Anspruch auf Arbeitslosengeld II; Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses für Ausländer mit Aufenthaltsrecht zum
Zweck der Arbeitssuche; Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des FreizügG/EU bei Ableistung des Bundesfreiwilligendienstes
Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstößt nicht gegen Recht der Europäischen Union (Anschluss an LSG Baden-Württemberg vom 16.5.2012 - L 3 AS 1477/11). Maßgeblich für die Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU ist der gemeinschaftsrechtliche Arbeitnehmerbegriff. Der in Art. 45 AEUV verwendete Begriff des Arbeitnehmers hängt nicht von der Arbeitnehmerdefinition des jeweiligen nationalen Rechts ab, sondern
wird für alle Mitgliedstaaten einheitlich durch das Unionsrecht bestimmt und ist weit zu verstehen. Beim Bundesfreiwilligendienst
nach dem BFDG handelt es sich nicht um Tätigkeiten, die Bestandteil des regulären Arbeitsmarktes sind, weshalb hierdurch keine Arbeitnehmereigenschaft
im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU begründet wird.
1. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II verstößt nicht gegen Recht der Europäischen Union.
2. Maßgeblich für die Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU ist der gemeinschaftsrechtliche Arbeitnehmerbegriff. Der in Art. 45 AEUV verwendete Begriff des Arbeitnehmers hängt nicht von der Arbeitnehmerdefinition des jeweiligen nationalen Rechts ab, sondern
wird für alle Mitgliedstaaten einheitlich durch das Unionsrecht bestimmt und ist weit zu verstehen.
3. Beim Bundesfreiwilligendienst nach dem BFDG handelt es sich nicht um Tätigkeiten, die Bestandteil des regulären Arbeitsmarktes sind, weshalb hierdurch keine Arbeitnehmereigenschaft
im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU begründet wird. [Amtlich veröffentlichte Entscheidung]
Gründe
Die Beschwerden des Antragstellers sind zulässig; sie sind insbesondere statthaft und form- und fristgerecht eingelegt worden
(vgl. §§
172 Abs.
1 und
3,
173 des
Sozialgerichtsgesetzes [SGG]). Die Beschwerden sind jedoch nicht begründet; das Sozialgericht (SG) hat den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtschutzes wie auch die Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Ergebnis zu Recht
abgelehnt.
Hinsichtlich der Rechtsgrundlage für die begehrte einstweilige Anordnung verweist der Senat auf den angefochtenen Beschluss
des SG (§
142 Abs.
2 Satz 3
SGG). Mit dem SG ist auch der erkennende Senat der Auffassung, dass der Antragsteller keinen Anspruch auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat. Denn auch der Senat hält den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für europarechtskonform (1). Darüber hinaus hielt sich der Antragsteller im hier streitgegenständlichen Zeitraum allein
zur Arbeitsuche auf (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alternative 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern
[Freizügigkeitsgesetz/EU]), weshalb der Leistungsausschluss gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II durchgehend greift (2.).
(1.)
Gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind aus dem Kreis der Leistungsberechtigten ausgenommen Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich alleine aus dem Zweck der
Arbeitssuche ergibt. Dass der Antragsteller sich allein zur Arbeitsuche aufgehalten hat, ist zwischen den Beteiligten jedenfalls
für den Zeitraum bis einschließlich 30. Juni 2012 unstreitig. Der Antragsteller kann insbesondere ein Aufenthaltsrecht nicht
aus dem Aufenthaltsrecht seiner Lebensgefährtin, Frau M. als Familienangehöriger gem. § 3 Freizügigkeitsgesetz/EU ableiten.
Denn die Lebensgefährtin ist keine Familienangehörige im Sinne der Legaldefinition in § 3 Abs. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU.
Kann der Antragsteller somit sein Aufenthaltsrecht einzig aus dem Zweck der Arbeitssuche ableiten, so greift der Leistungsausschluss
des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ein. Der Senat schließt sich dem 3. Senat des Landessozialgerichts Baden-Württemberg im Urteil vom 16. Mai 2012 (L 3 AS 1477/12 - [...] Rdnr. 66 ff.) vollumfänglich an. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstößt weder gegen das Gleichbehandlungsgebot aus Artikel 4 i.V.m. Artikel 70 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 der Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme
der sozialen Sicherheit noch verletzt Artikel 24 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie das Primärrecht der Union, insbesondere
Artikel 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Der Senat verweist zur näheren Begründung auf das veröffentlichte Urteil des 3. Senats vom 16. Mai 2012.
