Anspruch auf Arbeitslosengeld II; rückwirkende Teilaufhebung der Bewilligung; Erforderlichkeit einer Anhörung
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld II (Alg II) und die Verpflichtung zur Erstattung
gewährter Leistungen.
Der am 1987 geborene Kläger lebte zunächst im gemeinsamen Haushalt mit seiner am 1953 geborenen Mutter (im Folgenden DH) und
deren weiteren am 1989 und 1993 geborenen Kindern (im Folgenden D und S) in F. DH bezog aus einer Tätigkeit als freie Mitarbeiterin
für die M. F. ein geringes Einkommen in wechselnder Höhe, das jeweils im Folgemonat zur Auszahlung kam; Steuern oder Sozialversicherungsbeiträge
wurden hiervon nicht abgeführt.
Mit zwei an DH adressierten Bescheiden vom 4. Juli 2007 bewilligte der Beklagte dem Kläger und den übrigen Familienmitgliedern
jeweils Alg II für die Zeiträume vom 1. Juli bis 31. Dezember 2007 sowie vom 1. Januar bis 31. März 2008. Dabei wurde dem
Kläger eine monatliche Leistung in Höhe von € 307,83 (€ 125,07 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und € 182,76
Kosten der Unterkunft und Heizung) gewährt. Neben den nach Kopfteilen berechneten Kosten der Unterkunft und Heizung wurde
beim Kläger als Bedarf die Regelleistung i.H.v. € 278.- angesetzt. Gleiches gilt für D und S. Bei DH wurde neben der Regelleistung
i.H.v. € 347.- zusätzlich ein Mehrbedarf wegen Allererziehung i.H.v. € 42.- monatlich berücksichtigt. Beim Kläger sowie D
und S wurde das jeweilige Kindergeld i.H.v. € 154.- monatlich als Einkommen angerechnet, beim Kläger und D nach Abzug einer
Versicherungspauschale jeweils i.H.v. € 30.- monatlich. Des Weiteren wurde ein Einkommen der DH aus Erwerbstätigkeit i.H.v.
€ 133,34 monatlich (€ 266,67 abzüglich Freibeträge in Gesamthöhe von € 133,33) berücksichtigt und auf die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft
aufgeteilt; auf den Kläger entfielen danach € 28,93 monatlich. Die Bescheide wurden nicht angefochten.
Am 15. November 2007 teilte DH dem Beklagten mit, dass der Kläger eine Ausbildung in Villingen-Schwenningen aufgenommen habe
und seit dem 1. November 2007 dort auch beim Einwohnermeldeamt gemeldet sei; die entsprechende Meldebestätigung wurde vorgelegt.
Er werde während der Ausbildung Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) erhalten. In der Folge übersandte sie des Weiteren eine Bescheinigung der Musikschule über ihr von dort bezogenes Einkommen
im Jahr 2007, wonach sie u.a. für Juli 2007 € 461,11 sowie für September € 369,44 erhalten habe.
Während der Beklagte mit Bescheiden vom 5. Mai 2008 für die Monate Juli und September 2007 die Leistungsbewilligungen zugunsten
u.a. auch des Klägers abänderte, hob er ohne vorherige Anhörung mit an den Kläger gerichteten Bescheid vom 7. Mai 2008 "die
Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom 01.08. bis 31.10.2007 teilweise und ab 01.11.2007 für Sie in folgender Höhe ganz" auf; die teilweise Aufhebung erfolgte
für August 2007 i.H.v. € 33,75 und für Oktober 2007 i.H.v. € 17,84. Für den Zeitraum vom 1. November 2007 bis zum 31. März
2008 wurden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalt in Höhe der gewährten € 125,07 monatlich aufgehoben, während sich
die Aufhebung der Leistungen für Unterkunft und Heizung auf monatlich € 108,38 (November und Dezember 2007), € 19,14 (Januar
2008) sowie jeweils € 29,19 (Februar und März 2008) beschränkte. Danach sei ein Gesamtbetrag i.H.v. € 971,22 zu erstatten.
