Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende; Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses für ausländische Staatsangehörige
Gründe
Die nach §
173 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragsgegners ist zulässig, insbesondere statthaft gem. § 172 Abs. 3 Nr.
1 i.V.m. §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG und hat aber in der Sache keinen Erfolg. Das Sozialgericht Stuttgart (SG) hat den Antragsgegner zu Recht verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende
nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu erbringen.
Nach §
86b Abs.
2 Satz 1
SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit - wie hier - nicht ein Fall des Abs. 1 vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug
auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung
eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur
Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur
Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Vorliegend kommt nur eine Regelungsanordnung nach §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG in Betracht. Der Ablehnungsbescheid ist noch nicht bestandskräftig geworden, so dass er der Zulässigkeit einer solchen vorläufigen
Regelung nicht entgegensteht.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache
sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch)
und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 der
Zivilprozessordnung). Verfassungsrechtliche Vorgaben zwingen gegebenenfalls jedoch diesen grundsätzlichen Entscheidungsmaßstab zu revidieren.
Der einstweilige Rechtsschutz ist Ausfluss der in Art.
19 Abs.
4 des
Grundgesetzes (
GG) enthaltenen Garantie effektiven Rechtsschutzes. Aus dieser folgt das Gebot, soweit als möglich zu verhindern, dass durch
hoheitliche Maßnahmen oder Entscheidungen der Verwaltungsbehörde Tatsachen geschaffen werden, die auch dann, wenn diese sich
nach richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweisen, nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Diese Gefahr besteht auch
in der Leistungsverwaltung, wenn die Verwaltung ein Leistungsbegehren zurückweist. Auch neben Art.
19 Abs.
4 GG enthält das Verfassungsrecht Vorgaben für Maßstab und Prüfungsumfang gerichtlicher Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutz.
Die in den Grundrechten zum Ausdruck kommende Wertentscheidung muss beachtet werden. Es ist Aufgabe des Staates und damit
auch der Gerichte, sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen zu stellen. Diese beiden verfassungsrechtlichen
Zielsetzungen des einstweiligen Rechtsschutzes haben Auswirkungen auf den Entscheidungsmaßstab der Fachgerichte. Dieser verschärft
sich, wenn nicht nur die prozessrechtliche Dimension des Art.
19 Abs.
4 GG betroffen ist, sondern dem materiellen Anspruch grundrechtliches Gewicht zukommt. Entscheidend ist, welche Rechtsverletzungen
bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes drohen. Drohen schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen
grundrechtlich geschützter Güter kann die gerichtliche Entscheidung nicht auf die nur summarische Prüfung der Erfolgsaussichten
in der Hauptsache gestützt werden. Dies gilt insbesondere in Fällen, in denen das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes
vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung
droht. Es genügt dabei bereits eine nur mögliche oder zeitweilig andauernde Verletzung. Der Entscheidung über die Gewährung
einstweiligen Rechtsschutzes ist dann, insbesondere wenn eine abschließende Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache
nicht möglich ist, eine umfassende Güter- und Folgenabwägung zugrunde zu legen (Bundesverfassungsgericht <BVerfG> NZS 2003,
253 und NVwZ 2005, 927). Allerdings sind dabei die Erfolgsaussichten in der Hauptsache nicht völlig unberücksichtigt zu lassen. Denn eine Grundrechtsbeeinträchtigung
kann von vornherein nicht vorliegen, wenn das Recht oder der Anspruch überhaupt nicht in Betracht kommt. Eine bestimmte Mindestwahrscheinlichkeit
(z.B. überwiegend) ist aber nicht zu fordern (Senatsbeschluss vom 25. August 2010 - L 7 AS 3769/10 ER-B - <[...]>; Krodel NZS 2006, 637; Hk-
SGG, 4. Aufl., §
86b Rdnr. 4).
Nach dem derzeitigen Sachstand kann ein Anspruch des Antragstellers im gesamten Zeitraum vom 1. September 2012 bis längstens
28. Februar 2013 auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach § 19 SGB II nicht ausgeschlossen werden. Der am 12. April 1976 geborene Antragstellers ist unstreitig hilfebedürftig und erfüllt damit
die Anspruchsvoraussetzungen des
§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 3 SGB II. Dem i.n Staatsangehörigen wurde am 22. November 2010 eine unbefristet gültige Bescheinigung nach § 5 Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) erteilt. Er ist mithin erwerbsfähig i.S.d. § 8 Abs. 2 SGB II. Die Erwerbsfähigkeit i.S.d. § 8 Abs. 1 SGB II ist auch vom Antragsgegner trotz bestehender Arbeitsunfähigkeit nicht in Frage gestellt worden.
Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II sind von den Leistungen des SGB II jedoch u.a. ausgeschlossen (1.) Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbständige noch
aufgrund des § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts sowie (2.) Ausländer,
deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen.
Dass der Leistungsanspruch des Antragstellers, der sich bereits länger als drei Monate in der Bundesrepublik Deutschland aufhält,
tatsächlich nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen ist, wie der Antragsgegner meint, kann nicht sicher festgestellt werden. Es spricht viel dafür, dass diese
bundesgesetzliche Regelung mit dem Recht der Europäischen Union in seiner Ausprägung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs
der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) nicht vereinbar und damit auf Unionsbürger zumindest nicht einschränkungslos anzuwenden
ist. Mit der Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II wollte der Gesetzgeber von der Möglichkeit nach Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen,
sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, vom 29. April 2004 (RL 2004/38/EG) Gebrauch machen (BT-Drucks. 16/5065 S. 234). Dieser sieht ausdrücklich vor, dass ein Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist,
anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen
während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b RL 2004/38/EG (Arbeitsuche) einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren. Der EuGH hat in seiner Entscheidung vom 4. Juni 2009 (Slg. 2009,
I-4585 <Vatsouras und Koupatantze>) die Vereinbarkeit dieser Richtlinienregelung mit dem speziellen Gleichbehandlungsgrundsatz
für Arbeitsuchende gem. Art. 39 Abs. 2 des Vertrages über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 in der konsolidierten
Fassung vom 24. Dezember 2002 (EGV) festgestellt. Diese Vereinbarkeit beruht auf einer Auslegung des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG im Lichte der bisherigen Rechtsprechung des EuGH, dass es angesichts der Einführung der Unionsbürgerschaft (Art. 18 EGV) und der Ausprägung, die das Recht der Gleichbehandlung in der Rechtsprechung des EuGH erfahren hat, nicht mehr möglich ist,
vom Anwendungsbereich des Art. 39 Abs. 2 EGV eine finanzielle Leistung auszunehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates erleichtern soll (EuGH a.a.O.
sowie Slg. 2004, I-2703 <Collins> und Slg. 2005, I-8275 <Ioannidis>). Allerdings hat es auch der EuGH für legitim angesehen,
dass ein Mitgliedstaat eine solche Beihilfe erst gewährt, nachdem das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung des Arbeitsuchenden
mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates festgestellt wurde (EuGH a.a.O.). Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG wäre daher nicht mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 39 Abs. 2 EGV vereinbar, wenn man hierin eine Ermächtigungsgrundlage für eine nationale Regelung sehen wollte, arbeitsuchende Unionsbürger
für die gesamte Dauer der Arbeitsuche von Leistungen auszuschließen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen. Des
Weiteren liefert die Richtlinienbestimmung kein starres Kriterium für die Feststellung der vom EuGH in der Collins-Entscheidung
verlangten Verbindung des Unionsbürgers zum Arbeitsmarkt des Aufnahmestaates (vgl. Schlussanträge des Generalanwaltes (Slg.
2009, I-4585 <Vatsouras und Koupatantze>). Ein Verstoß einer nationalen Ausschlussregelung gegen Art. 39 Abs. 2 EGV liegt somit nicht vor, wenn es sich bei der versagten Leistung um eine reine Sozialhilfeleistung handelt oder die Regelung
eine zulässige Festlegung der Verbindung des arbeitsuchenden Unionsbürgers zum Arbeitsmarkt des Mitgliedstaates trifft.
