Streitgegenstand im sozialgerichtlichen Verfahren bei Klagen auf höhere Rente
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung höherer Altersrente.
Der am 1937 geborene Kläger stammt aus der früheren S. und siedelte im August 1992 nach Deutschland aus. Er ist im Besitz
des Vertriebenenausweises A. Antragsgemäß bewilligte ihm die Beklagte mit Bescheid vom 08.03.2000 Altersrente für langjährig
Versicherte ab 01.05.2000 und legte der Rentenberechnung die in der Zeit von Juni 1955 bis August 1992 in der S. zurückgelegten
Beitragszeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) zu Grunde. Da sie diese Beitragszeiten nur für glaubhaft gemacht ansah, erfolgte eine Anrechnung gemäß § 22 Abs. 3 FRG lediglich zu fünf Sechsteln.
Im Februar 2008 beantragte der Kläger eine ihm günstigere Einstufung von in der früheren S. zurückgelegten Zeiten, nämlich
in die Qualifikationsgruppe 4. Im August 2008 beantragte er - zwischenzeitlich rechtskundig vertreten - zusätzlich die Überprüfung
des bestandskräftigen Rentenbescheides nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) im Hinblick auf die so genannte Fünf-Sechstel-Kürzung. Er rügte insbesondere, dass er von der Beklagten nicht darauf hingewiesen
worden sei, konkrete Lohnlisten bzw. Lohnlistenauszüge vorlegen zu können. Er werde sich um die Beschaffung entsprechender
Nachweise bemühen (vgl. Bl. 117/119 VA). In der Folgezeit teilte der Kläger mehrmals mit, er bemühe sich um die Ausstellung
entsprechender Arbeitsbescheinigungen (Bl. 129, 131, 147 VA).
Mit Bescheid vom 21.07.2009 stellte die Beklagte die Rente neu fest, indem sie einige Beitragszeiten in die höhere Qualifikationsgruppe
4 einstufte. Eine Entscheidung, so der Bescheid auf Seite 4, "bezüglich der beantragten Anerkennung der bisher glaubhaft gemachten
und daher um ein Sechstel in deren Bewertung gekürzten Beitragszeiten als nachgewiesene Beitragszeiten ohne Kürzung kann erst
nach Eingang der bereits angefragten Arbeitsbescheinigungen erfolgen". Den Widerspruch, der sich wiederum gegen die Anrechnung
von Beitragszeiten lediglich zu fünf Sechsteln, aber auch auf eine Zuordnung weiterer Zeiten zu höheren Qualifikationsgruppen
bezog, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11.11.2009 zurück. Sie führte u.a. aus, bereits "mit Bescheid vom 21.07.2009,
Seite 04 unten, hatten wir Ihnen mitgeteilt, dass eine Entscheidung wegen Anrechnung der geltend gemachten Zeiten zu 6/6 erst
nach Eingang der von ihnen bereits angefragten Arbeitsbescheinigungen erfolgen kann".
Erstmals in der am 23.02.2012 stattgefundenen mündlichen Verhandlung vor dem am 01.12.2009 angerufenen Sozialgericht Reutlingen
hat der Kläger die Bescheinigung aus der Archivakte vom 15.04.2009 nebst Übersetzung vorgelegt und erklärt, der Anspruch auf
eine Höherstufung der Qualifikationsgruppe werde nicht weiter verfolgt. Die allein auf die Gewährung höherer Rente auf der
Grundlage einer ungekürzten Anrechnung der in der S. zurückgelegten Beitragszeiten gerichtete Klage hat das Sozialgericht
mit Urteil vom 23.02.2012 abgewiesen.
Gegen das ihm am 05.03.2012 zugestellte Urteil hat der Kläger am 13.03.2012 Berufung eingelegt.
Er beantragt (Schriftsatz vom 20.06.2012, sachdienlich gefasst),
das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 23.02.2012 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 21.07.2009
in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2009 zu verurteilen, unter weiterer Rücknahme des Bescheides vom 08.03.2000
höhere Altersrente unter voller Anrechnung der in der früheren S. zurückgelegten Beitragszeiten zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz
und die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß den §§
143,
144,
151 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) zulässige Berufung, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach §
124 Abs.
2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist unbegründet.
Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist nur noch und ausschließlich die Frage, ob die dem Kläger zuerkannte Altersrente
für langjährig Versicherte hinsichtlich der Höhe des Rentenbetrages unter voller, also zu sechs Sechsteln, Berücksichtigung
der in früheren S. zurückgelegten Beitragszeiten zu berechnen ist (so auch das BSG, Urteil vom 25.02.2004, B 5 RJ 62/02 R in SozR 4-2600 § 237 Nr. 2 im Falle des Zugangsfaktors als Berechnungselement) und dem Kläger insoweit ein Anspruch auf
teilweise Rücknahme des früheren Rentenbescheides zusteht. Denn der Streitgegenstand wird durch den prozessualen Anspruch
bestimmt, durch das vom Kläger auf Grund eines konkreten Sachverhalts an das Gericht gerichtete und im Klageantrag zum Ausdruck
gekommene Begehren sowie durch den Klagegrund, aus dem sich die Rechtsfolge ergeben soll. Ähnlich wie in dem vom BSG entschiedenen Fall (a.a.O.) begehrt der Kläger vorliegend, wie in seinem mit Schriftsatz vom 20.06.2012 (Bl. 12 LSG-Akte)
gestellten Antrag zum Ausdruck kommt, nur die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung einer höheren Rente (unter Rücknahme
des früheren, bestandskräftig gewordenen Rentenbescheides) mit Blick auf die nur zu fünf Sechsteln der Rentenberechnung zu
Grunde gelegten Beitragszeiten, die der Kläger in der früheren S. zurückgelegt hatte. Wegen dieser, vom Kläger vorgenommenen
Bestimmung des Streitgegenstandes ist die Rentenberechnung daher nur insoweit nachzuprüfen (BSG, a.a.O.).
Das Sozialgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Allerdings erweist sich die hier vorliegende kombinierte
Anfechtungs- und Verpflichtungsklage bereits als unzulässig.
Eigentliche Rechtsgrundlage des klägerischen Begehrens ist § 44 SGB X. Nach Abs. 1 Satz 1 dieser Regelung ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit
zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt
ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden
sind. Die Bestimmung ermöglicht eine Abweichung von der Bindungswirkung sozialrechtlicher Verwaltungsakte, hier also vom bestandskräftigen
Rentenbescheid vom 08.03.2000.
Maßgebend für die Höhe der Altersrente des Klägers ist §
64 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VI). Danach ergibt sich der Monatsbetrag der Rente, wenn die unter Berücksichtigung des - vom Alter des Versicherten bei Rentenbeginn
abhängigen (vgl. §
77 SGB VI) - Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte, der Rentenartfaktor und der aktuelle Rentenwert mit ihrem Wert
bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden. Von Bedeutung sind somit insbesondere die persönlichen Entgeltpunkte des
Versicherten, die auch anhand von Beitragszeiten ermittelt werden (§
66 Abs.
1 Nr.
1 SGB VI). Gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 FRG stehen bei Vertriebenen wie dem Kläger Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung
zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich. Für die Feststellung dieser Beitragszeiten genügt
es zunächst, wenn die nach dem Gesetz erheblichen Tatsachen glaubhaft gemacht sind (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 1 FRG). Allerdings werden nach § 22 Abs. 3 FRG für Beitrags- oder Beschäftigungszeiten, die nicht nachgewiesen sind, die gemäß § 22 Abs. 1 FRG ermittelten Entgeltpunkte um ein Sechstel gekürzt.
Der Sache nach begehrt der Kläger die teilweise Aufhebung des Bescheides vom 21.07.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 11.11.2009 (Anfechtungsklage) und die Verurteilung der Beklagten zur (teilweisen) Rücknahme des Bescheides vom 08.03.2000
(Verpflichtungsklage) mit dem Ziel, unter voller Anrechnung der FRG-Zeiten höhere Altersrente zu erhalten.
Allerdings ist eine Anfechtungsklage nur zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch den Verwaltungsakt beschwert zu sein (§
54 Abs.
1 Satz 2
SGG). Beschwert ist ein Kläger nach §
54 Abs.
2 Satz 1
SGG, wenn der Verwaltungsakt rechtswidrig ist. Zulässigkeitsvoraussetzung für die Anfechtungsklage ist somit, dass der Kläger
behauptet, durch einen Verwaltungsakt beschwert zu sein, weil dieser Verwaltungsakt objektiv rechtswidrig sei und subjektiv
in rechtlich geschützte Interessen des Klägers eingreife (Keller in Meyer-Ladewig u.a.,
