hat zu Recht eine für den geltend gemachten Anspruch hinreichende Fristverlängerung angenommen.
Bei der Prüfung, inwiefern hinsichtlich der verspäteten Antragstellung ein unverschuldetes Hindernis vorlag, ist ab Oktober
1993 nicht allein auf die mit Vollendung des 15. Lebensjahres iS von §
36 Abs
1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB I) handlungsfähig gewordene Klägerin abzustellen, sondern grundsätzlich auch auf ihre personensorgeberechtigte Mutter (vgl
§
2, §§
1626 ff
Bürgerliches Gesetzbuch >BGB<), die insoweit auch ihre gesetzliche Vertreterin war (vgl §
1629 Abs
1 Satz 2
BGB). Soweit sein gesetzlicher Vertreter die rechtzeitige Antragstellung unterlassen hat, muss sich der Berechtigte die dadurch
verursachten Folgen entsprechend der in § 27 Abs 1 Satz 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) getroffenen Regelung sowie den zu §
67 Abs
1 Satz 2
SGG von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zurechnen lassen (vgl BSG SozR 3-3100 §
60 Nr 3 S 5). Dabei geht der Senat davon aus, dass die sozialrechtliche Handlungsfähigkeit in ihrem sachlichen Geltungsbereich
die Befugnisse des gesetzlichen Vertreters nicht verdrängt (aA allerdings zB Coester, FamRZ 1985, 982, 983 f; Gitter, in Bochumer Komm, §
36 SGB I RdNr 34; Krauskopf/Baier, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, §
36 SGB I RdNr 4; Mrozynski,
SGB I, 3. Aufl 2003, § 36 RdNr 4; von Wulffen, SGB X, §
11 RdNr 7); vielmehr tritt sie nach Maßgabe des §
36 SGB I ergänzend neben die gesetzliche Vertretungsmacht (ebenso zB Fastabend, in Hauck/Noftz,
SGB I, §
36 RdNr 7 f; Grüner/Dalichau,
SGB I, §
36 Anm III.1; Heinke/Marburger, in Koch/Hartmann, Die Rentenversicherung im SGB, §
36 SGB I RdNr 26; Jahn/Klose,
SGB I, §
36 RdNr 15; Kunz, ZfJ 1984, 392, 394; Robbers, DVBl 1987, 709, 715; Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Komm, §
36 SGB I RdNr 3; Wannagat/Thieme,
SGB I, §
36 RdNr 7).
Das Gesetz regelt die Stellung des gesetzlichen Vertreters im Wesentlichen mit Blick auf den Fall, dass der Minderjährige
von seiner Handlungsfähigkeit Gebrauch gemacht hat. Der Leistungsträger soll ihn dann über die Antragstellung und die erbrachten
Sozialleistungen unterrichten (vgl §
36 Abs
1 Satz 2
SGB I). Das wiederum gibt dem gesetzlichen Vertreter die Möglichkeit, die Handlungsfähigkeit des Minderjährigen ggf durch schriftliche
Erklärung gegenüber dem Leistungsträger einzuschränken (vgl §
36 Abs
2 Satz 1
SGB I). Darüber hinaus bedürfen die Rücknahme von Anträgen, der Verzicht auf Sozialleistungen und die Entgegennahme von Darlehen
der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters (vgl §
36 Abs
2 Satz 2
SGB I). Welche Befugnisse der gesetzliche Vertreter hat, wenn der Minderjährige bewusst oder unbewusst eine Antragstellung unterlässt,
ist im Gesetz nicht ausdrücklich bestimmt. Da die Vorverlagerung der Handlungsfähigkeit Minderjähriger einen Eingriff in das
elterliche Sorgerecht nach Art
6 Abs
2 Grundgesetz (
GG) darstellt, spricht mehr dafür, dieses gesetzgeberische Schweigen dahin zu deuten, dass die Eltern eines "passiven" 15jährigen
uneingeschränkt für diesen Sozialleistungsanträge stellen und verfolgen können (vgl dazu Robbers aaO).
Von dem Grundsatz, dass dem Minderjährigen ein Verschulden seines gesetzlichen Vertreters bei der verspäteten Antragstellung
zuzurechnen ist, hat der erkennende Senat dann eine Ausnahme gemacht, wenn ein Gewalttäter als alleiniger gesetzlicher Vertreter
des minderjährigen Hinterbliebenen seines Opfers für dieses keinen Versorgungsantrag nach dem
OEG stellt (BSGE 59, 40, 42 = SozR 3800 §
1 Nr 5): Es darf sich nicht nachteilig auf den Versorgungsanspruch eines Gewaltopfers auswirken, dass sein gesetzlicher Vertreter
den Widerspruch zwischen seinen Eigeninteressen (als Täter unentdeckt zu bleiben) und den Interessen der von ihm gesetzlich
vertretenen Hinterbliebenen zu Lasten letzterer löst. In einem solchen Fall lässt sich das pflichtwidrige Unterlassen des
Vertreters dem Vertretenen ausnahmsweise nicht zurechnen.
