Anspruch auf Neufeststellung einer Altersrente nach rückwirkender Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Rücknahme eines Rentenbescheids unter Neuberechnung der Rente für die Zukunft streitig.
Der am 1947 geborene Kläger beantragte im Oktober 2007 sowohl die Gewährung von Altersrente für schwerbehinderte Menschen
als auch die Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung. Diese Anträge lehnte die Beklagte mangels Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen
zunächst ab. Im Widerspruchsverfahren bewilligte sie, nachdem der Kläger die Schwerbehinderteneigenschaft nachgewiesen hatte,
mit Bescheid vom 10.02.2009 sodann Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab 01.09.2008 in Höhe von monatlich 709,13 EUR.
Den der Rentenberechnung zu Grunde zu legenden Zugangsfaktor von 1,0 verminderte sie für jeden Kalendermonat, für den die
Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch genommen wurde, um 0,003, für 18 Kalendermonate mithin um 0,054, so dass sich ein
Zugangsfaktor von 0,946 ergab. Der Rentenberechnung legte sie ausgehend von den erworbenen Entgeltpunkten in Höhe von 28,2233
dann persönliche Entgeltpunkte im Umfang von 26,6992 (28,2233 x 0,946) zu Grunde. Auf den Widerspruch des Klägers bewilligte
die Beklagte mit Bescheid vom 07.10.2009 ferner Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 01.06.2007 bis 31.08.2008 in Höhe
von zunächst 664,86 EUR, ab 01.07.2007 in Höhe von 668,42 EUR und ab 01.07.2008 in Höhe von 675,80 EUR. Bei der Rentenberechnung
verminderte sie den Zugangsfaktor von 1,0 für jeden Kalendermonat, für den die Rente vor dem 01.03.2010 in Anspruch genommen
wurde, um 0,003, für 33 Kalendermonate mithin um 0,099, so dass sich ein Zugangsfaktor von 0,901 ergab. Ausgehend von den
für diesen Rentenbeginn ermittelten Entgeltpunkten in Höhe von 28,2402 legte sie der Rentenberechnung dann persönliche Entgeltpunkte
im Umfang von 25,4444 (28,2402 x 0,901) zu Grunde. Hinsichtlich der Rentenberechnungen im Einzelnen wird auf die Anlagen zu
den Bescheiden vom 10.02.2009 und 07.10.2009 Bezug genommen.
Ausgangspunkt des vorliegenden Rechtsstreits ist der Bescheid der Beklagten vom 18.10.2010, mit dem die Beklagte nach Anhörung
des Klägers die Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab 01.12.2010 mit einem Betrag in Höhe von 693,91 EUR brutto neu
feststellte. Bei der Rentenberechnung berücksichtigte sie - bei für diese Rente nun ermittelten 28,3111 Entgeltpunkten - als
Zugangsfaktor für die Entgeltpunkte, die bereits Grundlage einer früheren Rente waren, d.h. für 28,2402 Entgeltpunkte, den
Zugangsfaktor der früheren Rente von 0,901, da diese den früheren Zugangsfaktor behielten, so dass sich insoweit 25,4444 persönliche
Entgeltpunkte ergaben. Für die übrigen Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage einer Rente waren (28,3111 - 28,2402 = 0,0709),
ermittelte sie unter Verminderung des Zugangsfaktors von 1,0 um 0,054 weitere persönliche Entgeltpunkte in Höhe von 0,0671
(0,0709 x 0,946). Hinsichtlich der Berechnung im Einzelnen wird auf die Anlagen zum Bescheid verwiesen. Weiter führte die
Beklagte aus, der Rentenbescheid vom 10.02.2009 werde hinsichtlich der Rentenhöhe mit Wirkung für die Zukunft gemäß § 45 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB X) zurückgenommen. Diese Rücknahme sei zulässig, weil weder Vertrauensschutz nach den allgemeinen Grundsätzen des § 45 Abs. 2 Sätze 1 oder 2 SGB X gegeben noch die Frist des § 45 Abs. 3 SGB X abgelaufen sei. Auch die im Rahmen des Ermessens berücksichtigten Gesichtspunkte führten zu keinen anderen Ergebnis.