(2.)
Ein Anordnungsanspruch liegt aber auch insoweit nicht vor, als der Antragsteller seit dem 1. Juli 2012 den Freiwilligendienst
auf der Grundlage des Bundesfreiwilligendienstgesetzes (BFDG) ableistet. Wie eine telefonische Nachfrage bei der Dienststelle des Antragstellers, dem Wohnstift F., ergeben hat, hat dieser
in Erfüllung der im Februar 2012 geschlossenen Vereinbarung zum 1. Juli 2012 seinen Dienst mit einer wöchentlichen Arbeitszeit
von 21 Std. aufgenommen. Damit käme grundsätzlich in Betracht, dem Antragsteller die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des
§ 2 Abs. 2 Nr. 1 Alternative 1 Freizügigkeitsgesetz/EU zuzuerkennen, was den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II entfallen ließe (vgl. hierzu Bundessozialgericht [BSG] vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10 R = SozR 4-4200 § 7 Nr. 21 - [...] Rdnr. 18). Maßgeblich für die Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alternative 1 Freizügigkeitsgesetz/EU ist der gemeinschaftsrechtliche Arbeitnehmerbegriff (vgl. BSG a.a.O.). Der in Artikel 45 AEUV verwendete Begriff des Arbeitnehmers hängt nicht von der Arbeitnehmerdefinition des jeweiligen nationalen Rechts ab, sondern
wird für alle Mitgliedsstaaten einheitlich durch das Unionsrecht bestimmt. Da die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu den Grundlagen
der Gemeinschaft gehört, sind die Vorschriften, die über den Geltungsbereich entscheiden, weit auszulegen; auch der Arbeitnehmerbegriff
des Artikel 45 AEUV ist daher weit zu verstehen (ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. Urteil des Europäischen Gerichtshofs [EuGH] vom 26. November
1998 Birden - C-1/97 - [...] Rdnr. 25; EuGH vom 7. September 2004 Trojani - C-456/02 - [...] Rdnr. 15; EuGH vom 11. September 2008 Petersen - C-228/07 - [...] Rn. 45). Danach ist Arbeitnehmer jeder, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei nur Tätigkeiten außer
Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen (EuGH
Trojani a.a.O.; EuGH Birden a.a.O.; EuGH Petersen a.a.O.). Das wesentliche Merkmal eines Arbeitsverhältnisses besteht demnach
darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als
Gegenleistung eine Vergütung erhält (EuGH Trojani a.a.O.).
Der Antragsteller erhält als Gegenleistung für die von ihm für das Wohnstift und nach dessen Weisung erbrachten Leistungen
monatliche Vergütungen in Form von Taschengeld in Höhe von 165,- EUR sowie einen Verpflegungskostenzuschuss in Höhe von 170,-
EUR und eine weitere Geldersatzleistung für Unterkunft, Dienstkleidung bzw. Arbeitskleidung in Höhe von 165,- EUR. Damit ist
bereits festgestellt, dass nach dem gemeinschaftsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff, wie ihn der EuGH entwickelt hat, die Grundmerkmale
eines Arbeitsverhältnisses, nämlich das Abhängigkeitsverhältnis und die Zahlung einer Vergütung vorliegen (EuGH Trojani a.a.O.,
[...] Rdnr. 22). Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass es sich beim Freiwilligendienst auf der Grundlage des BFDG nicht um ein Arbeitsverhältnis nach nationalem Recht handelt, sondern durch die Vereinbarung zwischen Bund und Freiwilligem
ausweislich der Gesetzesbegründung ein "öffentlicher Dienst des Bundes eigener Art" begründet wird (vgl. BR-Drucksache 849/10,
S. 29); ebenso ohne Belang ist die Produktivität des Betreffenden, woher die Mittel für die Vergütung stammen oder auch, dass
sich die Höhe der Vergütung in Grenzen hält (EuGH Trojani, a.a.O., [...] Rdnr. 16). Auch der Umstand, dass keine Vergütung,
sondern lediglich die Gewährung von Taschengeld und Sach- bzw. Sachersatzleistungen erfolgt, schließt deshalb die Annahme
eines Arbeitsverhältnisses nach Unionsrecht nicht aus; so führt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bereits eine
wöchentliche Stundenzahl von 7,4 Std. zur Arbeitnehmereigenschaft; das Bundessozialgericht hat dabei einem Monatsverdienst
von lediglich 100,- EUR keine dem entgegenstehende Bedeutung beigemessen (BSG a.a.O.; andere Auffassung, allerdings ohne nähere Begründung LSG Berlin-Brandenburg vom 5. März 2012 - L 29 AS 414/12 B ER - [...] Rdnr. 31).
