Rechtmäßigkeit der Aufhebung einer GdB-Neufeststellung für die Zukunft im Schwerbehindertenrecht nach Ablauf einer Zehnjahresfrist
nach einer unterlassenen Neubewertung nach Ablauf der Zeit einer Heilungsbewährung; Kein schützenswertes Vertrauen durch die
Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte sein Recht verwirkt hat, die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft
des Klägers aufzuheben.
Beim Kläger wurde im Juni 1992 ein bösartiges Geschwür des rechten Hoden diagnostiziert, der ebenso wie die dazugehörigen
Lymphknoten entfernt werden musste. Wegen dieser Krebserkrankung stellte das Versorgungsamt U. auf Antrag des Klägers dessen
Grad der Behinderung (GdB) mit 50 seit dem 1.6.1992 fest (Bescheid vom 20.1.1993) und stellte dem Kläger einen bis zum 30.6.1997
befristen Schwerbehindertenausweis aus. Zugrunde lag eine versorgungsärztliche Stellungnahme die ua vermerkt hatte, im Juni
1997 sei eine Nachprüfung erforderlich.
Ein im Dezember 1995 wegen einer Knochenzyste gestellter Neufeststellungsantrag des Klägers blieb erfolglos (Bescheid vom
17.1.1995). Auch die in diesem Zusammenhang erstellte versorgungsärztliche Stellungnahme erinnerte daran, der GdB von 50 müsse
im Juni 1997 wegen einer möglichen Heilungsbewährung überprüft werden. Trotzdem unterblieb die Nachprüfung. Stattdessen wurde
der Schwerbehindertenausweis des Klägers jeweils am 18.6.1997 und am 3.7.2002 befristet und am 28.6.2007 unbefristet verlängert.
Auf dem Formular der letzten internen Ausweisverfügung des Beklagten war "Nachprüfung nicht erforderlich" angekreuzt.
Am 21.12.2011 leitete das Landratsamt O. von Amts wegen eine Nachprüfung ein, hörte den Kläger dazu an und hob den Bescheid
vom 20.1.1993 nach § 48 SGB X auf. Nach Heilungsbewährung liege seit dem 3.6.2012 kein GdB von mindestens 20 mehr vor (Bescheid vom 31.5.2012 idF des Widerspruchsbescheids
vom 7.8.2012). Das SG hat medizinisch ermittelt und auf dieser Grundlage den Aufhebungsbescheid des Beklagten (Land Baden-Württemberg) seinerseits
aufgehoben. Zwar sei der GdB an sich nur noch mit weniger als 20 zu bemessen, weil der Zeitraum der Heilungsbewährung abgelaufen
und keine nennenswerten Gesundheitsstörungen hinzugetreten seien. Der Beklagte habe aber sein Aufhebungsrecht verwirkt und
sei daher an die ursprüngliche höhere Feststellung gebunden (Urteil vom 28.2.2014).
Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG das SG-Urteil aufgehoben und die Klage gegen den Aufhebungsbescheid abgewiesen. Die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 S 1 SGB X lägen wegen der erfolgreichen Heilungsbewährung vor. § 48 Abs 4 S 1 SGB X iVm § 45 Abs 3 S 3 SGB X stehe der Aufhebung nicht entgegen, sondern schließe nach Ablauf von zehn Jahren lediglich eine rückwirkende Aufhebung aus.
Der Senat folge insoweit der vom BSG (Urteil vom 11.12.1992 - 9a RV 20/90) vertretenen Auffassung. Für sie spreche auch die inzwischen erfolgte Erweiterung des
§ 45 Abs 3 SGB X. Verwirkt habe der Beklagte das Aufhebungsrecht nicht; es fehle jedenfalls an der erforderlichen Vertrauensbetätigung des
Klägers (Urteil vom 30.1.2015).