SGG, 10. Auflage, §
54 Rdnrn. 7, 9 f. - so genannte Klagebefugnis -).
Eine derartige Rechtsverletzung kann der Kläger in Bezug auf die angefochtenen Bescheide aber nicht behaupten. Denn über den
vom Kläger im Rahmen des § 44 SGB X geltend gemachten Anspruch auf höhere Rente wegen einer vollen Anrechnung der FRG-Zeiten wurde in den angefochtenen Bescheiden gar nicht entschieden. Im angefochtenen Bescheid vom 21.07.2009 Seite 4 unten
wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine Entscheidung bezüglich der beantragten Anerkennung ohne Kürzung erst nach
Eingang der Arbeitsbescheinigung erfolgen könne, deren Beschaffung der Kläger mehrmals angekündigt hatte. Vergleichbare Ausführungen
enthält der Widerspruchsbescheid auf Seite 3 unten: Dort wird darauf hingewiesen, dass eine volle Anerkennung noch immer an
der fehlenden Arbeitsbescheinigung scheitere und schon im Bescheid mitgeteilt worden sei, dass eine Entscheidung erst nach
Eingang der Arbeitsbescheinigungen erfolgen könne. Die Beklagte wollte also erkennbar über die volle Anrechnung der FRG-Zeiten nicht entscheiden und sie entschied dem entsprechend hierüber in den angefochtenen Bescheiden auch nicht. Vielmehr
wartete die Beklagte auf die vom Kläger angekündigte Bescheinigung, die - wie sich herausgestellt hat - zwar im Besitz des
Klägers war, aber vom Kläger der Beklagten während des Verwaltungs- bzw. Widerspruchsverfahrens nicht vorgelegt wurde. Vorgelegt
worden ist die Bescheinigung aus der Archivakte vom 15.04.2009 nebst Übersetzung vom Kläger erstmals in der mündlichen Verhandlung
vor dem Sozialgericht am 23.02.2012.
Entschied die Beklagte somit mit den angefochtenen Bescheiden noch gar nicht über die Frage einer (teilweisen) Rücknahme des
ursprünglichen Rentenbescheides nach § 44 SGB X in Bezug auf eine volle Anrechnung der FRG-Zeiten, kann der Kläger auch nicht behaupten, durch den Verwaltungsakt hinsichtlich des gemachten Anspruchs auf höhere Rente
wegen voller Anrechnung der FRG-Zeiten beschwert zu sein. Dem Kläger fehlt somit insoweit die Klagebefugnis für eine Anfechtungsklage (BSG, Urteil vom 21.09.2010, B 2 U 25/09 R). Damit ist die erhobene Anfechtungsklage - die früher streitige und in den angefochtenen Bescheiden auch entschiedene Frage
der Einstufung in Qualifikationsgruppen ist nicht mehr Gegenstand des Rechtsstreits, s. die Erklärung in der mündlichen Verhandlung
vor dem Sozialgericht - unzulässig.
Unzulässig ist aber auch die Verpflichtungsklage. Voraussetzung einer solchen Verpflichtungsklage ist, dass zunächst die Verwaltung
mit der Sache befasst war und über das Begehren entschied (BSG, Urteil vom 21.09.2010, B 2 U 25/09 R; Urteil vom 30.10.2007, B 2 U 4/06 R in SozR 4-5671 Anl. 1 Nr. 2108 Nr. 5; Urteil vom 16.11.2005, B 2 U 28/04 R). Andernfalls fehlt das Rechtsschutzbedürfnis für die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes in Form eines derartigen
Begehrens (Keller in Meyer-Ladewig u.a.,
SGG, 10. Auflage, §
54 Rdnr. 21).
So liegt der Fall hier. Gegenstand des Rechtsstreits ist - wie dargelegt - der Bescheid vom 21.07.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 11.11.2009. Eine Entscheidung über einen Anspruch des Klägers nach § 44 SGB X in Bezug auf höhere Altersrente wegen voller Anrechnung der FRG-Zeiten wird in diesen Bescheiden ausgespart. Damit ist das Leistungsbegehren mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig.
Die aus den o.g. Gründen in Bezug auf das Leistungsbegehren unzulässige Anfechtungsklage zieht gleichsam die Unzulässigkeit
der Verpflichtungsklage nach sich (BSG, Urteil vom 21.09.2010, B 2 U 25/09 R).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.