Jugendhilferecht - "Fortsetzung" einer Jugendhilfeleistung durch Leistungsablehnung; Kostenerstattung von Jugendhilfeleistungen
nach Wechsel der örtlichen Zuständigkeit [hier: Unterbringung in Kindertagesstätte]; Unterrichtung, Pflicht der Jugendhilfeträger
zur unverzüglichen - über Zuständigkeitswechsel; Zuständigkeit, Weiterleistungspflicht des bisher zuständig gewesenen Jugendhilfeträgers
über Wechsel seiner örtlichen - hinaus; Zuständigkeitswechsel in der Jugendhilfe, Kostenerstattungspflicht des zuständig gewordenen
örtlichen Trägers [hier: Unterbringung in Kindertagesstätte]
Gründe:
I. Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Erstattung von Aufwendungen (7 471,93 DM) in Anspruch, die ihr in der Zeit vom 18.
Juli 1994 bis 30. Juni 1996 für die Unterbringung eines Kindes im Kindertagesheim eines freien Trägers in H., ihrem örtlichen
Zuständigkeitsbereich, entstanden sind.
Am 18. Juli 1994 war der 1990 geborene D. mit seinen Eltern von H. in den örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten verzogen.
Das Kind besuchte bis zum 30. Juni 1996, als seine Einschulung bevorstand, weiterhin ein Kindertagesheim in H., nachdem den
Eltern, die zunächst bei ihrer Wohnsitzgemeinde die weitere Förderung ihres Kindes beantragt hatten, kein freier Ganztagsplatz
in einer Kindertagesstätte in der Nähe ihres neuen Wohnortes angeboten worden war. Am 10. Februar 1995 war der Antrag an den
Beklagten als den örtlich zuständigen Träger der Jugendhilfe weitergeleitet worden. Dieser lehnte eine Kostenübernahme durch
(nicht rechtskräftigen) Bescheid vom 20. Februar 1995 gegenüber den Eltern des Kindes mit der Begründung ab, das Kindertagesstättengesetz
des Landes sehe eine solche Einzelfallhilfe nicht vor, Kindertagesstätten würden vielmehr durch finanzielle Unterstützung
ihrer Träger gefördert; daneben bestehe lediglich die Möglichkeit, den Kindergartenbeitrag für Eltern mit geringem Einkommen
zu ermäßigen ("Sozialstaffel"). Daraufhin beantragte die Klägerin, die am 13. März 1995 von dem Ablehnungsbescheid des Beklagten
Kenntnis erhalten hatte, durch Schreiben vom 28. März 1995 beim Beklagten die Übernahme der Hilfegewährung in die dortige
Zuständigkeit. Der Beklagte verwies durch Schreiben vom 19. April 1995 auch gegenüber der Klägerin auf seinen Ablehnungsbescheid.
Am 28. Dezember 1998 hat die Klägerin Klage auf Erstattung ihrer Aufwendungen erhoben. Das Verwaltungsgericht hat die Klage
abgewiesen, das Oberverwaltungsgericht der hiergegen eingelegten Berufung der Klägerin dagegen teilweise (hinsichtlich eines
Teilbetrages von 285,49 DM) stattgegeben:
Die Klägerin könne Erstattung (nur) für die Zeit vom 10. Februar bis 13. März 1995 verlangen. Der Erstattungsanspruch folge
aus § 89 c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII. Erstattungsfähig seien auch Jugendhilfeleistungen, auf die kein Rechtsanspruch bestehe. Der zuständige Träger müsse jedoch
von dem Zuständigkeitswechsel unverzüglich unterrichtet werden. Dies sei hier nicht geschehen. Die Erstattungspflicht sei
daher erst entstanden, nachdem der Beklagte am 10. Februar 1995 infolge des an ihn von der Wohnsitzgemeinde weitergeleiteten
Weiterförderungsantrags der Eltern des Kindes von dem Zuständigkeitswechsel (18. Juli 1994) erfahren habe. Sie habe bestanden,
bis der Beklagte seine Zuständigkeit nach § 86 c SGB VIII wahrgenommen und über die Gewährung der Leistung entschieden habe. Eine Übernahme des Hilfefalles könne auch durch Ablehnung
von Hilfe erfolgen. Hier habe der Beklagte mit seinem der Klägerin am 13. März 1995 zur Kenntnis gelangten Bescheid vom 20.
