Anspruch auf Arbeitslosengeld II; Leistungsausschlusses für Ausländer mit Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitssuche; Arbeitnehmereigenschaft
im Sinne des FreizügG/EU bei Tätigkeiten in geringem Umfang
Maßgeblich für die Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU ist der gemeinschaftsrechtliche Arbeitnehmerbegriff. Der in Art. 45 AEUV verwendete Begriff des Arbeitnehmers hängt nicht von der Arbeitnehmerdefinition des jeweiligen nationalen Rechts ab, sondern
wird für alle Mitgliedstaaten einheitlich durch das Unionsrecht bestimmt und ist weit zu verstehen. Arbeitnehmer ist danach
jeder, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang
haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Letzteres ist nicht der Fall bei einer Tätigkeit
mit einem zeitlichen Umfang von ca. 5 bis 10 Stunden und einem Verdienst von 121,- bis 242,- EUR monatlich, sofern nicht ausnahmsweise
nichtwirtschaftliche Motive überwiegen (im Anschluss an erkennenden Senat vom 8. August 2012 - L 13 AS 2355/12 ER-B - [...] Rdnr. 3). .
1. Maßgeblich für die Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU ist der gemeinschaftsrechtliche Arbeitnehmerbegriff. Der in Art. 45 AEUV verwendete Begriff des Arbeitnehmers hängt nicht von der Arbeitnehmerdefinition des jeweiligen nationalen Rechts ab, sondern
wird für alle Mitgliedstaaten einheitlich durch das Unionsrecht bestimmt und ist weit zu verstehen.
2. Arbeitnehmer ist danach jeder, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben,
die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Letzteres ist nicht
der Fall bei einer Tätigkeit mit einem zeitlichen Umfang von ca. 5 bis 10 Stunden und einem Verdienst von 121,- bis 242,-
€ monatlich, sofern nicht ausnahmsweise nichtwirtschaftliche Motive überwiegen. [Amtlich veröffentlichte Entscheidung]
Gründe
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg (SG) vom 22. Juni 2012 ist zulässig aber nicht begründet. Das SG hat im Ergebnis zu Recht den Antragsgegner verpflichtet, der Antragstellerin ab 30. Mai 2012 bis längstens 31. Oktober 2012
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II darlehensweise zu gewähren.
Hinsichtlich der Rechtsgrundlagen für die begehrte einstweilige Anordnung verweist der Senat auf den angefochtenen Beschluss
des SG (§
142 Abs.
2 S. 3
SGG). Die einstweilige Anordnung war ab dem 30. Mai 2012 bereits deshalb zu erlassen, da die Antragstellerin glaubhaft gemacht
hat, Arbeitnehmerin im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürger (Freizügigkeitsgesetz/EU)
zu sein, was den Leistungsausschluss des § 7 Absatz 1 S. 2 Nr. 2 SGB II entfallen lässt. Auf die Frage der Europarechtskonformität dieser Regelung kommt es vorliegend daher schon nicht an.
Maßgeblich für die Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU ist
der gemeinschaftsrechtliche Arbeitnehmerbegriff (vergleiche Bundessozialgericht [BSG] vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10 R = SozR 4-4200 § 7 Nr. 21 - [...] Rn. 18). Der in Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verwendete Begriff des Arbeitnehmers hängt nicht von der Arbeitnehmerdefinition des jeweiligen nationalen Rechts ab, sondern
wird für alle Mitgliedstaaten einheitlich durch das Unionsrecht bestimmt. Da die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu den Grundlagen
der Gemeinschaft gehört, sind die Vorschriften, die über den Geltungsbereich entscheiden, weit auszulegen; auch der Arbeitnehmerbegriff
des Art. 45 AEUV ist daher weit zu verstehen (vergleiche Urteil des Europäischen Gerichtshofs [EuGH] vom 7. September 2004 - C-456/02 Trojani, Slg. 2004, I-07573 - [...] Rn. 15; EuGH vom 11. September 2008 - C-228/07 Petersen, Slg. 2008, I-06989 - [...] Rn. 45). Danach ist Arbeitnehmer jeder, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt,
wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich
darstellen (EuGH Trojani a.a.O.; EuGH Petersen a.a.O.). Die Antragstellerin erhält nach den vorgelegten Abrechnungen für ihre
Tätigkeit für die Kur und Reha GmbH F. monatlich zwischen 121,- EUR (so im Januar und Februar 2012) bis hin zu 242,- EUR (November
und Dezember 2011). Sie erhält diese Vergütung als Gegenleistung für die von ihr für die Kur und Reha GmbH nach dortiger Weisung
erbrachten Leistungen, womit bereits festgestellt ist, dass nach dem gemeinschaftsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff, wie ihn
der EuGH entwickelt hat, die Grundmerkmale eines Arbeitsverhältnisses, nämlich das Abhängigkeitsverhältnis und die Zahlung
einer Vergütung vorliegen (EuGH Trojani a.a.O., [...] Rn. 22). Dagegen ist für die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Gemeinschaftsrechts
ohne Bedeutung, ob das Beschäftigungsverhältnis nach nationalem Recht ein Rechtsverhältnis sui generis ist, wie hoch die Produktivität
des Betreffenden ist, woher die Mittel für die Vergütung stammen oder dass sich die Höhe der Vergütung in Grenzen hält (EuGH
Trojani a.a.O., [...] Rn. 16). Demgemäß schließt der Umstand, dass die Antragstellerin nur ein geringes, nicht zur Deckung
ihres Lebensunterhalts ausreichendes Einkommen bezieht, die Annahme eines Arbeitsverhältnisses nach Unionsrecht nicht aus;
folglich hat das BSG entschieden, dass bereits eine wöchentliche Stundenzahl von 7,4 h zur Arbeitnehmereigenschaft führt (BSG a.a.O.); das BSG hat dabei einem Monatsverdienst von lediglich 100,- EUR keine dem entgegenstehende Bedeutung beigemessen (BSG a.a.O.). Nachdem die Antragstellerin ausweislich der vorgelegten Lohnabrechnungen in einem zeitlichen Umfang von ca. 5 bis
10 Std. wöchentlich tätig ist und dabei, wie beschrieben ein Verdienst zwischen 121,- bis 242,- EUR monatlich erzielt, liegt
hier nicht mehr eine völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit vor.