Mit dem dagegen erhobenen Widerspruch machte der Kläger die Rechtswidrigkeit der Neufeststellung geltend. Zum einen sei die
Frist des § 45 Abs. 4 SGB X überschritten. Zum anderen seien die Entgeltpunkte der Rente wegen voller Erwerbsminderung in ihrem geschmälerten Umfang
nicht bereits Gegenstand einer Rentenberechnung gewesen, da diese Rente erst im Nachhinein berechnet worden sei, während die
Berechnung der Altersrente zuerst erfolgt sei. Die Voraussetzungen des §
77 Abs.
3 des
Sechsten Buches des Sozialgesetzbuchs (
SGB VI) seien demnach nicht erfüllt. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 14.04.2011 zurückgewiesen.
Am 19.04.2011 hat der Kläger dagegen beim Sozialgericht Freiburg (SG) Klage erhoben und im Wesentlichen sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt.
Mit Urteil vom 28.02.2013 hat das SG die Klage abgewiesen. Da ein Fall der nachträglichen Rechtswidrigkeit vorliege, hätte die Beklagte die Neufeststellung zwar
nicht auf § 45 SGB X stützen dürfen, jedoch sei die Aufhebung des Bescheids vom 10.02.2009 gemäß § 48 SGB X mit Wirkung für die Zukunft rechtmäßig, da es im Sinne dieser Regelung durch den Erlass des Bescheides vom 07.10.2009 und
die Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung zu einer wesentlichen Änderung im Hinblick auf die bei der Altersrente
für schwerbehinderte Menschen zu berücksichtigenden Entgeltpunkte gekommen sei. Da die Aufhebung des Bescheids vom 10.02.2009
nicht mit Wirkung für die Vergangenheit, sondern nur für die Zukunft erfolgt sei, sei eine Jahresfrist nicht einzuhalten.
Ermessensgesichtspunkte seien angesichts des eindeutigen Wortlauts des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht zu berücksichtigen.
Gegen das seinem Bevollmächtigten am 20.03.2013 zugestellte Urteil hat der Kläger am 22.04.2013, einem Montag, beim Landessozialgericht
(LSG) Berufung eingelegt und geltend gemacht, was die Frage der Aufhebung des Rentenbescheids angehe, sei ein Wechsel der
Rechtsnormen im Nachhinein nicht zulässig. Allenfalls habe eine Rücknahmemöglichkeit gemäß § 48 SGB X bestanden, jedoch sei in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen keine wesentliche Änderung eingetreten. Auch die
Voraussetzungen des §
77 Abs.
3 SGB VI lägen nicht vor. Sofern erst im Nachhinein die Rente wegen voller Erwerbsminderung festgesetzt werde, seien dessen Tatbestandsvoraussetzungen
nicht erfüllt. Denn Entgeltpunkte für die Rente wegen voller Erwerbsminderung seien dann gerade nicht bereits Gegenstand einer
Rentenberechnung gewesen. Soweit das SG die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X, auf den § 48 Abs. 4 SGB X verweise, nicht für anwendbar erachte, sei dies unverständlich.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 28.02.2013 sowie den Bescheid der Beklagten vom 18.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 14.04.2011 aufzuheben und die Revision zuzulassen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für richtig.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der
Beklagten sowie der Akten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat verhandelt und entschieden, obwohl weder der Kläger noch sein Prozessbevollmächtigter im Termin zur mündlichen
Verhandlung erschienen ist. Denn die Beteiligten sind mit Hinweis auf diese Möglichkeit geladen worden.