Entsprechendes gilt - wie das LSG zu Recht angenommen hat - auch für den vorliegenden Fall. Der vom Senat aufgestellte Rechtsgrundsatz
ist zu erweitern: Nach dem Schutzzweck des
OEG darf es auch nicht in der Hand von sorgeberechtigten Eltern, die dem Gewalttäter familiär und durch gleich gelagerte Interessen
eng verbunden sind, liegen, ihr Kind als Opfer einer Gewalttat von zügiger Entschädigung nach dem
OEG auszuschließen (vgl zum Parallelproblem der Verjährung im Zivil- und Strafrecht §
208 BGB, §
78b Strafgesetzbuch). Die Eltern stehen in einem Interessenkonflikt. Einerseits darf die Tat nicht offenbar werden, weil damit zumindest - auch
eigener - empfindlicher Ansehensverlust verbunden wäre und dem gewalttätigen Familienangehörigen Kriminalstrafe bis zum Freiheitsentzug
droht. Andererseits müssten sie in Erfüllung ihrer Pflichten dem Kind gegenüber für dieses einen Versorgungsantrag stellen
und hätten dabei grundsätzlich Tat und Täter anzugeben. Auch nach Einleitung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen kann eine
solche Konfliktlage fortbestehen. Dies ist insbesondere anzunehmen, wenn es den persönlichen Interessen der Eltern (oder des
personensorgeberechtigten Elternteils) zuwiderläuft, an der vollständigen Aufdeckung des Tatgeschehens irgendwie mitzuwirken;
sei es, dass dabei auch eine Vernachlässigung eigener elterlicher Aufsichts- und Fürsorgepflichten ans Licht kommen kann,
sei es, weil ein entsprechendes Vorgehen, insbesondere auch eine Antragstellung nach dem
OEG, zum Bruch der ihnen wichtigen Beziehungen zu dem straffällig gewordenen Familienangehörigen führen könnte. Räumen Eltern
in einer solchen Situation ihren eigenen und den damit eng verflochtenen Interessen des Gewalttäters den Vorrang ein, so scheitern
sie zwangsläufig bei der Erfüllung ihres, auch grundgesetzlich statuierten Auftrags (Art
6 Abs
2 Satz 1
GG), für ihr Kind zu "sorgen". Dem kindlichen Gewaltopfer ist ein solches tatbestimmtes und täterbezogenes Versagen ihrer gesetzlichen
Vertreter im Rahmen des § 60 Abs 1 BVG nicht als Verschulden anzulasten.
Nach den Umständen dieses Falles hat die personensorgeberechtigte Mutter der Klägerin über den Beginn der strafrechtlichen
Ermittlungen im Dezember 1998 hinaus in einem Konflikt der beschriebenen Art gestanden. Sie hatte ein starkes Interesse, nichts
zur Aufklärung der Missbrauchshandlungen ihres Ehemannes beizutragen; auch nicht durch einen Antrag auf Entschädigung der
Klägerin nach dem
OEG und dadurch ausgelöste Ermittlungen einer weiteren Behörde. Zum einen musste sie den Vorwurf einer Verletzung ihrer mütterlichen
Pflichten fürchten, weil sie die innerfamiliäre Straftat nicht verhindert hatte. Zum anderen wollte sie die eheliche Gemeinschaft
mit dem Täter offensichtlich nicht gefährden. Das ergibt sich schon aus ihrer vom LSG dokumentierten Verhaltensweise: Sie
hat ihren Ehemann während der Untersuchungshaft häufig besucht und lebt seit seiner Freilassung wieder mit ihm zusammen.
Die Klägerin war nach Erreichen sozialrechtlicher Handlungsfähigkeit im Oktober 1998 unverschuldet gehindert, Beschädigtenrente
innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung zu beantragen (§ 60 Abs 1 Satz 3 BVG). An Verschulden fehlt es, weil die Klägerin die nach den Umständen des Falles zu erwartende zumutbare Sorgfalt beachtet
hat. Grundsätzlich gilt insoweit ein subjektiver Maßstab. Zu berücksichtigen sind insbesondere Geisteszustand, Reife, Alter,
Bildungsgrad und Geschäftsgewandtheit (vgl BSG SozR 3-3100 § 60 Nr 3). Bei Verletzungen des sexuellen Selbstbestimmungsrechts
- wie hier - ist außerdem entscheidend auf die Überlegungen des Gesetzgebers abzustellen, die dem - vom LSG in diesem Zusammenhang
bereits genannten - §
208 BGB zu Grunde liegen: Die Verjährung von Ansprüchen Minderjähriger ist auch nach Eintritt der vollen Geschäftsfähigkeit mit 18
Jahren bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gehemmt, weil die Opfer emotional häufig nicht in der Lage sind, ihre Ansprüche
wegen solcher Taten selbst zu verfolgen (BT-Drucks 14/7052, S 182). Dieses Defizit wurde hier auch nicht durch verständnisvollen
Rat und situationsangemessene Unterstützung ausgeglichen, wie sie Kindern von ihren Eltern regelmäßig zuteil werden. Denn
die Klägerin befand sich in der Lage eines minderjährigen, durch den eigenen Stiefvater missbrauchten Gewaltopfers, dessen
gesetzliche Vertreterin wegen des bestehenden Interessekonflikts gerade im Hinblick auf die
OEG-Antragstellung außer Stande war, für ihr Kind zu sorgen.