Rückwirkende Feststellung eines Grades der Behinderung
Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Gründe
I
Der Kläger begehrt in der Hauptsache die rückwirkende Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 ab dem 18.9.1991
für die Zeit bis zur Zuerkennung dieses GdB ab dem 1.8.2006. Diesen Anspruch hat das LSG nach vorheriger Anhörung mit Beschluss
vom 15.6.2020 als unzulässig verneint, soweit die begehrte rückwirkende Feststellung Zeiten vor dem 14.4.1992 betreffe, weil
es insoweit an einer Verwaltungsentscheidung fehle. Im Übrigen stehe dem Kläger kein GdB von 50 für die Zeit vor dem 1.8.2006
zu. Nach § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X seien der Bescheid vom 16.4.1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.11.1992 rechtmäßig gewesen. Die bei dem
Kläger im Prüfungszeitraum bestehenden Gesundheitsstörungen (Taubheit links bei Normalhörigkeit rechts, Folgen eines Schädel-Hirn-Traumas,
Wirbelsäulenleiden) bedingten bereits nach den zahlreichen medizinischen Unterlagen nur einen GdB von 40. Dem Beweisantrag
des Klägers vom 30.5.2020 sei nicht zu entsprechen, weil dieser erkennbar unsubstantiiert sei und sich der Senat nicht zu
weiteren Ermittlungen gedrängt sehe.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger Beschwerde zum BSG eingelegt. Er rügt das Vorliegen von Verfahrensfehlern und eine Divergenz.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen. Der
Kläger hat die von ihm geltend gemachten Verfahrensmängel (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG) sowie eine Divergenz (§
160 Abs
2 Nr
2 SGG) nicht ordnungsgemäß bezeichnet (§
160a Abs
2 Satz 3
SGG).
1. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung
beruhen könne (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels zunächst die diesen (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert
dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen
materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht.
Gemäß §
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 2
SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§
109 und
128 Abs
1 Satz 1
SGG und auf eine Verletzung des §
103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt
ist. Den sich daraus ergebenden Anforderungen ist die Beschwerdebegründung nicht gerecht geworden.
a) Soweit - wie vorliegend - Verstöße gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht (§
103 SGG) gerügt werden, muss die Beschwerdebegründung hierzu jeweils folgende Punkte enthalten: (1) Bezeichnung eines für das Revisionsgericht
ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrags, dem das LSG nicht gefolgt ist, (2) Wiedergabe der Rechtsauffassung des LSG, aufgrund
derer bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen, (3) Darlegung der von dem betreffenden Beweisantrag
berührten Tatumstände, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten, (4) Angabe des voraussichtlichen Ergebnisses
der unterbliebenen Beweisaufnahme und (5) Schilderung, dass und warum die Entscheidung des LSG auf der angeblich fehlerhaft
unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann, das LSG mithin bei Kenntnis des behaupteten Ergebnisses der unterlassenen Beweisaufnahme
von seinem Rechtsstandpunkt aus zu einem anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis hätte gelangen können (vgl zB Senatsbeschluss vom 6.4.2017 - B 9 V 89/16 B - juris RdNr 6 mwN).
