Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit; Verweisbarkeit eines selbstständigen Zahntechnikermeisters
im Mehrstufenschema des BSG; Notwendigkeit der Antragstellung für eine Rente wegen Erwerbsminderung oder die Weitergewährung einer befristeten Rente
in einem laufenden Gerichtsverfahren
Tatbestand
Der Kläger begehrt Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit von der Beklagten.
Der 1958 geborene Kläger erlernte zunächst den Beruf des Elektrotechnikers (1976 bis 1980), war anschließend als Zahntechniker
beschäftigt und absolvierte 1980 die Zahntechnik-Meisterprüfung, anschließend war er selbständig von 1991 bis 2011 als Zahntechniker
mit eigenem Geschäft tätig. Der Kläger wurde am 01.07.1991 in die Handwerksrolle eingetragen; vom 01.08.1991 bis zum 31.01.2011
war er nach dem Handwerkerversicherungsgesetz versicherungspflichtig und entrichtete durchgehend Beiträge. Ab 01.02.2011 bestand
Arbeitsunfähigkeit. Seit 14.03.2013 ist ein GdB von 50 zuerkannt.
Nach einer Bypass-Operation am 21.01.2011 (OP-Bericht Blatt 323 Verwaltungsakte) bewilligte die Beklagte medizinische Leistungen
zur Rehabilitation, die vom 02.02.2011 bis 02.03.2011 in der Reha-Klinik H.-K. (Schwerpunktklinik für Herz- und Kreislauferkrankungen)
stattfanden. Im Entlassungsbericht vom 02.03.2011 sind folgende Diagnosen aufgeführt:
- Zustand nach Bulbus-Aneurysma mit funktioneller filiformer Hauptstammstenose, Zustand nach ACB-OP am 21.01.2011,
- Zustand nach Aortenklappenersatz mit conduit bei Aortenklappeninsuffizienz Grad III,
- leichtgradig reduzierte systolische links ventrikuläre Funktion,
- Paroxysmales Vorhofflimmern, ED 02/2011
Prognostisch bestehe ab Anfang Mai Leistungsfähigkeit für leichte bis gelegentlich mittelschwere körperliche Tätigkeiten ohne
erhöhte Verletzungsgefahr bei Marcumar-Therapie sowie ohne erhöhte Stressbelastung. Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Zahntechnikermeister
mit hoher psychischer Belastung werde nicht mehr möglich sein.
Am 25.10.2011 beantragte der Kläger Rente wegen Erwerbsminderung bei der Beklagten.
In einer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 08.11.2011 (Blatt 391 Verwaltungsakte) vertrat der Chirurg und Sozialmediziner
Dr. S. die Auffassung, dass der Kläger sowohl leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes als auch
den zuletzt ausgeübten Beruf als Zahntechniker weiterhin vollschichtig verrichten könne.
Mit Bescheid vom 22.11.2011 (Blatt 449 Verwaltungsakte) lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Hiergegen erhob der Kläger
am 05.12.2011 Widerspruch. Er nahm auf den Reha-Entlassungsbericht Bezug, wonach der Beruf als Zahntechnikermeister nicht
mehr ausgeübt werden könne. Die abweichende beratungsärztliche Stellungnahme vom 08.11.2011 sei nicht begründet.
In einer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 08.02.2012 vertrat der Internist und Sozialmediziner Dr. M. die Auffassung,
dass sich aus den vorliegenden Befunden keine überdauernden Leistungseinschränkungen ableiten ließen. Vorerkrankungen seien
nicht bekannt. Aufgrund einer Aussackung der Hauptschlagader hätten sich Atembeschwerden entwickelt und die Blutversorgung
des Herzens sei beeinträchtigt. Durch die Operation am 21.01.2011 sei die Aussackung entfernt und die Blutversorgung des Herzens
wieder in den vorigen problemlosen Zustand versetzt worden.
Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 08.03.2012 als unbegründet zurückgewiesen.
Hiergegen hat der Kläger am 27.03.2012 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben. Zur Begründung hat er auf sein Vorbringen
im Widerspruchsverfahren Bezug genommen und ergänzend vorgetragen, dass die körperliche Leistungsfähigkeit weiterhin eingeschränkt
sei, ebenso die psychische Belastbarkeit.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat auf die Begründungen der angefochtenen Bescheide Bezug genommen.