Februar 1995 eine Kostenübernahme abgelehnt. Mit Kenntnisnahme dieser Entscheidung durch die Klägerin sei deren Verpflichtung
zur Weitergewährung der Leistung entfallen. Die Eltern des Kindes hätten ihren (vermeintlichen) Anspruch auf Übernahme der
Kosten der Unterbringung ihres Kindes in dem Kindertagesheim in H. notfalls mit Hilfe einer einstweiligen Anordnung gegenüber
dem Beklagten durchsetzen müssen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin. Sie rügt sinngemäß die Verletzung von §§ 86 c, 89 c SGB VIII.
Der Beklagte unterstützt das angegriffene Urteil.
II. Die Revision ist teilweise begründet.
Im Streit sind die von der Klägerin für das Kind D. in der Zeit vom 18. Juli 1994 bis zum 30. Juni 1996 aufgewendeten Kosten
der Unterbringung in einem Kindertagesheim mit Ausnahme der Kosten aus der Zeit vom 10. Februar bis 13. März 1995 (insoweit
hat das Oberverwaltungsgericht der Berufung der Klägerin stattgegeben, Revision durch den Beklagten hiergegen ist nicht eingelegt).
Hinsichtlich der Zeit vor dem 10. Februar 1995 ist die Revision der Klägerin begründet, hinsichtlich des Zeitraums nach dem
13. März 1995 dagegen unbegründet.
1. Das Oberverwaltungsgericht hätte der Berufung der Klägerin (schon) für den Zeitraum vor dem 10. Februar 1995 stattgeben
müssen, also für den Zeitraum, bevor der Beklagte von dem seine örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII begründenden Umzug der Eltern (und des Kindes) erfahren hatte; insoweit verletzt die Zurückweisung der Berufung Bundesrecht
(§
137 Abs.
1 Nr.
1 VwGO).
Dem Bundesrecht widerspricht die Ansicht des Oberverwaltungsgerichts, ein Kostenerstattungsanspruch nach § 89 c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII setze voraus, dass der bisher zuständige den zuständig gewordenen Jugendhilfeträger unverzüglich von dem Zuständigkeitswechsel
unterrichte.
§ 89 c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (zur Anwendbarkeit dieser Vorschrift auf die Unterbringung in Kindertagesstätten nach Wechsel der örtlichen Zuständigkeit
s. das Urteil des Senats vom heutigen Tag in der Sache BVerwG 5 C 57.01) bestimmt, dass Kosten, die ein örtlicher Träger der Jugendhilfe im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86 c SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten sind, der nach dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig geworden
ist. Nach § 86 c Satz 2 SGB VIII hat der örtliche Träger, der von den Umständen Kenntnis erhält, die den Wechsel der Zuständigkeit begründen, den anderen
davon unverzüglich zu unterrichten. Die Ansicht des Berufungsgerichts, ein Verstoß gegen diese Bestimmung schließe einen Kostenerstattungsanspruch
des bisher zuständigen Trägers bis zu dem Zeitpunkt aus, in dem der neu zuständige, andere Träger von dem Zuständigkeitswechsel
- anderweitig - Kenntnis erlangt, findet im Gesetz keine Stütze.
Es kann hier unterstellt werden, dass eine "unverzügliche", d.h. von der Klägerin "ohne schuldhaftes Zögern" (§
121 Abs.
1 Satz 1
BGB) veranlasste Unterrichtung des Beklagten nicht stattgefunden hat. Daran scheitert ein Kostenerstattungsanspruch aus § 89 c SGB VIII jedoch nicht. Die Unterrichtungspflicht nach § 86 c Satz 2 SGB VIII ist in § 89 c SGB VIII nicht als Voraussetzung eines Kostenerstattungsanspruchs erwähnt. § 86 c SGB VIII regelt nicht, wer unter welchen Voraussetzungen die Kosten der über den Zuständigkeitswechsel hinaus erbrachten Leistung
zu tragen hat. Dies regelt vielmehr § 89 c SGB VIII, indem er den örtlich zuständig gewordenen Jugendhilfeträger zum Ersatz der Aufwendungen des vorher zuständigen Trägers verpflichtet.