Nach Auffassung des Senats stellen die Leistungen des SGB II - auch das den Lebensunterhalt sichernde Arbeitslosengeld II (Alg II) - keine reine Sozialhilfeleistung in diesem Sinne dar
(vgl. Senatsbeschluss vom 25. August 2012, a.a.O.). Zwar umfasst das Alg II eine pauschalierte, dem Regelsatz der Sozialhilfe
nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) vergleichbare Leistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes sowie die Übernahme der angemessenen Kosten der Unterkunft und
Heizung. Ähnlich wie in der Sozialhilfe nach dem SGB XII sind für verschiedene Bedarfslagen Leistungen für Mehrbedarfe vorgesehen. Ohne Zweifel stellt das Alg II eine steuerfinanzierte
staatliche Fürsorgeleistung dar, die der Sicherung des Lebensunterhalts i.S.d. des soziokulturellen Existenzminimums dient
(die Eigenschaft als Sozialhilfe aus diesem Grund bejahend Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 16. Mai 2012
- L 3 AS 1477/11 -; Beschlüsse vom 22. Februar 2010 - L 13 AS 356/10 ER-B - und vom 15. April 2010 - L 13 AS 1124/10 ER-B - <alle [...]> m.w.N.).
Zwar ist es allein Sache der nationalen Behörden und Gerichte, den Zweck und die Leistungsvoraussetzungen der fraglichen,
nach nationalem Recht gewährten Leistung festzustellen. Die Bewertung, ob die Leistung mit dem festgestellten Zweck und den
Tatbestandsmerkmalen Sozialhilfe i.S.d. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG darstellt, mithin die Auslegung dieses Begriffes der Sozialhilfe, hat jedoch unter Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen
Vorgaben zu erfolgen. Dabei ist der Zweck der Leistung nach Maßgabe ihrer Ergebnisse und nicht anhand ihrer formalen Struktur
zu untersuchen. Finanzielle Leistungen, die unabhängig von ihrer Einstufung nach nationalem Recht den Zugang zum Arbeitsmarkt
erleichtern sollen, können nicht als "Sozialhilfeleistungen" i.S.d. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG angesehen werden (EuGH a.a.O. <Vatsouras und Koupatantze>). Der Zweck der Sicherung des Lebensunterhalts und des Existenzminimums
erlauben daher noch keine Zuordnung zur Sozialhilfe in diesem Sinne, wenn die Leistung zumindest auch den Zugang zum Arbeitsmarkt
erleichtert (vgl. a. Schlussanträge des Generalanwalts, a.a.O., <Vatsouras und Koupatantze>: Sozialhilfeleistungen, die die
Eingliederung in den Arbeitsmarkt fördern).
Die Eingliederung in den Arbeitsmarkt steht im Vordergrund der Leistungen nach dem SGB II (wie hier Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, § 7 Rdnr. 116 ff. m.w.N.; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl., § 1 Rdnr. 9 ff.). Das ganze neue System der Grundsicherung in SGB II und XII durch die sog. Hartz IV-Gesetze beruht gerade auf der Unterscheidung von Hilfebedürftigen, die erwerbsfähig sind
und noch einen Zugang zum Arbeitsmarkt haben und den nicht erwerbsfähigen Hilfebedürftigen. Ohne die Differenzierung nach
der Eingliederungsmöglichkeit in den Arbeitsmarkt wäre eine Zuordnung der Hilfebedürftigen unter zwei verschiedene Grundsicherungssysteme
nicht notwendig gewesen. Dafür spricht auch die Entstehungsgeschichte des SGB II, in dem die existenzsichernde Sozialhilfe mit der das Risiko der Arbeitslosigkeit sichernden Arbeitslosenhilfe zusammengeführt
und von der reinen Sozialhilfe im SGB XII abgegrenzt wurde. Eine solche Grundsicherungsleistung, die eine steuerfinanzierte Lebensunterhaltssicherung und eine arbeitsmarktorientierte
Arbeitslosenhilfe zusammenfasste, hatte der EuGH bereits am Recht der Gleichbehandlung der Arbeitsuchenden nach Art. 39 Abs. 2 EGV gemessen (EuGH, a.a.O., <Collins>). Des Weiteren sieht der EuGH (a.a.O., <Vatsouras und Koupatantze>) die Leistungsvoraussetzung
der Erwerbsfähigkeit als Hinweis darauf an, dass die Leistung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern soll. Die allgemeine
Zielumschreibung des § 1 Abs. 2 Satz 2 SGB II macht deutlich, dass die Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht nur den Lebensunterhalt sichern soll, sondern die erwerbsfähigen
Hilfebedürftigen bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit unterstützen soll. Diese den besonderen Regelungen