Die gemäß §
151 Abs.
1 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§
143,
144 SGG statthafte Berufung des Klägers ist zulässig; sie ist jedoch nicht begründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Denn der Bescheid der Beklagten vom 18.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 14.04.2011 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Es ist nicht zu beanstanden, dass die Beklagte
die mit Bescheid vom 10.02.2009 bewilligte Altersrente für schwerbehinderte Menschen im Hinblick auf die im Oktober 2009 rückwirkend
bewilligte Rente wegen voller Erwerbsminderung mit dem angefochtenen Bescheid hinsichtlich der Rentenhöhe mit Wirkung für
die Zukunft neu feststellte.
Zutreffend ist das SG davon ausgegangen, dass Rechtsgrundlage für die Neufeststellung der dem Kläger mit Bescheid vom 10.02.2009 bewilligten Altersrente
für schwerbehinderte Menschen § 48 SGB X ist. Nach dieser Regelung ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen
Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. § 45 SGB X regelt, dass ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender
Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen der Abs.
2 bis 4 ganz oder teilweise zurückgenommen werden kann. § 45 SGB X findet demnach Anwendung, wenn der Verwaltungsakt bereits zum Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig war und deswegen geändert
werden soll. Beide Regelungen grenzen sich nach den objektiven Verhältnissen im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsakts,
der aufgehoben werden soll, ab (vgl. BSG, Urteil vom 21.06.2011, B 4 AS 21/10 R in SozR 4-4200 § 11 Nr. 39 m.w.N.).
Der Bescheid vom 10.02.2009 war zum Zeitpunkt seines Erlasses rechtmäßig und damit insbesondere auch im Hinblick auf den bei
der Rentenberechnung für die Ermittlung der persönlichen Entgeltpunkte zu Grunde zu legenden Zugangsfaktor nicht zu beanstanden.
Zu diesem Zeitpunkt wurde dem Kläger erstmals eine Rente bewilligt, so dass der Zugangsfaktor nach §
77 Abs.
2 SGB VI zu ermitteln war. Diese Vorschrift regelt die Höhe des Zugangsfaktors für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen
Entgeltpunkten einer Rente waren, und sieht in Nr. 2 für Renten wegen Alters vor, dass für jeden Kalendermonat, in dem die
Rente vorzeitig in Anspruch genommen wird, eine Verminderung des Zugangsfaktors von 1,0 um 0,003 erfolgt. Auf dieser Grundlage
legte die Beklagte ausgehend von der für den Kläger geltenden Altersgrenze für die Altersrente für schwerbehinderte Menschen
(§
236a SGB VI: 63. Lebensjahr) der Rentenberechnung zutreffend den Zugangsfaktor von 0,946 zu Grunde. Auch der Kläger hat die Rentenberechnung
insoweit nicht beanstandet. Nach den objektiven Verhältnissen war der Bescheid vom 10.02.2009 zum Zeitpunkt seines Erlasses
damit rechtmäßig, so dass eine Anwendung des § 45 SGB X ausscheidet.
Demgegenüber sind die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 SGB X erfüllt. Im Sinne dieser Vorschrift ist in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Bescheids
vom 10.02.2009 vorgelegen haben, nämlich eine wesentliche Änderung eingetreten. Denn mit der acht Monate später mit Bescheid
vom 07.10.2009 erfolgten Bewilligung von Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.06.2007 bis 31.08.2008 wurde
nachträglich eine der am 01.09.2008 beginnenden Altersrente für schwerbehinderte Menschen zeitlich vorausgehende Rente bewilligt,
so dass sich die ab 01.09.2008 bewilligte Altersrente für schwerbehinderte Menschen nachträglich als Folgerente darstellte.
Damit stellte sich der der Rentenberechnung auf der Grundlage des §
77 Abs.
2 SGB VI zu Grunde gelegte Zugangsfaktor aber nachträglich als unzutreffend dar, weil nunmehr bereits ein Zugangsfaktor für Entgeltpunkte
Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente - nämlich der Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 01.06.2007 bis
31.08.2008 - war. Entsprechend richtete sich die Ermittlung des Zugangsfaktors für die Altersrente für schwerbehinderte Menschen
nicht mehr nach §
77 Abs.
2 SGB VI, sondern nach dessen Abs.
3, wonach für diejenigen Entgeltpunkte, die bereits Grundlage persönlicher Entgeltpunkte einer früheren Rente waren, der frühere
Zugangsfaktor maßgebend bleibt.