Wenn die Kostenerstattung von einer unverzüglichen Unterrichtung des neu zuständigen Leistungsträgers über die den Zuständigkeitswechsel
begründenden Umstände abhinge, wäre aber eine ausdrückliche diesbezügliche Regelung zu erwarten, und zwar - wie z.B. allgemein
in Bezug auf Erstattungsansprüche der Träger von Sozialleistungen untereinander, für die § 111 SGB X ausdrücklich anordnet, dass die Geltendmachung dieser Ansprüche fristgebunden ist - im Rahmen der Erstattungsregelungen,
hier also der Regelungen über eine Kostenerstattung bei fortdauernder oder vorläufiger Leistungsverpflichtung (§§ 89 a, 89 c SGB VIII) bzw. über den Umfang der Kostenerstattung (§ 89 f SGB VIII). Da dort wie überhaupt in Bezug auf einen Kostenerstattungsanspruch aus § 89 c SGB VIII eine gesonderte Regelung hinsichtlich der Rechtsfolgen einer Verletzung der Unterrichtungspflicht fehlt, unterliegt die Geltendmachung
eines solchen Anspruchs lediglich der Ausschlussfrist des § 111 SGB X und muss eine schuldhaft verzögerte Unterrichtung des örtlich zuständig gewordenen Jugendhilfeträgers rechtsfolgenlos bleiben.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, der nunmehr zuständige Träger könne anders nicht wirksam vor einer Kostenbelastung
geschützt werden. Da das Gesetz für die Weiterleistungspflicht des bisher zuständig gewesenen örtlichen Trägers aus § 86 c SGB VIII nicht einmal voraussetzt, dass dieser überhaupt Kenntnis vom Zuständigkeitswechsel hat (vgl. auch Jans/Happe/Saurbier, Kinder-
und Jugendhilferecht, 3. Auflage [2001], Erl. § 86 c Art. 1 KJHG Rn. 4), ist auch der Wechsel der der Leistungszuständigkeit folgenden Finanzierungslast nach dem Willen des Gesetzgebers
dann nicht von solcher Kenntnis abhängig. Dem Gesetzgeber geht es auch bei der Begründung einer Pflicht zur unverzüglichen
Unterrichtung der Leistungsträger untereinander darum, sicherzustellen, dass ein Wechsel der örtlichen Zuständigkeit nicht
zu einer Unterbrechung oder Verzögerung der Jugendhilfeleistung führt. Deshalb ist § 86 c mit § 89 c SGB VIII so abgestimmt, dass weder eine Lücke in der Leistungsgewährung noch in der Kostenerstattung durch den nunmehr örtlich zuständigen
Träger entstehen kann (so auch Ziegler in GK-SGB VIII, § 86 c Rn. 3). Eine weiterreichende, auch den vom Oberverwaltungsgericht angestrebten "Schutz des nunmehr zuständigen Leistungsträgers"
umfassende Zielsetzung ist den genannten Bestimmungen nicht zu entnehmen.
Hat danach das Berufungsgericht für die Zeit ab dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit (18. Juli 1994) bis zur Kenntniserlangung
durch den Beklagten (9. Februar 1995) einen Kostenerstattungsanspruch der Klägerin zu Unrecht verneint, muss der Revision
der Klägerin insoweit unter entsprechender Abänderung des Berufungsurteils stattgegeben werden (§
144 Abs.
3 Satz 1 Nr.
1 VwGO).
2. Dagegen hat das Oberverwaltungsgericht im Einklang mit Bundesrecht entschieden, dass die Klägerin für die Zeit nach dem
13. März 1995, als sie erfuhr, dass der Beklagte eine Kostenübernahme (gegenüber den Eltern des Kindes) abgelehnt hat, Kostenerstattung
nicht verlangen kann.
