Kinder- und Jugendhilferecht: Fehlende Zweckgleichheit bei Sozialzuschlag zum Arbeitseinkommen im öffentlichen Dienst und
Leistungen zum Lebensunterhalt bei Hilfe zur Erziehung
Gründe:
I.
Das Jugendamt der Beklagten gewährt dem Kläger seit Juli 1991 Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege für seine Tochter N. Nachdem
die Beklagte davon Kenntnis erhalten hatte, daß im Erwerbseinkommen des Klägers ein Sozialzuschlag in Höhe von netto 285 DM
für seine zwei Kinder enthalten war, forderte sie ab Juli 1992 einen monatlichen Kostenbeitrag in Höhe von 157 DM für die
Unterbringung der Tochter des Klägers in einer Pflegestelle (Bescheid vom 16. September 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 16. Oktober 1992). Als maßgebliche Rechtsgrundlage benannte die Beklagte § 93 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz SGB VIII (in der damals geltenden Fassung), wonach der Einsatz von Geldleistungen, die dem gleichen Zweck dienen wie die jeweilige
Leistung der Jugendhilfe, in jedem Fall verlangt werden könne.
Die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene Klage hatte im zweiten Rechtszug Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht hat
sein Urteil im wesentlichen wie folgt begründet: Gemäß § 93 Abs. 1 KJHG (in der zur Zeit des Erlasses des Widerspruchsbescheides geltenden Fassung) i.V.m. § 85 BSHG könne die Aufbringung von Mitteln bei einem Einkommen unter der Einkommensgrenze lediglich in den Fällen des § 85 Nrn. 1 - 3 BSHG verlangt werden. Die Voraussetzungen des § 85 Nr. 1 BSHG, auf den allein sich die niedergelegten Ermessenserwägungen in den angefochtenen Bescheiden bezögen, lägen nicht vor. Bei
dem Sozialzuschlag handele es sich nicht um Geldleistungen, die "für einen besonderen Zweck" gewährt würden. Einem "besonderen
Zweck" im Sinne des § 85 Nr. 1 BSHG diene eine Leistung, durch die der über die Sicherung des allgemeinen Lebensunterhalts hinausgehende Bedarf, der gerade durch
die Hilfe in besonderen Lebenslagen aufgefangen werden solle, gedeckt werde. Einem solchen besonderen Zweck diene der im Erwerbseinkommen
eines im öffentlichen Dienst tätigen Arbeiters enthaltene Sozialzuschlag nicht. Ihm wohne die gleiche Zweckbestimmung inne
wie dem kinderbezogenen Anteil des Angestelltenortszuschlages und des Ortszuschlages eines Beamten. Kindbezogene Erhöhungen
des Ortszuschlages seien jedoch keine zweckgebundenen Zuwendungen des Arbeitgebers, sondern Teile des Gesamtgehalts und damit
der Sicherung des allgemeinen Lebensunterhalts dienender Teil des Gesamtgehalts. Da die in den angefochtenen Bescheiden ausgeübte
Ermessensbetätigung somit auf einer Verkennung der rechtlichen Grundlagen beruhe, sei der auf Aufhebung jener Bescheide gerichteten
Berufung stattzugeben gewesen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten, mit der sie die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils
erstrebt. Sie rügt Verletzung des § 93 Abs. 2 Nr. 2 Satz 4 SGB VIII.
Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.
Die Beteiligten haben übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet.
II.
Die Revision der Beklagten, über die das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 141 Satz 1 i.V.m. §
125 Abs.
1 Satz 1 und §
101 Abs.
2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, hat keinen Erfolg. Das Berufungsurteil erweist sich aus bundesrechtlicher Sicht