vorangestellte Zielbestimmung gilt systematisch für alle Leistungen, nicht nur die speziellen Eingliederungsleistungen der
§§ 14 bis 18a SGB II. Deutlicher wird dies noch durch den "Grundsatz des Forderns" in § 2 SGB II. So muss der erwerbsfähige Hilfebedürftige aktiv an allen Maßnahmen zu seiner Eingliederung in Arbeit mitwirken (§ 2 Abs. 1 Satz 2 SGB II). Auch § 3 Abs. 1 Satz 1 SGB II stellt ausdrücklich den Bezug zwischen der Leistungsgewährung und der Erforderlichkeit für die Eingliederung her. Schließlich
verknüpfen die Sanktionsnormen der §§ 31 ff. SGB II den Eingliederungszweck mit der Lebensunterhalt sicherenden Alg II-Leistung. Dieses kann bei Verstößen gegen die eigene Eingliederungsobliegenheit
des Hilfebedürftigen abgesenkt werden oder wegfallen. Auch die dem Lebensunterhalt dienende Alg II-Leistung wird mithin nicht
losgelöst vom Ziel der Eingliederung in den Arbeitsmarkt erbracht. Das Bundessozialgericht (SozR 4-4200 § 7 Nr. 7 zur stationären Einrichtung) hat gerade in einer erwerbszentrierten Orientierung des SGB II das maßgebliche Abgrenzungskriterium zur Sozialhilfe nach dem SGB XII gesehen.
Da das Alg II keine reine Sozialhilfeleistung i.S.d. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG darstellt, ist die Zulässigkeit der Ausschlussnorm des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II an den oben bereits dargestellten gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben für die Gleichbehandlung im Zugang zu finanziellen Leistungen
für Arbeitsuchende zu messen, wie sie in der Rechtsprechung des EuGH entwickelt wurden. Danach ist es auch gemeinschaftsrechtlich
zulässig, für den Zugang zu finanziellen Leistungen für Arbeitsuchende danach zu differenzieren, ob eine ausreichende Verbindung
des arbeitsuchenden Unionsbürgers zum Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedsstaates besteht, die z.B. an ein Wohnorterfordernis
anknüpft (EuGH, a.a.O., <Collins>). Dieses Kriterium der Verbindung zum Arbeitsmarkt dient dem Ausgleich der Ansprüche aus
dem Diskriminierungsverbot des Art. 39 Abs. 2 EGV mit den Gefahren des sog. "Sozialtourismus" (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts, a.a.O., <Vatsouras und Koupatantze>).
Die Ausgestaltung erfolgt durch nationales Recht, das sich aber in den Grenzen der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben halten
und insbesondere den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren muss. Unvereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht ist danach ein unbefristeter
Leistungsausschluss für die gesamte Zeit der Arbeitsuche des Unionsbürgers (vgl. a. Schlussanträge des Generalanwalts, a.a.O.,
<Vatsouras und Koupatantze>) wie in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vorgesehen. Solange eine lang andauernde Arbeitsunfähigkeit die Erwerbsfähigkeit i.S.d. § 8 Abs. 1 SGB II nicht in Frage stellt, besteht auch noch der nach dem SGB II vorausgesetzte, aber auch ausreichende Bezug zum Arbeitsmarkt, der die Leistungsgewährung gerade nach dem Recht der Grundsicherung
für Arbeitsuchende rechtfertigt. Es ist somit nicht ausgeschlossen, dass die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf den Antragsteller nicht angewendet werden darf.
Darüber hinaus ist nicht ausgeschlossen, dass dem Antragsteller ein weiteres Aufenthaltsrecht neben dem zur Arbeitsuche zusteht,
so dass die Ausschlussnorm des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II schon nach ihrem Wortlaut nicht eingreift. Ein solches Aufenthaltsrecht könnte sich aus § 3 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ergeben. Danach sind freizügigkeitsberechtigt Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 genannten Unionsbürger. Die Mutter des Antragstellers, ebenfalls i. Staatsangehörige, ist Arbeitnehmerin i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Familienangehörige sind (1.) der Ehegatte und die Verwandten in absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 genannten
Personen oder ihrer Ehegatten, die noch nicht 21 Jahre alt sind, (2.) die Verwandten in aufsteigender und in absteigender
Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 genannten Personen oder ihrer Ehegatten, denen diese Personen oder ihre Ehegatten
Unterhalt gewähren (§ 3 Abs. 1 FreizügG/EU).