Zur Begründung wurde ausgeführt, der Kläger sei in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Trägers gezogen, ohne dies dem
Beklagten mitzuteilen, dessen Zuständigkeit nun nicht mehr gegeben sei. Des Weiteren habe er Einkommen oder Vermögen erzielt,
das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt habe. Die Aufhebungsentscheidung stütze sich auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X). Der teilweisen Aufhebung lag tatsächlich jedoch die Anrechnung des Einkommens der DH zugrunde. Im August 2007 berücksichtigte
der Beklagte Einkommen i.H.v. € 288,89 (tatsächlich zugeflossen € 461,11, abzüglich Freibeträge i.H.v. € 172,22) und im Oktober
2007 i.H.v. € 215,55 (tatsächlicher Zufluss € 369,44, abzüglich Freibeträge i.H.v. € 153,89). Bei der Verteilung dieses Einkommens
auf die einzelnen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft hat der Beklagte die Anteile des Hilfebedarfs jedes Mitglieds am ungedeckten
Gesamthilfebedarf der Bedarfsgemeinschaft zugrunde gelegt, nachdem er zuvor beim Kläger, D und S deren jeweiliges Einkommen
bei der Ermittlung des individuellen Hilfebedarfs abgezogen hatte (sog. horizontale-vertikale Berechnung). Auf den Kläger
entfiel dabei neben seinem um die Versicherungspauschale bereinigten Kindergeld ein zusätzliches Einkommen im August 2007
i.H.v. € 62,68 sowie im Oktober 2007 i.H.v. € 46,77. Wegen der weiteren Einzelheiten der Berechnung wird auf Bl. 486/491 der
Verwaltungsakte Bezug genommen. Ein dies erläuternder Berechnungsbogen wurde dem Bescheid nicht beigefügt.
Zur Begründung des gegen den Bescheid vom 7. Mai 2008 am 9. Juni 2008 eingelegten Widerspruches trug der Kläger vor, eine
geänderte Zuständigkeit des Leistungsträgers entfalte zunächst keinen Einfluss auf den materiell-rechtlichen Anspruch. Dies
gelte insbesondere für die Leistungen nach § 20 SGB II, die Bundesleistungen seien. In Bezug auf die Kosten der Unterkunft könne es zwar zu einer Änderung der Anspruchshöhe kommen;
allein aufgrund des Umzuges werde der Bewilligungsbescheid jedoch nicht rechtswidrig.
Wiederum ohne vorherige Anhörung wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23. Juni 2009 als unbegründet
zurück. Den Bewilligungsbescheiden vom 4. Juli 2007 für die Zeiträume vom 1. Juli bis 31. Dezember 2007 bzw. 1. Januar bis
"31.01.2008" habe u.a. ein Erwerbseinkommen der DH i.H.v. € 266,67 monatlich zugrunde gelegen. Tatsächlich sei dieser aber
im August 2007 ein Einkommen i.H.v. € 461,11 sowie im Oktober 2007 i.H.v. € 369,44 zugeflossen. Bei Anwendung des § 9 Abs. 2 SGB II mindere sich der "Regelleistungsanspruch" des Klägers von ursprünglich € 125,07 im August 2007 auf € 91,23 sowie im Oktober
2007 auf € 107,23. Ab dem 1. November 2007 sei die Leistungsbewilligung vollständig aufzuheben gewesen, da der Kläger eine
dem Grunde nach nach dem BAföG förderungsfähige Ausbildung aufgenommen habe. Er sei daher nach § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen. Diese Aufnahme der Ausbildung sei vom Kläger nicht rechtzeitig mitgeteilt worden, obwohl sich aus dem Schreiben
der DH ergebe, dass dieser bzw. dem Kläger selbst der Wegfall des Leistungsanspruches bekannt gewesen sei. Die Aufhebung sei
daher gem. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X i.V.m. §§ 40 SGB II, 330 Abs.
3 Satz 1 des
Dritten Buches Sozialgesetzbuch (
SGB III) gerechtfertigt. Auf das Vorbringen im Widerspruch, beim Anspruch auf die Regelleistung handle es sich um Bundesleistungen,
komme es daher nicht mehr an. Die Erstattungsverpflichtung ergebe sich aus § 50 SGB X.
Hiergegen hat der Kläger am 24. Juli 2009 Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben und zur Begründung ausgeführt, der Aufhebungsbescheid sei bereits wegen fehlender Bestimmtheit rechtswidrig, da
der aufgehobene Bewilligungsbescheid nicht mit Datum bezeichnet werde. Eine Nachholung im Widerspruchsbescheid sei jedenfalls
nicht innerhalb der Jahresfrist nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X erfolgt. Des Weiteren führe ein bloßer Umzug, auch bei dann eintretendem Wechsel des zuständigen Trägers, nicht zum Wegfall
des Leistungsanspruches. Hinsichtlich der Kosten der Unterkunft und Heizung wären die bisherigen Bedarfsanteile des Klägers
den übrigen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft zugewachsen; eine entsprechende Nachbewilligung in diesem Verhältnis habe
der Beklagte aber bislang nicht vorgenommen. Die Regelung des § 40 Abs. 2 SGB II sei unbeachtet geblieben. Die Leistungen seien an die DH gezahlt worden, so dass allenfalls diese, nicht aber der Kläger
zur Erstattung verpflichtet sei. Zumindest habe seit dem Auszug keine Bedarfsgemeinschaft und damit keine Empfangszuständigkeit
der DH für Leistungen des Klägers mehr bestanden. Der Beklagte verhalte sich widersprüchlich, wenn er ihm vorwerfe, den Umzug
nicht mitgeteilt zu haben, andererseits aber wegen der Ausbildung ohnehin von einem Leistungsausschluss ausgehe. Der Beklagte
war dem entgegentreten und hat u.a. die Auffassung vertreten, wegen der nicht rechtzeitigen Mitteilung des Umzuges sei eine
rückwirkende Aufhebung gerechtfertigt. Der vom Kläger angeführte Erstattungsanspruch gegen den nunmehr örtlich zuständigen
Träger nach §§ 102 ff SGB X scheitere bereits daran, dass der Kläger aufgrund der Ausbildung keinen Leistungsanspruch gegen einen anderen Grundsicherungsträger
habe.