(§
137 Abs.
1 Nr.
1 VwGO) als im Ergebnis richtig, so daß die Revision zurückzuweisen ist (§
144 Abs.
4 VwGO).
Die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Beitragsheranziehung beurteilt sich hier nach der im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung,
also bei Erlaß des Widerspruchsbescheides vom 16. Oktober 1992, maßgeblichen Rechtslage. Zu diesem Zeitpunkt galt das Achte
Buch Sozialgesetzbuch - SGB VIII - in der ursprünglichen Fassung des Art. 1 des Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfegesetz - KJHG -) vom 26. Juni 1990 (BGBl I S. 1163). Zu Recht wirft die Beklagte dem Berufungsgericht vor, es habe die maßgeblichen Rechtsgrundlagen für die rechtliche Beurteilung
der Kostenbeitragspflicht des Klägers zu den für seine Tochter aufgewendeten Jugendhilfeleistungen verkannt. Die Bemessung
eines Beitrags zu den Kosten der Hilfe zur Erziehung erfolgt im vorliegenden Fall nicht nach Maßgabe des § 93 Abs. 1 SGB VIII i.V.m. § 85 Nr. 1 BSHG, sondern nach § 93 Abs. 2 Nr. 2 Satz 4 SGB VIII. Während nach § 85 Nr. 1 BSHG die Aufbringung der Mittel, auch soweit das Einkommen unterhalb der Einkommensgrenze liegt, verlangt werden kann, soweit
von einem anderen Leistungen für einen besonderen Zweck gewährt werden, für den sonst Sozialhilfe zu gewähren wäre, kann nach
§ 93 Abs. 2 Nr. 2 Satz 4 SGB VIII der Einsatz von Geldleistungen, die dem gleichen Zweck dienen wie die jeweilige Leistung der Jugendhilfe, in jedem Fall verlangt
werden. § 93 Abs. 2 Nr. 2 Satz 4 SGB VIII "entspricht § 85 Nr. 1 BSHG" (Begründung des Regierungsentwurfs, BTDrucks 11/5948 S. 110 zu § 82 Abs. 5). Er trägt dem Grundsatz Rechnung, daß ein entsprechender Bedarf nur einmal zu befriedigen ist (BTDrucks 11/5948 a.a.O.).
Das sowie die systematische Stellung der Vorschrift weist § 93 Abs. 2 Nr. 2 Satz 4 SGB VIII als Sonderregelung gegenüber § 93 Abs. 1 SGB VIII und der dort ausgesprochenen Verweisung auf § 85 BSHG aus.
Das Berufungsurteil erweist sich jedoch im Ergebnis als richtig. Denn der Sozialzuschlag, der dem kinderbezogenen Anteil des
Ortszuschlages eines Angestellten oder Beamten entspricht, hat im Rahmen der Prüfung einer Einsatzverpflichtung hier unberücksichtigt
zu bleiben, weil er nicht dem gleichen Zweck dient wie die hier gezahlten Leistungen zum Lebensunterhalt bei Hilfe zur Erziehung
in Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII.
Ähnlich wie in § 43 Abs. 3 BSHG hinsichtlich von Maßnahmen der Eingliederungshilfe (vgl. hierzu Urteil des Senats vom 26. Juli 1994 - BVerwG 5 C 11.92 - (Buchholz 436.0 § 43 BSHG Nr. 7 S. 2) sowie BVerwGE 96, 379 f.) ist bei der Prüfung der Zweckgleichheit im Rahmen des § 93 Abs. 2 Nr. 2 Satz 4 SGB VIII auf die "jeweilige Leistung der Jugendhilfe" abzustellen, die Zweckgleichheit der Leistung also bezogen auf eine konkrete
der in § 93 Abs. 2 SGB VIII genannten Maßnahmen der Jugendhilfe zu ermitteln. Entscheidungserheblich ist daher, ob und inwieweit im Sinne des § 93 Abs. 2 Nr. 2 Satz 4 SGB VIII Zweckgleichheit zwischen dem dem Kläger mit Hinblick auf seine Tochter gewährten Sozialzuschlag und den der Tochter des Klägers
gewährten Leistungen zum Unterhalt (§ 39 SGB VIII) bei Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege (§ 33, § 91 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. b SGB VIII) besteht. Im Ergebnis zu Recht hat das Berufungsgericht entschieden, daß sich diese Leistungen in ihren Zwecken nicht gleichen.
Laufende Leistungen zum Unterhalt des Kindes oder des Jugendlichen dienen dem Zweck, den notwendigen Unterhalt des Kindes
oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses sicherzustellen (§ 39 Abs. 1 SGB VIII); er umfaßt bei der Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege den gesamten Lebensbedarf einschließlich der Kosten der Erziehung
(§ 39 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII). § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII bindet die in ihm vorgesehenen Leistungen an die Gewährung von Hilfe zur Erziehung (vgl. Begründung des Regierungsentwurfs,
BTDrucks 11/5948 S. 75 zu § 38 Abs. 1: "Annex-Anspruch"); sie gehören damit zur Hilfe zur Erziehung im Sinne von § 93 Abs. 2 SGB VIII.
