Auszahlungansprüche der Sozialleistungsträger wegen Kindergeld; Entscheidung über Abzweigung von Kindergeld als Ermessensentscheidung;
keine Beendigung der Haushaltsaufnahme durch vollstationäre Unterbringung eines Kindes; Familienleistungsausgleich [Kindergeld
für Stefan A.]
Tatbestand:
Der am 27.07.1980 geborene Stefan A. ist mit 100 v. H. schwerbehindert und seit dem 17.09.2000 in einem Heim untergebracht.
Zuvor war er bereits im Werkstattbereich der Einrichtung tätig. Die Mutter bezieht nach den Akten der Klägerin Arbeitslosengeld,
der Vater hat keine Einkünfte. Das Kindergeld wurde laufend an die Mutter gezahlt. Die Klägerin trägt die Kosten der Unterbringung
von Stefan im Rahmen der Eingliederungshilfe für Behinderte und beziffert die Kosten der Unterbringung mit durchschnittlich
3.000,- DM im Monat. Nach dem Bescheid vom 23.08.2000 werden die Eltern nicht im Rahmen der Selbstbeteiligung zu den Kosten
herangezogen. Mit Schreiben vom 24.08.2000 erklärte die Klägerin die Überleitung des Kindergeldanspruchs gemäß § 90 Abs. 1 Bundessozialhilfegesetz -BSHG- ab dem 17.09.2000, beantragte die Bewilligung des Kindergeldes gemäß §
67 Abs.
1 Satz 2
Einkommensteuergesetz -
EStG- und die Auszahlung nach §
74 Abs.
1 EStG. Auf Anfrage des Beklagten erklärte die Kindesmutter, ihr Sohn kehre regelmäßig 14-tägig von Freitag mittags bis Montag früh
in ihren Haushalt zurück. Weiter gab sie an, Unterhaltsleistungen an ihren Sohn in Form von Sachleistungen, Lebenshaltungskosten
für den zweimaligen Wochenendaufenthalt des Sohnes im Monat sowie damit zusammenhängender Fahrtkosten zum Förderbereich zu
erbringen. Als dessen Einnahmen erklärte sie den Erhalt von Taschengeld in Höhe von monatlich 158,10 DM. Mit Bescheid vom
15. Januar 2001 lehnte der Beklagte die Abzweigung des Kindergeldes an die Klägerin nach §
74 Abs.
1 EStG ab, da die unterhaltsverpflichteten Angehörigen Unterhalt in Form von Sach- und Betreuungsleistungen gewährten. Den dagegen
eingelegten Einspruch wies der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 20. März 2001 als unbegründet zurück.
Die Kindesmutter wurde zum Verfahren beigeladen.
Die Klägerin ist im wesentlichen der Auffasung, sie habe am 24.08.2000 den Übergang des Kindergeldanspruchs der Mutter auf
sich bewirkt. Sie habe daher einen Anspruch aus übergegangenem Recht. Die Voraussetzungen für den Kindergeldanspruch lägen
vor, da Stefan außerstande sei sich selbst zu unterhalten. Im übrigen sei sie auch nach §
74 Abs.
3 EStG i. V. m. §
104 Abs.
1 und
2 SGB X gegenüber dem Beklagten erstattungsberechtigt. Der Sozialleistungsträger habe pflichtgemäß das Bestehen zivilrechtlicher
Unterhaltsansprüche der Beigeladenen gegenüber ihrem Sohn geprüft. Das sei bis Ende 2001 zu verneinen gewesen.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, unter Aufhebung des Bescheides vom 15.01.2001 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 20.03.2001
Kindergeld ab Antragstellung bis zum 31.12.2001 für Stefan A. zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte ist der Auffassung, § 90 BSHG sei auf Kindergeldansprüche nach dem
Einkommensteuergesetz nicht anwendbar, da die Familienkassen insoweit Leistungsträger seien. Ein Erstattungsanspruch nach §
74 Abs.
3 EStG i.V.m. §
104 Abs.
1 Satz 1, Abs. 2 SGB X scheide aus, da es sich bei der Eingliederungshilfe um eine Sachleistung handele, beim Kindergeld jedoch
um eine Geldleistung. Es fehle daher an der notwendigen Gleichartigkeit der Leistungen. Die Voraussetzungen für eine Erstattung
nach §
74 Abs.
3 EStG i.V.m. §
104 Abs.
1 Satz 4 SGB X lägen nicht vor. Eine Abzweigung nach §
74 Abs.
1 EStG scheide aus, da die Kindesmutter ihre Unterhaltspflicht nicht verletze.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid vom 15. Januar 2001 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 20. März
2001 ist rechtswidrig, weil der Beklagte von dem ihm in §
74 Abs.
1 Einkommensteuergesetz -
EStG- eingeräumten Ermessen aufgrund mangelhafter Sachverhaltsaufklärung nicht fehlerfrei Gebrauch gemacht hat (§ 100 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 102 Finanzgerichtsordnung -FGO-).