Das SG hat Beweis erhoben durch die Einholung sachverständiger Zeugenauskünfte der behandelnden Ärzte unter Übersendung einer Tätigkeitsbeschreibung
der beruflichen Tätigkeit eines selbständigen Zahntechnikermeister. Die Kardiologin Dr. R. hat mit Schreiben vom 13.07.2012
mitgeteilt, dass eine eingeschränkte Belastbarkeit (bis 100 Watt) bestehe. Der Ärztliche Direktor der Klinik für Herzchirurgie
Karlsruhe Dr. P. hat mit Schreiben vom 26.07.2012 mitgeteilt, dass das maßgebliche Leiden auf kardiologischem Fachgebiet liege.
Eine berufliche Tätigkeit als selbständiger Zahntechnikermeister sei im Rahmen einer Fünf-Tage-Woche mindestens sechs Stunden
täglich möglich.
Das SG hat weiteren Beweis erhoben durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens bei dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie
Dr. N., Karlsruhe. Im Gutachten vom 06.11.2012, erstellt nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 09.10.2012, hat der Sachverständige
ausgeführt, dass in somatischer Hinsicht bei der allgemeinen körperlichen und neurologischen Untersuchung kein wesentlich
pathologischer Befund habe erhoben werden können. In psychischer Hinsicht habe eine themenabhängige leichtgradige depressive,
teilweise gereizt resignative Stimmungsauslenkung im Vordergrund gestanden. Kognitiv hätten sich während der Explorationsdauer
keine Aufmerksamkeits- oder Gedächtnisstörungen, keine Wahrnehmungs- oder Ich-Störungen gefunden. Leichte und gelegentlich
mittelschwere körperliche Arbeiten mit Heben und Tragen von Lasten bis zu 10 kg, ohne besondere Anforderungen an die Körperhaltung,
ohne Treppensteigen, ohne Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, ohne Arbeiten unter Stress- und Zeitdruck, wie Akkord-, Fließband
und Schichtarbeiten seien sechs Stunden täglich möglich. Die Tätigkeit als Zahntechnikermeister entspreche nach der vorliegenden
Tätigkeitsbeschreibung des SG dem positiven Leistungsbild des Klägers.
Wegen eines gedeckt rupturiertem Milzaneurysmas ist der Kläger vom 14.03. bis 04.04.2013 (nach einer Notaufnahme) stationär
im S. Klinikum K. behandelt worden (Blatt 71 SG-Akte). Die Anschlussheilbehandlung hat in der Fachklinik F., B. H., stattgefunden. Im Entlassungsbericht vom 04.05.2013 (Blatt
84 SG-Akte) wird neben einer kardiologischen Beschwerdefreiheit eine erschwerte Krankheitsverarbeitung (depressive Verstimmtheit)
beschrieben. Am Ende des vom 15.04. bis 04.05.2013 dauernden Aufenthalts habe der Kläger angegeben, deutlich belastbarer und
psychisch stabilisiert zu sein. Allgemeine Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes seien sechs Stunden täglich möglich.
Auch die Tätigkeit als Zahntechnikermeister sei sechs Stunden und mehr täglich möglich. Im Entlassungsbericht wird allerdings
fälschlich davon ausgegangen, dass der Kläger seit 25 Jahren nicht mehr in diesem Beruf tätig gewesen sei.
Auf Antrag und Kostenrisiko des Klägers hat das SG weiteren Beweis erhoben durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens gemäß §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) bei dem Internisten Dr. G., Karlsruhe. Im Gutachten vom 13.09.2013 hat der Sachverständige folgende Diagnosen gestellt:
- Zustand nach mechanischem Aortenklappenersatz und Ersatz der Aorta ascendens,
- Zustand nach Milzarterienaneurysma-OP mit Milzexstirpation März 2013,
- Perioperative kardiopulmonale Reanimation, hämorrhagischer Schock März 2013,
- Nierenzysten beidseits,
- Posttraumatische psychovegetative Dystonie mit rezidivierenden mittelgradig depressiven Episoden seit April 2013,
- Reaktive Persönlichkeits- und Anpassungsstörung,
- Angstsyndrom und Schlafstörung.
Die Tätigkeiten als Zahntechnikermeister könne der Kläger nicht mehr ausüben, da die dauernde psychische Belastung, die der
Beruf mit sich bringe, vom Kläger nicht mehr zu leisten sei. Die Herz-Kreislauf-Situation sei aktuell befriedigend. Im Vordergrund
stehe die psychische Labilität. Der Kläger leide an rezidivierenden mittelgradig depressiven Episoden sowie posttraumatischem
Angstsyndrom. Er könne Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ca vier Stunden täglich ausüben. Von der Leistungsbeurteilung
des neurologisch- psychiatrischen Fachgutachtens vom 06.11.2012 weiche er ab.