Als tatsächliche und echte Tätigkeiten im Sinne der Rechtsprechung des EuGH können indes nur solche tatsächlich erbrachte
Leistungen angesehen werden, die auf dem Beschäftigungsmarkt üblich sind (EuGH Trojani a.a.O., [...] Rdnr. 24). Eine Berufung
auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist deshalb nur dann statthaft, wenn die ausgeübte Tätigkeit dem Wirtschaftsleben im Rahmen
des "Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" im Sinne von Artikel 3 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) zuzurechnen ist (Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Artikel 45 AEUV Rdnr. 81 m.w.N.). Bei den Tätigkeiten, die der Antragsteller im Rahmen seines Freiwilligendienstes zu erbringen hat, handelt
es sich aber nicht um die auf dem regulären Beschäftigungsmarkt üblichen Tätigkeiten. Dies ergibt sich bereits aus § 3 Abs. 1 Satz 3 BFDG, wonach der Bundesfreiwilligendienst arbeitsmarktneutral auszugestalten ist. Ausweislich der Gesetzesbegründung wird damit
sichergestellt, dass die Freiwilligen unterstützende, zusätzliche Tätigkeiten verrichten und keine hauptamtlichen Kräfte ersetzen
(vgl. BR-Drucksache 849/10, S. 24 f). Hierzu wird die Voraussetzung der Arbeitsmarktneutralität vor jeder Anerkennung eines
Dienstplatzes durch die zuständige Bundesbehörde geprüft und anschließend durch die Außendienstmitarbeiterinnen und Mitarbeiter
der Dienststelle kontinuierlich überwacht (vgl. BR-Drucksache a.a.O.). Durch die zeitlichen Begrenzungen in § 3 Abs. 2 Satz 5 BFDG soll nach der Gesetzesbegründung sichergestellt werden, dass niemand den Bundesfreiwilligendienst zur Bestreitung seines
Lebensunterhalts ableistet und dass eine regelmäßige Neubesetzung der Einsatzplätze stattfindet (BR-Drucksache 849/10, S.
25). Vor dem Hintergrund dieser Regelungen kann der Bundesfreiwilligendienst nicht mehr dem regulären Arbeitsmarkt zugerechnet
werden. Die Situation stellt sich hier anders dar, als im bereits vom EuGH entschiedenen Fall eines Klägers, dem im Rahmen
des damaligen § 19 Abs. 2 Bundessozialhilfegesetz eine befristete Beschäftigung zum Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt bei marktüblichem Tätigkeitsfeld und marktgerechter
Vergütung zur Verfügung gestellt worden ist. In letzterem Fall hat der EuGH dann auch maßgeblich auf die gewährte übliche
Vergütung sowie den Abschluss eines Arbeitsverhältnisses nach deutschem Recht abgestellt und die gemeinschaftsrechtliche Arbeitnehmereigenschaft
bejaht (EuGH Birden a.a.O., [...] Rdnr. 42 ff.), also Umstände herangezogen, die hier gerade nicht gegeben sind. Nachdem die
Beschäftigung des Antragstellers im Rahmen des Freiwilligendienstes nicht Bestandteil des regulären Arbeitsmarktes ist, kommt
ihm auch kein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer zu (im Ergebnis ebenso LSG Berlin-Brandenburg a.a.O.). Der Antragsteller hat
damit keinen Anspruch auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung.
Nachdem die Rechtsverfolgung in der Hauptsache keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§
73a SGG i.V.m. §
114 Zivilprozessordnung [ZPO]), war auch die Beschwerde gegen den die Gewährung von Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschluss vom 4. Juni 2012 zurückzuweisen
und der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren abzulehnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 Abs.
1 SGG. Soweit die Beschwerde gegen die Entscheidung des SG über die Prozesskostenhilfe zurückzuweisen war, beruht die Kostenentscheidung auf §
127 Abs.
4 ZPO.
Diese Entscheidung kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden (§
177 SGG).