Die Beschwerde hat es bereits versäumt, einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag zu bezeichnen. Zwar hat der Kläger mit seiner
Beschwerde ua vorgetragen, nach der Anhörung durch das LSG hinsichtlich einer vorgesehenen Entscheidung durch Beschluss nach
§
153 Abs
4 Satz 2
SGG mit Schriftsatz vom 30.5.2020 einen Beweisantrag gestellt zu haben, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt
sei. Denn insoweit habe es keiner weitergehenden Substantiierung bedurft, weil es offensichtlich gewesen sei, dass mit seinem
Beweisantrag an die gutachterlichen Feststellungen des N anknüpfend eine weitergehende sachverständige Bestätigung erzielt
werden sollte, nach der die Feststellungen eines höheren GdB als 40, nämlich von mindestens 50, rückwirkend ab mindestens
1992 habe bestätigt werden sollen. Mit diesen Ausführungen hat der Kläger indes keinen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag
iS von §
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 2
SGG iVm §
118 Abs
1 Satz 1
SGG, §
403 ZPO dargelegt. Dafür muss nicht nur die Stellung des Antrags, sondern auch aufgezeigt werden, über welche im Einzelnen bezeichneten
Punkte Beweis erhoben werden soll. Merkmal eines substantiierten Beweisantrags ist eine bestimmte Tatsachenbehauptung und
die Angabe des Beweismittels für diese Tatsache (vgl Senatsbeschluss vom 6.4.2017 - B 9 V 89/16 B - juris RdNr 7 mwN). Dafür ist die behauptete Tatsache möglichst präzise und bestimmt zu behaupten und zumindest hypothetisch zu umreißen, was
die Beweisaufnahme ergeben hätte. Nur dies versetzt die Vorinstanz in die Lage, die Entscheidungserheblichkeit eines Antrags
zu prüfen und ggf seine Ablehnung iS des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG ausreichend zu begründen. Unbestimmte bzw unsubstantiierte Beweisanträge brauchen dem Gericht dagegen keine Beweisaufnahme
nahe zu legen (vgl Senatsbeschluss vom 6.4.2017, aaO, mwN). Demgegenüber versäumt es der Kläger nicht nur, das medizinische Fachgebiet für eine weitere Ermittlung im Rahmen seines
Beweisantrags anzugeben. Er bezeichnet auch nicht einzelne Punkte, über die Beweis erhoben werden sollte (vgl Senatsbeschluss vom 5.7.2018 - B 9 SB 26/18 B - juris RdNr 10).
Das LSG ist als letztinstanzliche Tatsacheninstanz zudem nur dann einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt,
wenn es sich hätte gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben (vgl Senatsbeschluss vom 6.4.2017 - B 9 V 89/16 B - juris RdNr 8 mwN). Insoweit hätte es des klägerseitigen Vortrags bedurft, weshalb nach den dem LSG vorliegenden Beweismitteln Fragen zum tatsächlichen
und medizinischen Sachverhalt aus der rechtlichen Sicht des LSG erkennbar offengeblieben sind und damit zu einer weiteren
Aufklärung des Sachverhalts zwingende Veranlassung bestanden haben soll (vgl Senatsbeschluss, aaO, mwN). Die bloße Darlegung, weshalb aus Sicht des Klägers weitere Ermittlungen erforderlich gewesen wären, entspricht diesem Erfordernis
nicht (vgl BSG Beschluss vom 4.12.2006 - B 2 U 227/06 B - RdNr 3). Vielmehr weist der Kläger selbst auf die Ausführungen von N in dessen Gutachten hin, in dem dieser zum Problemkreis bereits
Ausführungen gemacht habe. Tatsächlich kritisiert der Kläger die Beweiswürdigung des LSG (vgl §
128 Abs
1 Satz 1
SGG), womit er nach §
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 2
SGG von vornherein keine Revisionszulassung erreichen kann. Entsprechendes gilt, soweit der Kläger eine unzureichende Rechtsanwendung
des LSG rügen wollte (vgl Senatsbeschluss vom 6.4.2017 - 9 B V 89/16 B - juris RdNr 8 mwN).
b) Soweit der Kläger rügt, das LSG habe keine Einsicht in die Akten des Kreisgerichts B zum Az Z 86/85 genommen und somit einschlägige medizinische Unterlagen aus dem Zeitraum 1985 bis 1992 offensichtlich nicht vollständig beigezogen,
wird ein Verfahrensmangel iS des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG gleichfalls nicht hinreichend bezeichnet. Zwar weist er zutreffend darauf hin, dass die versuchte Beiziehung der Akten des
Kreisgerichts B zum Az Z 86/85 bei dem B Landeshauptarchiv durch das LSG erfolglos geblieben ist. Vor diesem Hintergrund trägt der Kläger aber nicht substantiiert
vor, dass und aus welchen Gründen das LSG auf dieser tatsächlichen Grundlage nicht hätte entscheiden dürfen. Insbesondere
legt er nicht dar, dass und bejahendenfalls welche im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eingeholten medizinischen Berichte
und sonstigen für die Entscheidung des LSG tragenden Unterlagen durch den Inhalt der nicht beigezogenen Akten und medizinischen
Unterlagen hätten in Zweifel gezogen werden sollen. Insoweit zeigt der Kläger auch nicht auf, dass sich das Berufungsgericht
hätte gedrängt fühlen müssen, weitere Sachaufklärung (§
103 SGG) durch Einholung eines weiteren medizinischen Sachverständigengutachtens zu betreiben. Einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag
hat der Kläger, wie oben bereits ausgeführt, in der Beschwerdebegründung nicht bezeichnet.