Die Beklagte hat eine sozialmedizinische Stellungnahme der Fachärztin für Innere Medizin, Sozialmedizin und Rettungsmedizin,
Dr. P. vom 29.10.2013 vorgelegt und als zumutbare Verweisungstätigkeit "Fachkraft für überbetriebliche Aus- und Fortbildung"
benannt. Dr. P. hat ausgeführt, dass die Tätigkeit als selbständiger Zahntechnikermeister dem Kläger nicht mehr zuzumuten
sei, diesbezüglich bestehe ein drei- bis unter sechsstündiges Leistungsvermögen. Entsprechende Verweisungstätigkeiten, etwa
als Fachkraft in einer überbetrieblichen Aus- und Weiterbildung, könnten jedoch sechs Stunden und mehr täglich, verrichtet
werden.
Mit Urteil vom 17.02.2014 hat das SG die Klage abgewiesen. Die angegriffenen Bescheide der Beklagten seien rechtmäßig und verletzten den Kläger nicht in seinen
Rechten. Der Kläger könne sowohl eine Tätigkeit als Zahntechnikermeister als auch die benannte Verweisungstätigkeit einer
Fachkraft für die überbetriebliche Aus- und Weiterbildung mindestens sechs Stunden täglich verrichten. Das SG hat sich wesentlich auf die Feststellungen des Entlassungsberichts vom 04.05.2013 gestützt.
Gegen das seinem Bevollmächtigten am 03.03.2014 gegen Empfangsbekenntnis zugestellte Urteil des SG hat der Kläger am 06.03.2014 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Zur Begründung hat er sein bisheriges
Vorbringen wiederholt und vertieft. Es seien nur noch körperlich leichte Tätigkeiten ohne erhöhte Stressbelastungen zumutbar.
Sein Restleistungsvermögen entspreche bei weitem nicht den Anforderungen einer Tätigkeit als Zahntechnikermeister oder im
Verweisungsberuf als Ausbilder.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 17.02.2014 und den Bescheid der Beklagten vom 22.11.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 08.03.2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit
ab 01.10.2011 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie nimmt auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden und dem Urteil des SG Bezug.
Auf Antrag und Kostenrisiko des Klägers hat der Senat gemäß §
109 SGG Beweis erhoben durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens bei dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr.
B., Heidelberg. Im Gutachten vom 09.08.2014 hat der Sachverständige folgende Diagnosen gestellt:
- Zustand nach Aortenklappenersatz und Ersatz der Aorta ascendens,
- Zustand nach Milzexstirpation,
- Nierenzysten beidseits,
- leichte Hörminderung im Hochtonbereich beidseits,
- mäßig ausgeprägtes HWS-Syndrom,
- mittelgradige depressive Episode als Folge einer krankheitsdependenten Entwicklung.
Der Kläger habe sehr bedrückt und besorgt gewirkt. Die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit sei deutlich eingeschränkt. Mit
seiner Intelligenz und guten intellektuellen Strukturierung könne er vieles in kognitiver Hinsicht kompensieren. Er empfinde
subjektiv einen Einbruch seiner kognitiven Leistungen, dies habe sich aber objektiv nicht bestätigen lassen. Der Kläger könne
derzeit keiner beruflichen Tätigkeit nachgehen. Für eine Tätigkeit als Fachkraft für überbetriebliche Aus- und Weiterbildung
fehle ihm das Selbstbewusstsein, ebenso die Energie und Bereitschaft, weiterhin eine gehobene Verantwortung zu übernehmen.
Die Beklagte hat eine sozialmedizinische Stellungnahme der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. E. vom 08.09.2014
vorgelegt. Dr. E. führt aus, dass aus ihrer Sicht der psychopathologische Befund keine mittelgradige depressive Symptomatik
abbilde. Es erfolge offenbar auch keine adäquate leitliniengerechte antidepressive Therapie. Die Schlussfolgerung eines auf
unter drei Stunden reduzierten Leistungsvermögens sei nicht nachvollziehbar. Es sei keine adäquate Konsistenz- und Plausibilitätsprüfung
erfolgt.