Der Anspruch der Eltern auf Kindergeld für Stefan ergibt sich aus 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 i.V.m. §
32 Abs.
4 Satz 1 Nr.
3 EStG. Nach den bei den Akten befindlichen Erklärungen, die vom Kindesvater mit unterschrieben sind, haben die Eltern die Kindesmutter
zur Berechtigten bestimmt (§
64 Abs.
1 Satz 2 bzw. Abs.
3 Satz 3
EStG). Die Arbeitsverwaltung geht davon aus, dass bei behinderten Pflegekindern durch die vollstationäre Unterbringung die Haushaltaufnahme
nicht beendet wird (DA 63.2.2.2. Abs. 1 Satz 4, BStBl. I 2002, 366). Für das leibliche Kind kann nichts anderes gelten. Stefan
ist wegen seiner Behinderung und der geringen eigenen Einkünfte zweifelsohne außerstande sich selbst zu unterhalten (BFH,
Urteil vom 15. Oktober 1999 VI R 40/98, BStBl. II 2000, 75 und vom 24. Mai 2000 VI R 89/99, BStBl. II 2000, 580).
Ein Anspruch der Klägerin aus übergeleitetem Recht nach § 90 BSHG scheidet aus, da die Familienkasse Leistungsträger im Sinne von § 12 i.V.m. § 25 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch I ist. § 90 Abs. 1 BSHG betrifft nach seinem Wortlaut nur Ansprüche gegen einen anderen, der kein Leistungsträger im Sinne von § 12 SGB I ist. Die
Familienkasse und der Sozialleistungsträger stehen sich gleichrangig gegenüber (vgl. auch FG Düsseldorf, Urteil vom 15. Dezember
1999, EFG 2000, 225). Für Erstattungsansprüche zwischen Leistungsträgern sind die Regelungen nach §§ 102 bis 114 SGB X anzuwenden. § 90 BSHG kann in diesen Fällen auch nicht ergänzend herangezogen werden; die §§ 102 bis 114 SGB X enthalten eine abschließende Regelung über Erstattungsansprüche der Leistungsträger nach dem SGB untereinander (Schellhorn/Jirasch/Seipp,
15. Auflage, Rz. 5 zu § 90 BSHG). Der Senat folgt insoweit nicht der vom 5. Senat des Finanzgerichts des Landes Brandenburg vertretenen Auffassung (FG Brandenburg,
Urteile vom 12. Februar 1998 5 K 1827/97 EFG 1998, 887 sowie vom 12. Februar 1998 5 K 1827/97 Kg, nV). Auszahlungsansprüche der Sozialleistungsträger wegen Kindergeld nach dem
Einkommensteuergesetz richten sich allein nach den Regelungen des §
74 EStG sowie den damit ausdrücklich herangezogenen Vorschriften des SGB X. Darüber hinaus ist der Bundesfinanzhof hinsichtlich der
Klagebefugnis der Sozialleistungsträger im Festsetzungsverfahren der vom Bundesministerium der Finanzen vertretenen Auffassung
gefolgt. Danach kann die Klagebefugnis nicht aus sozialrechtlichen Überleitungs- oder Prozessstandschaftsregelungen (§ 90 Abs. 1, 91 a BSHG) hergeleitet werden. Vielmehr kann nach §
67 Abs.
1 Satz 2
EStG außer dem Kindergeldberechtigten einen Antrag auf Kindergeld auch stellen, wer ein berechtigtes Interesse an der Leistung
des Kindergeldes hat. Hierzu rechnen auch Sozialleistungsträger, die einem behinderten Kind Unterhalt gewähren (§
74 Abs.
1 Satz 4
EStG). Hierdurch können diese Personen auch im Festsetzungsverfahren Beteiligtenstellung nach §
78 Nr. 1
AO erlangen (BFH, Urteil vom 12. Januar 2001 VI R 181/97, BFH/NV 2001, 1017 sowie Beschluss vom 26. Januar 2001 VI B 310/00, BFH/NV 2001, 896). Ein Rückgriff auf § 90 BSHG ist insoweit auch nicht erforderlich.