Eine Weiterleistungsverpflichtung des bisher zuständig gewesenen Jugendhilfeträgers nach § 86 c Satz 1 SGB VIII und damit ein Kostenerstattungsanspruch aus § 89 c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII besteht nur, bis der nunmehr zuständige örtliche Träger die Leistung fortsetzt.
Unter "Fortsetzung" der Leistung durch den neu zuständigen Jugendhilfeträger ist auch dessen auf materielle Gründe gestützte
Leistungsablehnung zu verstehen. Zwar lässt sich eine "Leistungsfortsetzung" dem Wortlaut nach zumindest nicht ohne weiteres
mit einer "Leistungsablehnung" gleichsetzen. Dieses Verständnis der Regelung ergibt sich indes aus deren Sinn und Zweck; denn
es kann nicht Aufgabe der Vorschrift sein, dem Leistungsempfänger selbst dann weiterhin zu einer Leistung durch einen dafür
inzwischen örtlich unzuständig gewordenen Träger zu verhelfen, wenn der örtlich zuständige Träger ihm eine entsprechende Leistung
in eigener Zuständigkeit verweigert. Sinn und Zweck des § 86 c SGB VIII ist allein, die Lückenlosigkeit der Hilfegewährung im Falle eines Wechsels der örtlichen Zuständigkeit zu sichern. Der verfahrensrechtliche
Schutz der Leistungsberechtigten vor den Folgen eines Zuständigkeitswechsels erstreckt sich nicht auf den Schutz vor den materiellrechtlichen
Folgen eines Ortswechsels. Er endet daher dort, wo die nunmehr zuständige Behörde aus materiellen Gründen ihre Leistungspflicht
- sei es rechtmäßig oder rechtswidrig - verneint. Das Gesetz will nicht auf Kosten des neu zuständigen Trägers eine vorrangige
Leistungszuständigkeit des früheren, jetzt aber unzuständigen Trägers begründen. Unter "Fortsetzung der Leistung" im Sinne
von § 86 c SGB VIII ist daher nur die Übernahme des Hilfefalles durch den anderen, neuen Jugendhilfeträger in die eigene Regelungszuständigkeit
zu verstehen. Dies kann namentlich in Fällen, in denen sich durch den Ortswechsel Konsequenzen für das materielle Recht, nach
dem das Leistungsbegehren zu beurteilen ist, ergeben, auch eine Leistungsablehnung sein (sofern sie nicht tragend damit begründet
ist, der neue Träger fühle sich für die Leistung nicht zuständig).
Eine solche materiell begründete Leistungsablehnung ist hier erfolgt: Der Beklagte hat gegenüber den Eltern des Kindes durch
Bescheid vom 20. Februar 1995 eine Kostenübernahme mit der Begründung abgelehnt, dass das von ihm anzuwendende Kindertagesstättengesetz
des Landes keine Einzelfallhilfe, sondern nur eine institutionelle Förderung von Kindergärten vorsehe. Damit hat er die Tragung
der Kosten der Unterbringung des Kindes D. nicht mangels Zuständigkeit, sondern wegen Fehlens eines individuellen Anspruchs
auf die Jugendhilfeleistung abgelehnt.
Der den Eltern des Kindes erteilte Ablehnungsbescheid vom 20. Februar 1995 ist der Klägerin am 13. März 1995 (von den Eltern
des Kindes) zur Kenntnis gegeben worden. Damit war die Leistungsverpflichtung der Klägerin aus § 86 c Satz 1 SGB VIII beendet mit der Folge, dass der Klägerin die für die Unterbringung des Kindes noch nach diesem Zeitpunkt entstandenen Aufwendungen
vom Beklagten nicht zu erstatten sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
155 Abs.
1 Satz 1
VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit des vor dem 1. Januar 2002 anhängig gewordenen Verfahrens beruht auf §
188 Satz 2
VwGO a.F.