Da der Antragsteller das 21. Lebensjahr bereits vollendet hat, ist maßgeblich, ob seine Mutter ihm Unterhalt in diesem Sinne
gewährt. Überwiegender oder gar voller Unterhalt wird weder nach § 3 Abs. 2 FreizügG/EU noch nach den zugrunde liegenden Gemeinschaftsregelungen verlangt (Hailbronner, Ausländerrecht, D 1 § 3 Rdnr. 23). Nach einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zu einem entsprechenden Tatbestandsmerkmal im Recht
des Bundesausbildungsförderungsgesetzes genügt es, dass der Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer seinem Familienangehörigen Leistungen zukommen lässt, die vom Ansatz
her als Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts angesehen werden können. Dazu gehört eine fortgesetzte und regelmäßige
Unterstützung mit einem Umfang, der es ermöglicht, zumindest einen Teil des Lebensunterhalts regelmäßig zu decken (BVerwGE
94, 239). Eine weitergehende Konkretisierung hinsichtlich der Art der Leistungen und insbesondere der Notwendigkeit eines bestimmten
Mindestumfanges ist in der Rechtsprechung nicht entwickelt worden. Andererseits hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden,
dass die Eigenschaft des "Familienangehörigen, dem Unterhalt gewährt wird", ungeachtet des Antrags auf und der Gewährung des
Existenzminimums durch staatliche Leistungen - wie z.B. der Sozialhilfe - an den Familienangehörigen zu beurteilen ist. Der
Bezug solcher Leistungen dürfe nicht als Indiz dafür herangezogen werden, dass Unterhalt nicht gewährt werde. Auch ein Anspruch
auf Unterhalt wird nicht vorausgesetzt. Maßgeblich sei die tatsächliche Situation. Es handle sich um einen Familienangehörigen,
der vom Arbeitnehmer unterstützt werde, ohne dass es erforderlich wäre, die Gründe für die Inanspruchnahme dieser Unterstützung
zu ermitteln und sich zu fragen, ob der Betroffene in der Lage sei, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten (EuGH Slg. 1987,
2811 <Lebon>). Allein der Verweis des Antragsgegners, die Mutter gewähre keinen "hinreichenden" Unterhalt, schließt mithin das
Aufenthaltsrecht nicht aus.
Die Eigenschaft als Familienangehöriger, dem Unterhalt gewährt wird, kann daher nicht deshalb verneint werden, weil der Antragsteller
die Gewährung existenzsichernder Leistungen beantragt hat oder sie ihm zu gewähren wären. Da es auf einen Unterhaltsanspruch
nicht ankommt, kann auch eine ggf. fehlende finanzielle Leistungsfähigkeit der Mutter im Sinne des Unterhaltsrechts nicht
entgegengehalten werden. Fraglich kann daher vorliegend allein sein, inwieweit diese dem Antragsteller Unterhalt - rein tatsächlich
- gewährt (vgl. zum Ganzen Senatsbeschluss vom 18. Januar 2011 - L 7 AS 5702/10 ER-B -). Der Antragsteller hat vorgetragen, seine Mutter gewähre ihm Unterhalt durch Aufnahme in ihre Wohnung und Versorgung
in ihrem Haushalt (Einkaufen, Kochen, Wäsche). Die Gewährung von Naturalunterhalt ist nach dem Wortlaut der einschlägigen
Regelungen nicht ausgeschlossen. Soweit der Antragsgegner hiergegen einwendet, der Antragsteller habe in seinen Anträgen verneint,
Unterstützungsleistungen zu erhalten, ist dies zumindest den - weitgehend unvollständig vorgelegten - Verwaltungsakten nicht
zu entnehmen. Der Senat verkennt nicht, dass als Folge einer solchen weiten Auslegung der Arbeitnehmer in der Lage ist, durch
geringe Leistungen an den Familienangehörigen diesem ein ansonsten nicht bestehendes Aufenthaltsrecht sowie einen Zugang zum
Arbeitsmarkt und infolgedessen einen Anspruch auf Grundsicherung oder Sozialhilfe zu verschaffen. Dies dürfte gerade der Konzeption
der RL 2004/38/EG widersprechen, deren Umsetzung mit dem FreizügG/EU, also auch dessen § 3 Abs. 2, erfolgen sollte. Denn danach sollte der begünstigte Personenkreis nicht der Sozialhilfe des aufnehmenden Mitgliedstaates