Als tatsächliche und echte Tätigkeiten im Sinne der Rechtsprechung des EuGH können indes nur solche tatsächlich erbrachten
Leistungen angesehen werden, die auf dem Beschäftigungsmarkt üblich sind (EuGH Trojani a.a.O., [...] Rn. 24). Eine Berufung
auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist nur dann statthaft, wenn die ausgeübte Tätigkeit dem Wirtschaftsleben im Rahmen des
"Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" im Sinne von Art. 3 Abs. 2 des Vertrags über die europäische Union (EUV) zuzurechnen ist (Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 45 AEUV Rn. 81 m.w.N.). Bedenken, dass es sich bei den Tätigkeiten, die die Antragstellerin im Rahmen ihres Beschäftigungsverhältnis
zu erbringen hat, nicht um solche, auf dem regulären Beschäftigungsmarkt üblichen Tätigkeiten handelt, hat der Senat keine.
Soweit der Antragsgegner vorträgt, die Antragstellerin sei ehrenamtlich tätig, womit es an einer Teilnahme am allgemeinen
Wirtschaftsleben fehle, teilt der Senat diese Auffassung nicht. Zwar ist eine Betätigung dann nicht dem Wirtschaftsleben zuzuordnen,
wenn die erbrachte Arbeitsleistung und das dafür entrichtete Entgelt für die Beteiligten des Austauschverhältnisses hinter
andere Motive völlig zurücktreten, d.h. nichtwirtschaftliche Motive überwiegen (Grabitz/Hilf/Nettesheim a.a.O., Art. 45 AEUV Rn. 91). Dies ist hier nicht der Fall. Die Antragstellerin ist nach telefonischer Auskunft ihrer Arbeitgeberin nach Weisung
Letzterer bei der Betreuung von demenzkranken Menschen tätig. Die Bezeichnung "Abrechnung Übungsleiter" rührt von der steuerrechtlichen
Privilegierung gemäß §
3 Nr. 26
Einkommensteuergesetz (
EStG) her, welche die Arbeitgeberin in Anspruch nimmt. Gemäß §
3 Nr. 26
EStG sind steuerfrei u.a. Einnahmen aus der nebenberuflichen Pflege alter, kranker oder behinderter Menschen im Dienst oder im
Auftrag einer unter § 5 Absatz 1 Nr. 9 des Körperschaftsteuergesetzes fallenden Einrichtung zur Förderung gemeinnütziger, mildtätiger und kirchlicher Zwecke. Gemäß §
14 Abs.
1 S. 3 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB IV) gelten die in §
3 Nr. 26
EStG genannten steuerfreien Einnahmen nicht als Arbeitsentgelt. Die Inanspruchnahme einer steuerrechtlichen bzw. sozialversicherungsrechtlichen
Privilegierungsvorschrift für gemeinnützig tätige Organisationen führt aber nicht ipso jure zu einer Charakterisierung des
Beschäftigungsverhältnisses der Antragstellerin als ehrenamtlicher Tätigkeit. Vielmehr setzt das Eingreifen der Vermutungsregelung
in §
3 Nr. 26
EStG lediglich voraus, dass vergleichsweise enge Grenzen bezüglich der Höhe der Vergütung und der geleisteten Arbeitszeit eingehalten
werden. Gegen die Annahme, dass die Antragstellerin vorliegend ehrenamtlich, d.h. aus rein altruistischer Gesinnung tätig
ist und lediglich eine Aufwandsentschädigung enthält, spricht bereits die Höhe der Vergütung; angesichts der überaus bescheidenen
ökonomischen Verhältnisse der Antragstellerin ist eine solche Vorstellung fernliegend. Umgekehrt liegt eine nebenberufliche
Tätigkeit, wie in §
3 Nr. 26
EStG vorgesehen, vor, wenn aus dieser zwar nicht hauptsächlich der Lebensunterhalt bestritten werden kann, jedoch - wie vorliegend
- ein Beitrag zur Deckung des Lebensunterhalts erzielt wird. Die Unschädlichkeit einer Teilzeitbeschäftigung für die Bejahung
des gemeinschaftsrechtlichen Arbeitnehmerbegriffs wiederum hat der europäische Gerichtshof indes bereits in seinem Urteil
vom 23. März 1982 bejaht (C-53/81 Levin, Slg. 1982 I-01035 - [...] Rn. 16 f.). Die Tätigkeit der Antragstellerin ist demnach dem allgemeinen Wirtschaftsleben
zuzuordnen. Die Ausschlussklausel des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II war vorliegend schon nicht einschlägig; es sind auch sonst keine Anhaltspunkte ersichtlich, die gegen eine aufstockende Leistungsgewährung
sprächen. Die Beschwerde war demnach zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des §
193 SGG. Für den Senat war im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens ausschlaggebend, dass die Antragstellerin in beiden Instanzen
erfolgreich geblieben ist.
Der Antragstellerin war Prozesskostenhilfe zu bewilligen, da der Antragsgegner die Beschwerde erhoben hat (vergleiche §
119 Abs.
1 S. 2
ZPO) und die Antragstellerin bedürftig im Sinne der Vorschriften über die Prozesskostenhilfe ist.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§
177 SGG).