Mit seiner Revision macht der Kläger weiterhin geltend, der Beklagte habe sein Aufhebungsrecht verwirkt. Dieser habe in den
Jahren 2002 und 2007 zweimal seine Schwerbehinderteneigenschaft bestätigt und danach den Schwerbehindertenausweis unbefristet
verlängert. Er habe daher nicht mehr von einer wesentlichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse ausgehen können, sondern
auf das Fortbestehen seiner Eigenschaft als Schwerbehinderter vertrauen können. Sein Vertrauen verdiene Schutz, weil die Schwerbehinderteneigenschaft
seinen Kündigungsschutz verstärkt, ihm einen steuerlichen Vorteil sowie die Option einer früheren Rente verschafft habe. Fehler
habe allein der Beklagte begangen.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 30. Januar 2015 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das
Urteil des SG Ulm vom 28. Februar 2014 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er beruft sich auf die Ausführungen des angefochtenen Urteils.
II
Die zulässige Revision ist unbegründet und zurückzuweisen (§170 Abs
1 S 1
SGG), weil die vom Kläger nach §
54 Abs
1 Alt 1
SGG zulässig erhobene isolierte Anfechtungsklage gegen die Aufhebung seiner Schwerbehinderteneigenschaft unbegründet ist. Der
angefochtene Bescheid des Beklagten vom 31.5.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7.8.2012 war rechtmäßig und
verletzte den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Beklagte durfte seinen Aufhebungsbescheid auf § 48 SGB X stützen (1.); seine Aufhebungsbefugnis ist nicht verwirkt (2.).
1. Der Beklagte hat den Ausgangsbescheid vom 20.1.1993 zu Recht gemäß § 48 Abs 1 S 1 SGB X aufgehoben. Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit
in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.
Die erforderlichen formellen Voraussetzungen der Aufhebung hat der Beklagte erfüllt, indem er den Kläger vorab ordnungsgemäß
schriftlich angehört und seinen Bescheid ausreichend begründet hat, § 24 Abs 1 und § 35 Abs 1 SGB X.
Auch die materiellen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage des § 48 Abs 1 S 1 SGB X lagen im entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids als letzter maßgeblicher Verwaltungsentscheidung (vgl
Zeihe,
SGG, Stand April 2015, § 54 RdNr 2d; BSG Urteil vom 27.10.1976 - 2 RU 127/74 - SozR 2200 § 690 Nr 4 = BSGE 43, 1-9 = SozR 1500 § 131 Nr 4) vor. Bei der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft im Bescheid vom 20.1.1993 handelt es
sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung iS von § 48 SGB X (vgl BSG Urteil vom 12.11.1996 - 9 RVs 5/95 - BSGE 79, 223, 225 = SozR 3-1300 § 48 Nr 57 S 128 f mwN). Seine tatsächlichen Grundlagen hatten sich durch den erfolgreichen Ablauf der
Periode der Heilungsbewährung beim Kläger im Sinne dieser Vorschrift entscheidungserheblich geändert.
Gemäß Nr 26.1 Abs 3 Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht
(AHP) bzw jetzt Teil B Nr 1 c der Anlage "Versorgungsmedizinische-Grundsätze" zur Versorgungsmedizin-Verordnung (Anl VersMedV) ist nach Behandlung bestimmter Krankheiten, die zu Rezidiven neigen, insbesondere bei bösartigen Geschwulsterkrankungen,
eine Heilungsbewährung abzuwarten. Der Zeitraum der Heilungsbewährung beträgt in der Regel fünf Jahre, und zwar ab dem Zeitpunkt,
an dem die Geschwulst durch Operation oder andere Primärtherapie als beseitigt angesehen werden kann. Die hinsichtlich der
häufigsten und wichtigsten solcher Krankheiten angegebenen GdB/MdE/GdS-Anhaltswerte sind auf den "Zustand nach operativer
oder anderweitiger Beseitigung der Geschwulst bezogen". Sie beziehen den "regelhaft verbleibenden Organ- oder Gliedmaßenschaden
ein". Außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung - zB langdauernde schwere Auswirkungen einer wiederholten
Chemotherapie - sind gegebenenfalls zusätzlich zu berücksichtigen (BSG Urteil vom 2.12.2010 - B 9 SB 4/10 R - Juris RdNr 22). Wegen dieser Pflicht der Versorgungsbehörden, trotz der grundsätzlich vorgesehenen Pauschalierung besonders
gelagerten Einzelfallkonstellationen zu Gunsten der Betroffenen Rechnung zu tragen (vgl BSG Urteil vom 2.12.2010 - B 9 SB 4/10 R - Juris; BSG Urteil vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 10), begegnen die Regeln über die Heilungsbewährung keinen grundsätzlichen gleichheitsrechtlichen Bedenken.