Der Sozialzuschlag, den Arbeiter des öffentlichen Dienstes neben dem Lohn und dem Urlaubslohn erhalten, entspricht nach Voraussetzungen
und Höhe dem kinderbezogenen Anteil des Ortszuschlages nach § 29 BAT der Tarifklasse II (vgl. § 41 Abs. 1 Satz 1 MTArb). Er hat dieselbe Zweckbestimmung wie der kinderbezogene Anteil des Ortszuschlages zum Angestellten- und Beamtengehalt
(vgl. § 40 Abs. 3 BBesG). Diese kinderbezogenen Zuschläge zu den Bezügen öffentlich Bediensteter sind lediglich eines der Elemente für die Berechnung
der Bezüge. Der öffentliche Dienstherr will dadurch pauschal Nachteile ausgleichen, die sein Bediensteter möglicherweise durch
gesteigerten Aufwand erleidet (vgl. BGH, Urteil vom 23. November 1988 - IV b ZR 20/88 - (FamRZ 1989, 172/174)). Der Sozialzuschlag bezweckt demnach den teilweisen Ausgleich kinderbedingter wirtschaftlicher Belastungen
des Lohnempfängers, nicht aber konkret gerade die Abdeckung des Unterhaltsbedarfs der Kinder. Dies zeigt sich vor allem daran,
daß der kinderbezogene Zuschlag zum Lohn - ebenso wie die kinderbezogenen Erhöhungen des Ortszuschlages bei Angestellten und
Beamten - auch unabhängig von Unterhaltsverpflichtungen des Lohnempfängers gezahlt werden, nämlich dann, wenn der Lohnempfänger
Stiefkinder in seinem Haushalt mitaufgenommen hat, denen gegenüber er nicht unterhaltspflichtig ist (vgl. BGH, a.a.O. sowie
BVerwG, Urteil vom 27. August 1992 - BVerwG 2 C 41.90 - (Buchholz 240 § 40 BBesG Nr. 26)). Knüpft demnach die Sozialzuschußregelung entscheidend an die Aufnahme des Kindes in den Haushalt des öffentlich
Bediensteten und nicht an die Unterhaltspflicht an, erweist sich der Sozialzuschlag nicht als ein konkret auf den Unterhaltsbedarf
des Kindes bezogener Lohnanteil, sondern als allgemein sozialbezogene Lohnkomponente, die dem Familienlastenausgleich dient
und den öffentlich Bediensteten in die Lage versetzen soll, den mit der Sorge für seine Kinder allgemein verbundenen Aufwand
zu tragen. Eine Zweckidentität mit den hier gezahlten Leistungen zum Lebensunterhalt des Jugendlichen bei Hilfe zur Erziehung
in Vollzeitpflege besteht demnach nicht.
Aus § 39 Abs. 6 SGB VIII, der die Anrechnung von Kindergeld auf die laufenden Leistungen nach § 39 SGB VIII anordnet, folgt nichts anderes. Zwar ähnelt der Sozialzuschlag dem Kindergeld in seiner allgemeinen, dem Familienlastenausgleich
dienenden Zweckbestimmung. Auch beruht § 39 Abs. 6 SGB VIII darauf, daß der Regierungsentwurf Pflegegeld und Kindergeld als zweckidentische Leistungen angesehen hat (BTDrucks 11/5948
S. 77 zu § 38 Abs. 6). Rückschlüsse auf § 93 Abs. 2 Nr. 2 Satz 4 SGB VIII lassen sich hieraus jedoch nicht ziehen. Das folgt aus dem unterschiedlichen Rechtscharakter von Kindergeld und Sozialzuschlag
und der unterschiedlichen Zweckrichtung des § 39 Abs. 6 SGB VIII und des § 93 Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII. Während § 39 Abs. 6 SGB VIII mit Kindergeld, Kinderzuschlägen und vergleichbaren Rentenbestandteilen (zum Charakter des Kindergeldes s. BVerwGE 96, 379 (380 f.)) lediglich öffentliche Sozialleistungen (Geldleistungen für Kinder im Sinne von §
48 Abs.
1 Satz 2
SGB I) erfaßt, ist der Sozialzuschlag Teil des auf dem Arbeitsvertrag mit dem öffentlichen Dienstherrn beruhenden Arbeitslohnes
des öffentlich Bediensteten. Dementsprechend unterschiedlich ist auch die Zweckrichtung der genannten Vorschriften. Denn während
§ 39 Abs. 6 SGB VIII dem Grundsatz der Nachrangigkeit der Jugendhilfe Rechnung trägt und staatliche Doppelleistungen für denselben Bedarf vermeiden
soll, regelt § 93 Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII, unter welchen Voraussetzungen der Jugendhilfeträger von den Eltern des Kindes oder Jugendlichen einen Beitrag zu den Kosten
der Hilfe zur Erziehung verlangen kann.