Somit ist nicht zu beanstanden, dass die Beklagte die Altersrente für schwerbehinderte Menschen ausgehend von dem der Berechnung
der Rente wegen voller Erwerbsminderung zu Grunde gelegten Zugangsfaktor von 0,901 (Minderung des Zugangsfaktors um 0,003
für jeden Monat des Rentenbeginns vor Vollendung des 63. Lebensjahres, vgl. §
77 Abs.
2 Satz 1 Nr.
3 SGB VI in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung) für Entgeltpunkte in Höhe von 28,2402, mithin unter Berücksichtigung von persönlichen
Entgeltpunkten im Umfang von 25,4444 (28,2402 x 0,901) neu berechnete und den Zugangsfaktor von 0,946, wie er Rentenberechnung
ausweislich des Bescheids vom 10.02.2009 zu Grunde lag, lediglich noch in Bezug auf die 0,0709 Entgeltpunkte berücksichtigte,
die ihrerseits noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren.
Auf der Grundlage des § 48 Abs. 1 SGB X ist der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 18.10.2010 rechtlich daher nicht zu beanstanden. Dem steht insbesondere auch
nicht entgegen, dass die Beklagte ihre Entscheidung nicht auf diese Regelung, sondern auf § 45 SGB X gestützt hat. Denn ein Auswechseln der Rechtsgrundlagen ist bei den §§ 45, 48 SGB X, die auf dasselbe Ziel, nämlich die Aufhebung eines Verwaltungsakts, gerichtet sind, grundsätzlich möglich (BSG a.a.O.). Dies gilt sowohl für den hier in Rede stehenden Wechsel von § 45 SGB X zu § 48 SGB X (BSG, Urteil vom 25.04.2002, B 11 AL 69/01 R m.w.N.) als auch umgekehrt (BSG, Urteil vom 21.06.2011, a.a.O.).
Schließlich ist das SG auch zutreffend davon ausgegangen, dass die Beklagte keine Ermessensentscheidung zu treffen hatte. Denn soweit die Voraussetzungen
des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X vorliegen, "ist" der Verwaltungsakt - entsprechend der ausdrücklichen gesetzlichen Formulierung - mit Wirkung für die Zukunft
aufzuheben, weshalb der Behörde ein Ermessen im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht zusteht.
Letztlich ist für die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung auch unerheblich, ob die Beklagte den Bescheid vom 10.02.2009
innerhalb einer Frist von einem Jahr seit Kenntnis seiner Rechtswidrigkeit aufhob. Denn soweit § 48 Abs. 4 SGB X auf § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X verweist und eine entsprechende Anwendung vorsieht, folgt hieraus - entgegen der Ansicht des Klägers - nicht, dass die Beklagte
eine entsprechende Frist hätte einhalten müssen. Nach dieser Regelung hat die Behörde einen Verwaltungsakt zwar innerhalb
eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen, welche die Rücknahme des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die
Vergangenheit rechtfertigen, zurückzunehmen, allerdings liegt eine derartige Fallgestaltung hier nicht vor. Denn mit dem angefochtenen
Bescheid vom 18.10.2010 hat die Beklagte den Verwaltungsakt vom 10.02.2009 nicht rückwirkend, sondern mit Wirkung für die
Zukunft, nämlich erst ab 01.12.2010, aufgehoben. Entsprechend ist das SG daher auch zutreffend davon ausgegangen, dass die vom Kläger für anwendbar erachtete Jahresfrist nicht anzuwenden ist.
Nach alledem kann die Berufung des Klägers keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Insbesondere kommt der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung
zu.