Sie lassen den Versorgungsbehörden ausreichend Spielraum dafür, in jedem Einzelfall den Gleichheitsgrundsatz ausreichend zur
Geltung zu bringen. Verfassungsrechtliche Erwägungen zwingen daher nicht dazu, das Modell der Heilungsbewährung zu überarbeiten.
Bestehen - wie beim Kläger - keine solchen außergewöhnlichen Folgen oder Begleiterscheinungen der Krebserkrankung, so legt
die VersMedV die Höhe des GdB pauschal fest. Erst für die Zeit danach ist der GdB nach den konkreten Auswirkungen der vorliegenden Gesundheitsstörungen
zu bemessen (vgl dazu Teil A Nr 2 Anl VersMedV und BSG Beschluss vom 9.12.2010 - B 9 SB 35/10 B - Juris RdNr 7). Beruht daher die Höhe des GdB auf einer Erkrankung, für welche die einschlägigen Normen einen erhöhten GdB-Wert
während des Zeitraums der Heilungsbewährung ansetzen, ändert das Verstreichen dieses Zeitraums die wesentlichen, dh rechtserheblichen
tatsächlichen Verhältnisse, die der Feststellung des GdB zugrunde lagen (vgl BSG Urteil vom 12.2.1997 - 9 RVs 12/95 - Juris RdNr 14 mwN).
So lag der Fall des Klägers. Der Beklagte hatte bei ihm wegen seiner durchlittenen Krebserkrankung (Hodentumor) nach Teil
A Nr 26.13 AHP 1983 (vgl jetzt Teil B Nr 13.6., Teil B Nr 3.7 Anl VersMedV) für die Zeit einer Heilungsbewährung von fünf Jahren einen pauschalen GdB von 50 angesetzt. Bereits 1997 war diese Zeitspanne
abgelaufen. Die nunmehr anstelle pauschaler Bemessung zugrunde zu legenden tatsächlichen Umstände rechtfertigten beim Kläger
nach den für den Senat bindenden Feststellungen der Instanzgerichte einen GdB-Wert von nur noch unter 20.
Die von § 48 Abs 4 S 1 SGB X angeordnete "entsprechende" Anwendung des § 45 Abs 3 S 3 SGB X steht einer Aufhebung der GdB-Feststellung wegen dieser Änderung der tatsächlichen Verhältnisse nicht entgegen. Nach §
45 Abs
3 S 3
SGG kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt auch bei vorwerfbarem Verhalten des Begünstigten nur bis zum Ablauf
von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Das LSG hat unter Verweis auf die Rechtsprechung des Senats
(BSG Urteil vom 11.12.1992 - 9a RV 20/90 - SozR 3-1300 § 48 Nr 22 = BSGE 72, 1-7 = SozR 3-3100 § 61 Nr 1) zutreffend angenommen und im Einzelnen ausgeführt, dass die entsprechende Anwendung der Zehnjahresfrist
nach Systematik sowie Sinn und Zweck nicht dazu dient, einer wesentlichen Änderung nach zehn Jahren jegliche Bedeutung abzusprechen.