Mit Gerichtsbescheid vom 24. August 2011 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid verwiesen. Darüber hinaus seien die
angefochtenen Bescheide auch formell rechtmäßig, insbesondere hinreichend bestimmt. Denn für den Kläger sei ohne Weiteres
erkennbar gewesen, dass und in welchem Umfang die frühere Leistungsbewilligung aufgehoben und in welcher Höhe Erstattung verlangt
werde. Das Fehlen einer vorherigen formellen Anhörung sei unbeachtlich, da der Kläger im Widerspruchsverfahren zu den wesentlichen
Umständen habe Stellung nehmen können und der Beklagte auf dieses Vorbringen auch eingegangen sei. Wegen der weiteren Begründung
wird auf die Darlegungen in der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.
Hiergegen hat der Kläger am 21. September 2011 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) eingelegt und zu deren Begründung über
das bisherige Vorbringen hinaus ausgeführt, die angefochtenen Bescheide seien bereits formell rechtswidrig. Hinsichtlich des
Leistungszeitraums August bis Oktober 2007 könne diesen nicht entnommen werden, ob es sich beim berücksichtigten Einkommen
um Brutto- oder Nettobeträge handle, inwieweit Freibeträge berücksichtigt und in Höhe welcher Bedarfsanteile die Zuflüsse
bei ihm tatsächlich angerechnet worden seien. Die Entscheidung sei daher für ihn nicht rechnerisch überprüfbar gewesen. Des
Weiteren fehle es an einer ausreichenden Anhörung. Entgegen der Ansicht des SG sei dies trotz des durchgeführten Widerspruchsverfahrens nicht unbeachtlich, da die Ausgangsentscheidung auf gänzlich andere
Umstände gestützt werde als die Widerspruchsentscheidung. Eine Nachholung nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens sei nach
der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) trotz der gesetzlichen Neufassung des § 41 Abs. 2 SGB X nicht mehr möglich.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 24. August 2011 sowie den Bescheid des Beklagten vom 7. Mai 2008 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juni 2009 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend. Ergänzend hat er auf gerichtlichen Hinweis, dass es fraglich erscheine,
ob eine "heilende" Nachholung der Anhörung erfolgt sei, ausgeführt, Sinn und Zweck einer solchen sei es, den Bürger vor Überraschungsentscheidungen
zu schützen und sicherzustellen, dass die Behörde alle entscheidungserheblichen Informationen erhält. Dem sei vorliegend Genüge
getan. Die Ausführungen im Widerspruchsbescheid zeigten, dass er sich mit dem Vorbringen des Klägers ausführlich auseinander
gesetzt und danach über alle entscheidungserheblichen Umstände Kenntnis gehabt habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten
des Beklagten, der Verfahrensakten des SG und des Senats sowie auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die gem. §
151 Abs.
1 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, insbesondere statthaft (§
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG), und hat in der Sache überwiegend Erfolg (s.u. II). Hingegen hat das SG die Klage gegen die teilweise Aufhebung der Leistungsbewilligung für August und Oktober 2011 und die darauf aufbauende Erstattungspflicht
zu Recht abgewiesen (I).
I. Der angefochtene Bescheid ist hinsichtlich der teilweisen Aufhebung der Leistungsbewilligung für August und Oktober 2011
entgegen der Auffassung des Klägers nicht bereits wegen fehlender Bestimmtheit i.S.d. § 33 Abs. 1 SGB X rechtswidrig. Entscheidend für die inhaltlich hinreichende Bestimmtheit in diesem Sinne ist, dass für einen verständigen,
objektiven Erklärungsempfänger der Wille der Behörde unzweideutig erkennbar wird und eine unterschiedliche subjektive Bewertung
nicht möglich ist (BSG SozR 3-4100 § 242q Nr. 1). Dem Verfügungssatz des angefochtenen Ausgangsbescheides ist ohne weiteres zu entnehmen, dass und
in welcher Höhe die Bewilligungsentscheidung, die der Gewährung von Alg II für die Monate August und Oktober 2007 zugrunde
lag, aufgehoben wird. Diese Regelung ist aus sich heraus für jeden verständigen Empfänger verständlich, ohne dass es der Benennung
des Bewilligungsbescheides mit Datum bedürfte. Inwieweit hier Unklarheiten bestehen könnten oder unterschiedliche subjektive
Bewertungen möglich wären, erschließt sich dem Senat nicht, zumal vorliegend für den fraglichen Zeitraum lediglich eine Bewilligungsentscheidung
vorlag. Anderweitige Deutungsmöglichkeiten werden auch seitens des Klägers nicht konkret benannt.