Die Beklagte hat unter Bezugnahme auf das Gutachten Dr. N. außerdem die Auffassung vertreten, dass der Kläger auf eine Tätigkeit
als angestellter Zahntechniker verwiesen werden könne. Dies sei mit deutlich weniger Verantwortung, Planungs- und Koordinationsarbeit
und Konfliktpotenzial verbunden, als eine selbständige Meistertätigkeit. Es handle sich um eine Facharbeitertätigkeit.
Der Kläger hat eine ergänzende Stellungnahme Prof. Dr. B. vom 27.10.2014 vorgelegt.
Die Beklagte hat eine weitere sozialmedizinische Stellungnahme Dr. E. vom 24.11.2014 vorgelegt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogene Verwaltungsakte
sowie die Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die nach den §§
143,
144,
151 Abs
1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist statthaft, zulässig und begründet. Zu Unrecht hat das SG die Klage abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtwidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten.
Er hat einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit in Form einer Zeitrente.
Der geltend gemachte Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit richtet sich nach §
240 SGB VI i.V.m. §
43 SGB VI. Voraussetzung eines solchen Rentenanspruchs ist, dass der Kläger vor dem 02.01.1961 geboren und berufsunfähig ist sowie
die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des §
43 Abs
1 S 1 Nr
2 und
3 i.V.m. Abs
4 und 5
SGB VI erfüllt.
Der Kläger ist 1958 und damit vor dem Stichtag geboren, er ist auch berufsunfähig. Der Leistungsfall der Berufsunfähigkeit
ist am 21.01.2011 eingetreten.
Berufsunfähig sind nach §
240 Abs
2 Satz 1
SGB VI Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig
und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als
sechs Stunden gesunken ist.
Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die
ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie
ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§
240 Abs
2 Satz 2
SGB VI). Zumutbar ist stets eine Tätigkeit, für die die Versicherten durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit Erfolg ausgebildet
oder umgeschult worden sind (§
240 Abs
2 Satz 3
SGB VI).
Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige
Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§
240 Abs
2 Satz 4
SGB VI). Im Rahmen der Beurteilung, ob einem Versicherten eine Tätigkeit iSd §
240 Abs
2 Sätze 2 bis 4
SGB VI sozial zumutbar ist, kann ein Versicherter auf eine Tätigkeit derselben Stufe bzw auf Tätigkeiten jeweils nächstniedrigeren
Stufe verwiesen werden (zum Stufenschema des BSG vgl BSG 22.10.1996, 13 RJ 35/96, SozR 3-2200 § 1246 Nr 55; BSG 18.02.1998, B 5 RJ 34/97 R, SozR 3-2200 § 1246 Nr 61, jeweils mwN). Zur Feststellung des qualitativen Werts des bisherigen Berufs und damit zur Bestimmung der zumutbaren
Verweisungstätigkeiten hat das BSG zunächst für Arbeiter, dann auch für Angestellte ein Mehrstufenschema entwickelt (BSGE 55, 45 = SozR 2200 § 1246 Nr 107; BSGE 57, 291 = SozR 2200 Nr. 126; SozR 3-2200 § 1246 Nr 2, 41). Im Bereich der Arbeiter sind die Leitberufe des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion
(Meisters, auch des besonders hochqualifizierten Facharbeiters), des Facharbeiters, des angelernten und des ungelernten Arbeiters
zu unterscheiden. Die Gruppe der angelernten Arbeiter ist in einen unteren Bereich (Anlerndauer mehr als drei Monate bis zu
einem Jahr) und in einen oberen Bereich (Anlerndauer mehr als ein Jahr bis zu zwei Jahren) zu unterteilen. Im Bereich der
Angestellten erfolgt eine Einteilung in folgende Stufen (vgl zusammenfassend BSG 27.08.2009, B 13 R 85/09 B):
1. Stufe: ungelernte Berufe
2. Stufe: Berufe mit einer Ausbildung bis zu zwei Jahren
3. Stufe: Berufe mit einer Ausbildung von mehr als zwei Jahren
4. Stufe: Berufe, die zusätzliche Qualifikationen oder Erfahrung oder den erfolgreichen Besuch einer Fachschule voraussetzen;
zu ihr gehören Facharbeiter mit Vorgesetztenfunktion gegenüber anderen Facharbeitern, Spezialfacharbeiter, Meister, Berufe
mit Fachschulqualifikation als Eingangsvoraussetzung
5. Stufe: Berufe, die einen erfolgreichen Abschluss einer Fachhochschule oder eine zumindest gleichwertige Berufsausbildung
voraussetzen
6. Stufe: Berufe, deren hohe Qualität regelmäßig auf einem Hochschulstudium oder einer vergleichbaren Qualifikation beruht.