Vielmehr verbietet sie es lediglich nach Ablauf dieser Zeit, den Leistungsbescheid rückwirkend zu ändern und damit in abgeschlossene
Lebensvorgänge einzugreifen. Andererseits besteht kein überzeugender Grund, die Aufhebung des Ausgangsbescheids für die Zukunft
davon abhängig zu machen, wann die Änderung eingetreten ist. Unterbliebenen Verwaltungsakten, insbesondere dem Nichterlass
eines Aufhebungsbescheides, kann - anders als den von § 45 SGB X geregelten, von Anfang an unrichtigen Bescheiden - keine Bestandskraft zukommen. Im Fall der Änderung der Verhältnisse fehlt
es vielmehr hinsichtlich der neuen, nunmehr maßgebenden Sach- und Rechtslage an einer Verwaltungsentscheidung, die dem Betroffenen
Anlass geben könnte, sich auf die Unerheblichkeit der eingetretenen Änderung zu verlassen. Sein Interesse wird dadurch nicht
unzumutbar vernachlässigt. Bis der Aufhebungsbescheid wirksam wird, verbleibt ihm die Dauerleistung, die der Gesetzgeber ihm
nach der materiellen Rechtslage nicht zugedacht hatte (BSG aaO).
Der vorliegende Fall gibt keinen Anlass, dieses vom Senat 1992 gefundene Ergebnis infrage zu stellen. Die vom LSG thematisierte
Gesetzesänderung im Jahre 1998 (Gesetz zur sozialrechtlichen Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen vom 6.4.1998 - BGBl
I 1998, 688) hat die entscheidungserhebliche Vorschrift des § 45 Abs 3 S 3 SGB X unberührt gelassen und ihr lediglich zwei weitere, hier nicht einschlägige Sätze angefügt. Seitdem kann nach § 45 Abs 3 S 4 SGB X in den Fällen des § 45 Abs 3 S 3 SGB X - also bei Kenntnis oder grob fahrlässiger Unkenntnis der Rechtswidrigkeit bzw im Falle eines Widerrufsvorbehalts - ein rechtswidriger
Verwaltungsakt über eine laufende Geldleistung selbst noch nach Ablauf der Zehnjahresfrist zurückgenommen werden, wenn diese
Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme gezahlt wurde. War die Zehnjahresfrist
am 15.4.1998 bereits abgelaufen, ist die Aufhebung nach Satz 4 der Vorschrift nur noch für die Zukunft möglich. Mit der Neuregelung
wollte der Gesetzgeber die Rücknahme von Verwaltungsakten mit Dauerwirkung auch für die Vergangenheit insbesondere in Fällen
ermöglichen, in denen sich der Leistungsempfänger der Unrechtmäßigkeit der Zahlung bewusst war. Die Regelung sollte ausdrücklich
auf laufende Geldleistungen beschränkt sein (BT-Drucks 13/10033 S 20). Aus dieser Ausweitung der Rücknahmemöglichkeiten ergeben
sich keinerlei Anhaltspunkte für eine Absicht des Gesetzgebers, die dem Gesetzgeber bekannte Rechtsprechung des BSG und ihre Auslegung des Verweises von § 48 Abs 4 S 1 SGB X auf § 45 Abs 3 S 3 SGB X zu beseitigen und damit in bestimmten Konstellationen die Befugnisse der Behörden umgekehrt wieder einzuschränken.
Auch die Rechtsprechung der Landessozialgerichte (LSG für das Land Brandenburg Urteil vom 23.10.2003 - L 2 RJ 110/02 - Juris RdNr 38; LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 1.4.2003 - L 3 U 66/01 - Juris RdNr 44 entgegen und unter Aufhebung von SG Mainz Urteil vom 30.1.2001 - S 6 U 217/98 - Juris; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen Urteil vom 7.11.2001 - L 10 SB 50/01 - Juris; LSG Hamburg Urteil vom 1.9.1999 - L 3 U 50/98 - Juris) sowie die vom LSG zitierte Literatur folgen der Senatsrechtsprechung inzwischen nahezu einhellig (aA Gagel, SGb
1990, S 252, 255).