Nach §
74 Abs.
1 Satz 1 und 4
EStG kann das Kindergeld an eine Person oder Stelle ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt, wenn der Kindergeldberechtigte
ihm gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Die Entscheidung über die Abzweigung, und damit auch
die Ablehnung eines solchen Antrages, ist eine Ermessensentscheidung der Behörde (Greite in Korn, § 74 Rz. 9; Felix in Kirchhof/Söhn
§ 74 RdNr. B 38; Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach § 74 Rz. 12, Heuermann in Blümich § 74 Rz. 36, Pust in Littmann/Bitz/Hellwig,
§ 74 Rz. 46) und damit gerichtlich nur im Rahmen des § 102 FGO daraufhin überprüfbar, ob die Voraussetzungen für eine Abzweigung vorliegen und die Entscheidung des Beklagten keine Ermessensfehler
aufweist bzw. dem Zweck der Ermächtigung entspricht. Eine fehlerfreie Ermessensentscheidung setzt voraus, dass die Behörde
ihre Entscheidung anhand des einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhalts prüft und dabei die Gesichtspunkte tatsächlicher
und rechtlicher Art. berücksichtigt, die nach Sinn und Zweck der Norm, die das Ermessen einräumt, maßgeblich sind (BFH, Urteil
vom 22. Juni 1990 III R 150/85, BStBl. II 1991, 864 m.w.N.). Dies ist spätestens in der Einspruchsentscheidung vollständig darzulegen (§
126 Abs.
1 Nr.
2 Abgabenordnung, § 44 Abs. 2 FGO). Der Beklagte hat im Streitfall ohne weitere Prüfung eine Unterhaltsverpflichtung der Kindesmutter bzw. der Eltern von Stefan
unterstellt und ist im weiteren davon ausgegangen, dass die Eltern ihren Unterhaltspflichten zumindest teilweise durch Erbringung
von Sach- und Betreuungsleistungen nachkommen. Die Eltern sind jedoch nach Aktenlage aufgrund ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse
nicht unterhaltsverpflichtet. Davon ist auch die Klägerin ausgegangen und hat daher die Eltern bis zum 31.12.2001 nicht zu
einem Kostenbeitrag herangezogen. Unterhaltspflichtig ist nicht, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen
außerstande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren (§
1603 Abs.
1 BGB). Zwar kommt eine Abzweigung des Kindergeldes an die Unterhalt gewährende Stelle auch in Betracht, wenn der Kindergeldberechtigte
mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltsverpflichtet ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten braucht,
der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld (§
74 Abs.
1 Satz 3 und 4
EStG). Das Gericht darf jedoch fehlende Tatsachenfeststellungen und Beweiswürdigungen nicht nachholen und damit die Entscheidung
der Behörde rechtfertigen (Tipke/Kruse, Rz. 5 zu § 102 FGO). Es ist vielmehr auf die Kassation der angefochtenen Entscheidung beschränkt.
Soweit der Beklagte im Verfahren die Auffassung vertreten hat, die Voraussetzungen für eine Erstattung des Kindergeldes nach
§
74 Abs.
3 EStG in der im Kalenderjahr 2000 geltenden Fassung seien nicht gegeben, schließt sich das Gericht dem an. Ein Erstattungsanspruch
nach §
74 Abs.
3 EStG i.V.m. §
104 Abs.
1 Satz 1, Abs. 2 SGB X setzt u. a. voraus, dass der nachrangig verpflichtete Sozialleistungsträger eine Leistung erbringt,
die mit dem Kindergeld vergleichbar ist. An der Zweckgleichheit fehlt es bei Leistungen nach § 43 BSHG (Greite in Korn, § 74 Rz. 13; BSG vom 08.04.1992 10 RKg 31/90, ZfJ 1993, 555). In Betracht käme ferner ein Anspruch nach §
74 Abs.
3 EStG i.V.m. §
104 Abs.
1 Satz 4 SGB X. Das setzt jedoch die Festsetzung eines Aufwendungsersatz- oder Kostenbeitragungsanspruchs voraus (BFH, Beschluss
vom 30. Januar 2001 VI B 272/99, BFH/NV 2001, 898; BSG, Urteil vom 22. Januar 1998 B 14/10 Kg 24/96 R., Sozialrecht 3-3100, § 104 Nr. 13; FG Düsseldorf, Urteil vom 15. Dezember 1999 9 K 5719/98 Kg, EFG 2000, 225; Berlebach, § 74 Rz. 35 ff, Greite in Korn, § 74 Rz. 13 ff). Das ist für den streitigen Zeitraum nicht der Fall.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.