Ausgehend von diesen Grundsätzen und nach Abschluss der Beweiserhebung ist der Senat davon überzeugt, dass der Leistungsfall
der Berufsunfähigkeit am 21.01.2011 eingetreten ist.
Der Kläger kann zur Überzeugung des Senats nach den vorliegenden ärztlichen Gutachten und sozialmedizinischen Stellungnahmen
seit diesem Zeitpunkt nicht mehr als Zahntechniker, weder als selbständiger Meister noch als Angestellter, arbeiten. Er ist
mindestens in Stufe 4 des genannten Schemas einzuordnen und kann nicht sozial zumutbar auf eine Tätigkeit als Fachkraft für
überbetriebliche Aus- und Fortbildung verwiesen werden.
Die berufsspezifischen Merkmale bzw Anforderungen, die sowohl an eine Tätigkeit als Zahntechniker als auch als Zahntechnikermeister
gestellt werden, decken sich ausweislich der Datenbank der Bundesagentur für Arbeit unter http://www.berufe.net in wesentlichen
Punkten wie vor allem Leistungs- und Einsatzbereitschaft (zB tatkräftiges Erledigen fachlich besonders schwieriger Reparaturarbeiten
an zahntechnischen Produkten), Sorgfalt und selbstständige Arbeitsweise (zB eigenständiges Erkennen und Erledigen der Aufgaben
beim Herstellen von kieferorthopädischen Implantaten). Diese Anforderungen decken sich mit den vom Kläger geschilderten Umständen,
insb Termin- und Zeitdruck, die mit der Berufsausübung verbunden sind und Stressresistenz voraussetzen. Diesen Anforderungen
ist der Kläger jedoch nicht mehr gewachsen.
Bereits der Entlassungsbericht vom 02.03.2011 der Reha-Klinik H.-K. hält fest, dass nach der Herz-OP im Januar 2011 keine
Tätigkeiten mit erhöhter Stressbelastung mehr möglich sind und weist daraufhin, dass die Tätigkeit als Zahntechnikermeister
mit der damit einhergehenden hohen psychischen Belastung nicht mehr möglich sein werde. Damit haben sich die sozialmedizinischen
Stellungnahmen im Verwaltungsverfahren nicht ausreichend auseinandergesetzt. Dr. N. hat im Gutachten vom 06.11.2012 ausgeführt,
dass Arbeiten unter Stress oder Zeitdruck nicht mehr möglich sind. Seine Ausführungen, dass der Kläger gleichwohl als Zahntechnikermeister
sechs Stunden täglich arbeiten könne, waren daher ausweislich des oa Anforderungsprofils für den Senat nicht nachvollziehbar.
Dr. G. hat im Gutachten vom 09.09.2013 für den Senat nachvollziehbar ausgeführt, dass der Kläger eine Tätigkeit als Zahntechnikermeister
nicht mehr ausüben kann, da die dauernde psychische Belastung, die der Beruf mit sich bringe, von ihm nicht mehr zu leisten
sei. Auch Dr. P. hat ihrer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 29.10.2013, ebenfalls für den Senat überzeugend, ausgeführt,
dass die Tätigkeit als selbständiger Zahntechnikermeister dem Kläger nicht mehr zuzumuten sei.
Auf die Tätigkeit "Fachkraft für überbetriebliche Aus- und Fortbildung" braucht sich der Kläger nicht verweisen zu lassen.
Diese Verweisung ist einerseits zu unspezifisch. Es handelt sich zwar um eine im Berufenet der BA aufgeführte Tätigkeit, für
die aber weder Informationen zu Ausbildung noch zu Verdienst/Einkommen verfügbar sind, so dass schon die Relation zu dem in
Stufe 4 des Mehrstufenschemas des BSG einzuordnenden Kläger nicht bestimmbar ist. Außerdem verfügt der Kläger nach seinem glaubhaftem Vorbringen in der mündlichen
Verhandlung nicht über die Kern- und Nebenkompetenzen, die für die von der Beklagten genannte Tätigkeit ausweislich des Berufenet
der BA erforderlich sind (Kompetenzen in Aus- und Fortbildung, Didaktik, Methodik, Unterricht, Schulung [außerschulischer
Bereich]; Nebenkompetenzen: Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie; Arbeits-, Betriebssoziologie; Berufsbildungsrecht,
Berufs- und Arbeitspädagogik, Bildungsberatung, Lernzielkontrolle, Pädagogische Psychologie, Schulpsychologie).