Der Aufhebung der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers steht auch nicht entgegen, dass der Beklagte nach Ablauf der Heilungsbewährung
noch erhebliche Zeit - mehr als ein Jahrzehnt - hat verstreichen lassen, bevor er daraus die zutreffenden rechtlichen Schlüsse
gezogen und das Überprüfungsverfahren eingeleitet hat. Denn § 48 Abs 1 S 1 SGB X verpflichtete den Beklagten auch noch lange Zeit nach Änderung der wesentlichen Verhältnisse zur Aufhebung des begünstigenden
Bescheides. Im Gegensatz zu § 48 Abs 1 S 2 SGB X bei atypischen Fällen ("soll") eröffnet § 48 Abs 1 S 1 SGB X nach seinem eindeutigen Wortlaut dem zuständigen Verwaltungsträger bei der Entscheidung über die Aufhebung des Verwaltungsakts
für die Zukunft kein Ermessen ("ist"). Sind daher die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 48 Abs 1 S 1 SGB X erfüllt, so ist der Verwaltungsakt zwingend mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben (BSG Urteil vom 2.4.2014 - B 6 KA 15/13 R - SozR 4-1300 § 47 Nr 1 RdNr 32; Brandenburg in jurisPK-SGB X, 2013, § 48 RdNr 113 mwN). Die Vorschrift räumt damit der Gesetzesbindung der Verwaltung Vorrang vor individuellem Vertrauensschutz ein.
Gesichtspunkte wie zögerliches Handeln der Behörde oder Gutgläubigkeit des Empfängers spielen daher für die Rechtmäßigkeit
der Aufhebungsentscheidung keine Rolle. Mit § 46 Abs 1 S 1 SGB X aF, der dem heutigen § 48 Abs 1 S 1 SGB X entspricht, wollte der Gesetzgeber - im Gegensatz zu der im allgemeinen Verwaltungsrecht geltenden Ermessensvorschrift des
§ 49 Abs 2 Verwaltungsverfahrensgesetz - im leistungsrechtlich geprägten Sozialrecht bewusst eine Pflicht schaffen, den Verwaltungsakt für die Zukunft aufzuheben,
wenn die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen (BT-Drucks 8/2034 S 35).
2. Der Beklagte hat seine Befugnis zur Korrektur der rechtswidrig gewordenen Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft
des Klägers nicht verwirkt.
Das richterrechtliche Institut der Verwirkung ist als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§
242 BGB) im Sozialversicherungsrecht ebenso wie im allgemeinen Verwaltungsrecht und im Zivilrecht anerkannt (vgl BSGE 7, 199, 200; 34, 211, 213; 41, 275, 278; 59, 87, 94 = SozR 2200 § 245 Nr 4 S 22 f; BSGE 80, 41, 43 = SozR 3-2200 § 1303 Nr 6 S 17 f). Eine solche Verwirkung setzt allgemein voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines
Rechts während eines längeren Zeitraumes unterlassen hat, wie es der Beklagte über deutlich mehr als ein Jahrzehnt getan hat.
Zum Zeitablauf müssen jedoch weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des einschlägigen
Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen
lassen (vgl BVerfGE 32, 305; BVerwGE 44, 339, 343; BFHE 129, 201, 202; BSGE 34, 211, 214; 35, 91, 95 mwN). Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete - erstens
- infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dieser werde das Recht
nicht mehr geltend machen (Vertrauensgrundlage), - zweitens - der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, das Recht
werde nicht mehr ausgeübt (Vertrauenstatbestand), und - drittens - er sich infolge dessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen
so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil
entstehen würde (vgl BSGE 47, 194, 196 = SozR 2200 § 1399 Nr 11 S 15 mwN; BSGE 80, 41, 43 = SozR 3-2200 § 1303 Nr 6 S 18; BVerwGE 44, 339, 343 f).