zur Last fallen (Erwägungsgrund Nr. 10 der RL 2004/38/EG). Das könnte dagegen sprechen, die Inanspruchnahme von sozialen Leistungen als völlig unbeachtlich für das Aufenthaltsrecht
des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU anzusehen (vgl. Hailbronner, a.a.O., D 1 § 3 Rdnr. 24). Der Senat sieht sich jedoch durch die sehr weite Rechtsprechung des EuGH (a.a.O.) daran gehindert, eine solche
dem Antragsteller günstige Auslegung als von vornherein vollständig ausgeschlossen anzusehen. Damit kann nicht mit Sicherheit
festgestellt werden, dass die Mutter dem Antragsteller keinen Unterhalt gewährt. Die Klärung der tatsächlichen Unterhaltsgewährung
sowie deren Umfang und Regelmäßigkeit ist ebenso dem Hauptsacheverfahren vorbehalten wie die verbindliche Klärung der Frage
nach einem Mindestumfang des Unterhalts und der Maßgeblichkeit der Herkunft der finanziellen Mittel, ggf. unter Vorlage der
Frage an den EuGH. Das Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger ist daher nicht ausgeschlossen.
Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes besteht eine Verpflichtung zur Vorlage im Wege der Vorabentscheidung durch den
EuGH gem. Art. 234 EGV nicht; dem stünde bereits die Eilbedürftigkeit entgegen. Des Weiteren wird eine endgültige Entscheidung gerade nicht getroffen,
sondern nur eine solche über einen vorläufigen Zustand. Dabei ist es möglich, aufgrund einer Interessen- und Folgenabwägung
zu entscheiden, so dass die fragliche Norm nicht allein entscheidungserheblich wird. Dem Gewicht der Interessen und Rechte
des Antragstellers ist ausreichend Rechnung zu tragen. Zu beachten ist, dass die begehrten Leistungen der Grundsicherung der
Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen, was bereits nach dem Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland
Pflicht des Staates ist (Art.
1 Abs.
1, Art.
20 Abs.
1 GG; BVerfG, NVwZ 2005, 927). Auf Seiten des Grundsicherungsträgers ist das Interesse zu beachten, dass nun gewährte Leistungen angesichts der wirtschaftlichen
Verhältnisse des Antragstellers voraussichtlich nicht erstattet werden können, wenn sich im Hauptsacheverfahren herausstellen
sollte, dass ein Anspruch tatsächlich nicht bestanden hat. Dem Antragsteller seinerseits würden für einen nicht absehbaren
Zeitraum die Leistungen vorenthalten, die er zur Aufrechterhaltung seines Existenzminimums und damit für ein der Menschenwürde
entsprechendes Leben benötigt. Diese damit verbundenen Einschränkungen während des Zeitraumes ohne Leistungen sind auch im
Falle einer Nachzahlung bei Erfolg in der Hauptsache nicht mehr zu beseitigen. Der Antragsteller wäre darauf verwiesen, zur
Sicherung seines Lebensunterhaltes in den Mitgliedstaat "zurückzukehren", dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, was aus o.g.
Gründen gerade eine Verletzung seiner Grundrechte aus europäischem Gemeinschaftsrecht darstellen könnte. In Abwägung dieser
Interessen erscheint es dem Senat angemessen, dass dem Antragsteller die Leistungen zur Grundsicherung gewährt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
Dem Antragsteller war auch für das Beschwerdeverfahren gemäß §
73a Abs.
1 SGG i.V.m. §§
114,
115,
119 Abs.
1 Satz 2 , 121 Abs.
2 der
Zivilprozessordnung Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Angesichts der besonderen Eilbedürftigkeit der Entscheidung und im Hinblick auf die im
sozialgerichtlichen Verfahren bereits erfolgte Bewilligung und der im Übrigen unstreitigen Hilfebedürftigkeit erachtet der
Senat die wirtschaftlichen und persönlichen Voraussetzungen auch ohne erneute Vorlage eines entsprechenden Formulars im Beschwerdeverfahren
für ausreichend glaubhaft gemacht. Die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes war notwendig.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§
177 SGG).