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung der teilweisen Erwerbsminderung wegen Berufsunfähigkeit liegen
vor. Nach §
43 Abs
1 Satz 1 Nr
2 und Nr
3 SGB VI i.V.m. §
43 Abs
4 und
5 SGB VI müssen vor Eintritt des Versicherungsfalles der Berufsunfähigkeit die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren erfüllt und in
den davor liegenden fünf Jahren für mindesten 36 Monate Pflichtversicherungsbeiträge gezahlt worden sein. Dies ist ausweislich
des von der Beklagten vorgelegten Kontenspiegels der Fall (Bl 393 Verwaltungsakte).
Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, auch bei Berufsunfähigkeit, werden auf Zeit geleistet. Die Befristung erfolgt
für längstens drei Jahre nach Rentenbeginn (§
102 Abs
2 S 1 und 2
SGB VI). Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, werden unbefristet geleistet, wenn
unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann; hiervon ist nach einer Gesamtdauer der
Befristung von neun Jahren auszugehen (§
102 Abs
2 S 5
SGB VI). Befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt
der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet (§
101 Abs
1 SGB VI).
Die Rente war zu befristen, da ein Dauerzustand zum gegenwärtigen Zustand nicht angenommen werden kann. Renten, auf die ein
Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, werden unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist,
dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann; hiervon ist nach einer Gesamtdauer der Befristung von neun Jahren
auszugehen (§
102 Abs
2 S 5
SGB VI). Eine Besserung im Gesundheitszustand ist solange noch nicht unwahrscheinlich, solange nicht alle therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten
erschöpft sind. Hierzu zählen alle anerkannten Behandlungsmethoden, auch geläufige Operationen, die zur Wiederherstellung
der Leistungsfähigkeit führen können, soweit nicht im Gesundheitszustand des Versicherten liegende Kontraindikationen entgegenstehen
(BSG 29.03.2005, B 13 RJ 31/05 R, SozR 4-2600 § 102 Nr 2). Die Frage, ob die Behebung unwahrscheinlich ist, ist zum Zeitpunkt der Bewilligung prognostisch zu beurteilen und
unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff der umfassenden gerichtlichen Nachprüfung. Dr. E. hat in ihrer sozialmedizinischen
Stellungnahme vom 08.09.2014 für den Senat überzeugend dargelegt, dass Behandlungsressourcen bestehen und eine adäquate leitliniengerechte
antidepressive Therapie erfolgen solle. Die therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten sind daher nicht erschöpft und die Rente
war nicht als Dauer-, sondern als Zeitrente zu gewähren.
Befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt
der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet (§
101 Abs
1 SGB VI). Maßgeblich ist im Übrigen der Rentenantrag (§
99 Abs
1 Satz 2
SGB VI). Danach ist der Rentenbeginn am 01.10.2011, wie vom Kläger beantragt. Die Rente hat dem Kläger befristet bis zum 30.09.2014
zugestanden. Danach hat der Kläger Anspruch auf Verlängerung der Zeitrente (§
102 Abs
2 S 3
SGB VI) bis zum 30.09.2017. Die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung oder die Weitergewährung einer befristeten Rente setzen
zwar grundsätzlich die Antragstellung iS der §§
99 Abs
1,
115 Abs
1 SGB VI voraus. Bei einem laufenden Gerichtsverfahren über den Rentenanspruch ist ein solcher Antrag immer in dem Fortbetreiben des
Verfahrens durch den Versicherten zu sehen (vgl LSG Sachsen-Anhalt 19.07.2011, L 3 R 485/07 unter Hinweis auf BSG 14.11.2002, B 13 RJ 47/01 R, BSGE 90, 136, SozR 3-2600 § 300 Nr 18).
Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt; die vorhandenen Gutachten, Reha-Entlassungsberichte und Arztauskünfte bilden eine
ausreichende Grundlage für die Entscheidung des Senats und haben die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen
sachlichen Grundlagen vermittelt (§
118 Abs
1 Satz 1
SGG, §
412 Abs
1 ZPO); weitere Beweiserhebungen waren daher von Amts wegen nicht mehr notwendig.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§
160 Abs
2 Nr
1 und
2 SGG).