Allerdings enthalten die §§ 45 ff SGB X in ihrem Anwendungsbereich eine spezielle und abschließend gedachte Regelung des Vertrauensschutzes bei der Aufhebung von
Verwaltungsakten. Der Gesetzgeber hat damit ein abgestuftes Vertrauensschutzkonzept geschaffen, mit dem er ua zwischen rückwirkender
und allein zukunftsgerichteter Aufhebung unterscheidet sowie enge Handlungsfristen für die Aufhebung vorsieht, vgl § 45 Abs 4 SGB X. Diese passgenaue gesetzliche Interessenabwägung können die Sozialgerichte nicht pauschal durch allgemeine, aus der Generalklausel
von Treu und Glauben abgeleitete Vertrauensschutzerwägungen ersetzen. Zumindest im Fall der gebundenen Aufhebung einer Statusentscheidung
im Schwerbehindertenrecht wegen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse muss die Annahme einer Verwirkung daher auf Ausnahmefälle
beschränkt bleiben, in denen eine wortgetreue Anwendung der gesetzlichen Vorschriften dazu führen würde, insbesondere grundrechtlich
geschützte Positionen zu verletzen (allg vgl Blanke, Vertrauensschutz im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht, 2000,
S 23 ff; vgl BVerwG Urteil vom 20.12.1999 - 7 C 42/98 - BVerwGE 110, 226 ff). Da die Verwirkungsvoraussetzungen hier deshalb eng auszulegen sind, hat der Beklagte sein Aufhebungsrecht trotz seiner
langen Untätigkeit nicht verwirkt. Dafür fehlt es schon an einer ausreichenden Verwirkungshandlung des Beklagten und damit
auch an der erforderlichen Vertrauensgrundlage (a) sowie unabhängig davon an einem schützenswerten Vertrauensverhalten des
Klägers (b).
a) Die lange Säumnis des Beklagten bei der erforderlichen Überprüfung des Gesundheitszustands des Klägers stellt - selbst
in Verbindung mit der Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises - keine ausreichende Verwirkungshandlung
dar.
Wie der Senat speziell für den Fall der Aufhebung einer Feststellung der Schwerbehinderung nach erfolgreicher Heilungsbewährung
bereits entschieden hat, können Sozialbehörden aus einer Änderung der Verhältnisse für die Zukunft jedenfalls grundsätzlich
zeitlich unbeschränkt Gestaltungsrechte ableiten (BSG Urteil vom 12.2.1997 - 9 RVs 12/95 - Juris RdNr 16). Dies fordert maßgeblich der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit der Verwaltung, der die Wiederherstellung
gesetzmäßiger Zustände und die Gleichbehandlung aller Antragsteller gebietet. Verwirken kann die zuständige Behörde ihr Recht,
eine rechtswidrig gewordene Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft aufzuheben, allenfalls dann, wenn sie erkennbar
auf das Verstreichen einer Phase der Heilungsbewährung Bezug nimmt und darauf hinweist, daraus auch in Zukunft keine Folgerungen
mehr ziehen zu wollen (Verwirkungsverhalten, vgl BSG aaO). Bereits eine solche eindeutige Verwirkungshandlung des Beklagten hat das LSG indes nicht festgestellt. Sie liegt insbesondere
nicht in der Verfügung vom 28.6.2007 über die unbefristete Verlängerung des Schwerbehindertenausweises mit dem fälschlicherweise
angekreuzten Formularvermerk, eine Nachprüfung sei nicht erforderlich. Denn diese Verfügung ist nur ein behördeninterner Vorgang
ohne Außenwirkung.