c) Soweit der Kläger einen wesentlichen Verfahrensmangel darin sieht, dass das LSG gemäß §
106 Abs
1 SGG darauf hätte hinwirken müssen, dass er seinen aus Sicht des Gerichts unklaren Antrag hätte erläutern müssen, rügt er eine
Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art
103 Abs
1 GG, §
62 SGG).
Der Kläger versäumt es jedoch, den behaupteten Gehörsverstoß hinreichend substantiiert darzulegen. Tatsachengerichte sind
nicht verpflichtet, auf die Stellung von - prozessordnungsgemäßen - Beweisanträgen hinzuwirken (vgl Senatsbeschluss vom 5.11.2020 - B 9 SB 34/20 B - juris RdNr 8; Senatsbeschluss vom 22.3.2018 - B 9 SB 78/17 B - juris RdNr 17 mwN). Dass der Kläger vom LSG darin gehindert worden sei, aus seiner Sicht sachdienliche Beweisanträge zu stellen, behauptet er
nicht.
2. Eine Divergenz iS des §
160 Abs
2 Nr
2 SGG liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen.
Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten
Rechtssatz des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG aufgestellt hat. Darüber hinaus verlangt der
Zulassungsgrund der Divergenz, dass die angefochtene Entscheidung auf der Abweichung beruht (vgl Senatsbeschluss vom 5.6.2020 - B 9 SB 87/19 B - juris RdNr 4).
Bezogen auf die Darlegungspflicht bedeutet dies: Die Beschwerdebegründung muss erkennen lassen, welcher abstrakte Rechtssatz
in der in Bezug genommenen höchstrichterlichen Entscheidung enthalten ist und welcher im Urteil oder Beschluss des LSG enthaltene
Rechtssatz dazu im Widerspruch steht. Ferner muss aufgezeigt werden, dass auch das BSG die höchstrichterliche Rechtsprechung im Revisionsverfahren seiner Entscheidung zugrunde zu legen haben wird (vgl stRspr; zB BSG Beschluss vom 31.7.2017 - B 13 R 140/17 B - juris RdNr 12 f). Diese Anforderungen erfüllt die Beschwerdebegründung nicht.
Soweit der Kläger eine Divergenz darin zu sehen meint, dass die Entscheidung des LSG im Widerspruch zum Urteil des Senats
vom 7.4.2011 (B 9 SB 3/10 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 13) stehe, "wonach für die behördliche Feststellung, dass ein GdB von 50 bereits zu einem Zeitpunkt vor der Antragstellung vorgelegen
hat, nur die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses erforderlich ist", fehlt es bereits an der Benennung von divergierenden
abstrakten Rechtssätzen aus der angefochtenen Berufungsentscheidung in einem Überprüfungsverfahren und der zitierten Entscheidung
des Senats in einem Erstfeststellungsverfahren. Allein die - behauptete - Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall -
zB aufgrund der Nichtbeachtung oder fehlerhaften Anwendung höchstrichterlicher Rechtsprechung - rechtfertigt die Zulassung
wegen Divergenz nicht (vgl stRspr; zB BSG Beschluss vom 16.3.2017 - B 13 R 390/16 B - juris RdNr 16).
3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§
160a Abs
4 Satz 2 Halbsatz 2
SGG).
4. Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß §
160a Abs
4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm §
169 Satz 2 und
3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.