Die Umsetzung dieser Verfügung nach außen durch Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises an den Kläger stellt
ebenfalls keine ausreichende Verwirkungshandlung des Beklagten dar; sie hat deshalb keine geeignete Vertrauensgrundlage für
den Kläger geschaffen. Denn ein solcher Ausweis hat keine konstitutive Bedeutung für die darin verlautbarten Feststellungen
(Oppermann in Hauck/Noftz,
SGB IX, Stand 8/2014, K §
69 RdNr 38; Goebel in jurisPK-
SGB IX, 2. Aufl 2015, §
69 RdNr
25: "deklaratorische Bedeutung"). Vielmehr weist er gemäß §
69 Abs
5 S 2
SGB IX lediglich als öffentliche Urkunde die gesondert im Ausgangsbescheid getroffene Feststellung der Schwerbehinderung gegenüber
Dritten nach (vgl BSG Urteil vom 26.2.1986 - 9a RVs 4/83 - SozR 3870 § 3 Nr 21 = BSGE 60, 11-18; BSG Urteil vom 11.5.2011 - B 5 R 56/10 R - Juris RdNr 25 mwN; Goebel aaO RdNr 65). Demgegenüber nahm der dem Kläger ausgestellte Ausweis weder auf das Verstreichen
der Heilungsbewährung Bezug, noch wies er darauf hin, daraus auch in Zukunft keine Folgerungen ziehen zu wollen. Zwar darf
nach § 6 Abs 2 S 2 Schwerbehindertenausweisverordnung der Ausweis entgegen der Sollvorschrift des §
69 Abs
5 S 3
SGB IX, die regelmäßig nur eine befristete Ausstellung vorsieht, an sich nur dann unbefristet ausgestellt werden, wenn eine Neufeststellung
wegen einer wesentlichen Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen nicht zu erwarten ist. Insofern hat sich der Beklagte
aber offenbar lediglich geirrt. Schützenswertes Vertrauen konnte der Kläger auf die Kundgabe dieses Irrtums nicht gründen,
mag er sich auch in laienhafter Anschauung darauf verlassen haben, sich trotz der ihm bekannten Besserung seines Gesundheitszustands
keiner Nachprüfung mehr stellen zu müssen. Denn nach §
69 Abs
5 S 4
SGB IX wird der Schwerbehindertenausweis eingezogen, sobald der gesetzliche Schutz schwerbehinderter Menschen erloschen ist. Die
Ausstellung des Schwerbehindertenausweises stand ebenso wie die zugrunde liegende Feststellung der Schwerbehinderung des Klägers
von Anfang an unter dem Vorbehalt der Nachprüfung bei Änderung der Verhältnisse. Dies gilt ohnehin für jede gesundheitliche
Einschränkung, soweit sie einer Besserung zugänglich ist und erst recht für die Feststellung der Schwerbehinderung nach Ablauf
der Zeitspanne der Heilungsbewährung.
b) Zudem hat der Kläger sein subjektiv möglicherweise gefasstes, aber objektiv nicht gerechtfertigtes Vertrauen nicht schützenswert
betätigt (Vertrauensverhalten). Auch dies hat das LSG für den Senat bindend festgestellt. Die dem Kläger in der Vergangenheit
gewährten Steuer- bzw Statusvorteile verbleiben ihm. Für die Zukunft hat der Kläger keine Vertrauensdispositionen getroffen,
die er nicht mehr oder nur noch unter unzumutbaren Anstrengungen und Kosten rückgängig machen könnte. Die Aufhebung der rechtswidrig
gewordenen Statusentscheidung berührt insbesondere keine grundrechtlich geschützten Positionen des Klägers.
Insgesamt erschließt sich nicht, warum die Aufhebung der Schwerbehinderteneigenschaft den Kläger für die Zukunft unzumutbar
belasten sollte, obwohl sein gesundheitlicher Zustand diese Feststellung schon seit langem in keiner Weise mehr rechtfertigt
und er gleichwohl während der langen Untätigkeit des Beklagten von den an den Schwerbehindertenstatus geknüpften Vorteilen
und Erleichterungen profitiert hat.
Das LSG hat daher das stattgebende Urteil des SG zu Recht aufgehoben und die Anfechtungsklage des Klägers gegen die Aufhebung der Feststellung seiner Schwerbehinderteneigenschaft
abgewiesen.
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §
193 SGG.