Obwohl den angefochtenen Bescheiden die einzelnen Berechnungsschritte nicht zu entnehmen sind, insbesondere ein Berechnungsbogen
nicht beilag, erachtet der Senat einen Verstoß gegen die Begründungspflicht nach § 35 Abs. 1 SGB X für nicht gegeben. Nach dessen Satz 2 sind ohnehin nur die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitzuteilen,
die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben. Zumindest dem Widerspruchsbescheid ist zu entnehmen, dass maßgeblich
das Einkommen der DH, dessen Höhe und die Regelung des § 9 SGB II über die anteilige Einkommensverteilung innerhalb der Bedarfsgemeinschaft war. Vorliegend konnte der Kläger bereits durch
den Bewilligungsbescheid mit der Art der Einkommensberechnung und -verteilung vertraut sein. Da schon der Ausgangsbescheid
für den Leistungszeitraum August und Oktober 2007 als Grund der Änderung eine Einkommensanrechnung benannte, war der Kläger
durchaus in der Lage, seine Rechte geltend zu machen. Jedenfalls scheidet eine Aufhebung der angefochtenen Bescheide selbst
bei Annahme eines Begründungsmangels schon nach § 42 Satz 1 SGB X aus, da eine solche Verletzung des § 35 Abs. 1 Satz 1 SGB X bei einer gebundenen Entscheidung wie vorliegend (siehe unten) die Entscheidung in der Sache nicht beeinflussen konnte (vgl.
a. BSG SozR 4-5910 § 92c Nr. 1).
Schließlich liegt auch kein Verstoß gegen die Pflicht zur Anhörung nach § 24 Abs. 1 SGB X vor. Denn eine solche ist nach Abs. 2 Nr. 5 entbehrlich, wenn einkommensabhängige Leistungen den geänderten Verhältnissen
angepasst werden sollen. Das dem Kläger gewährte Alg II ist eine solche Leistung (vgl. §§ 9, 11 SGB II). Da die Norm des § 24 Abs. 2 Nr. 5 SGB II keine weiteren Einschränkungen enthält, gilt dies auch für rückwirkende Anpassungen wie vorliegend (BSG SozR 4-4300 § 128 Nr. 1; Senatsbeschluss vom 17. November 2011 - L 7 AS 5533/09 NZB -; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Januar 1997 - L 13 Ar 590/86 - sowie LSG Sachsen, Urteil vom 18. März 2010 -
L 3 AL 213/07 - [beide juris]). Jedenfalls in Fällen, in denen wie hier die rückwirkende Anpassung nicht an weitere Voraussetzungen als
den Zufluss des Einkommens geknüpft ist (dazu unten), bedarf es keiner Anhörung.
Die Aufhebungsentscheidung für August und Oktober 2007 ist materiell rechtmäßig. Rechtsgrundlage ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X: Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen
haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt
soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit u.a. nach Antragstellung oder Erlass
des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt
haben würde (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3). Das vom Beklagten berücksichtigte Einkommen der DH ist dieser im August und Oktober
2007 und damit nach Erlass des Bewilligungsbescheides vom 4. Juli 2007 zugeflossen. Die Anrechnung auf den Leistungsanspruch
des Klägers ergibt sich aus § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II (hier in der Fassung vom 20. Juli 2006, BGBl. I S. 1706). Danach sind bei unverheirateten Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben
und die die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus ihrem eigenen Einkommen oder Vermögen beschaffen können,
auch das Einkommen und Vermögen der Eltern oder des Elternteils und dessen in Bedarfsgemeinschaft lebenden Partners zu berücksichtigen.
Da der unverheiratete Kläger zum damaligen Zeitpunkt noch dem Haushalt der DH angehörte, das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet
und die Leistungen zur Sicherung seines Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen konnte, gehörte
er zur Bedarfsgemeinschaft der DH (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II).
Die vom Beklagten bei der Ermittlung des beim Kläger zu berücksichtigenden Teiles des Einkommens der DH angewandte, im Tatbestand
bereits dargestellte Berechnungsmethode entspricht den gesetzlichen Vorgaben und ist daher nicht zu beanstanden (a.A.Thie/Schoch
in LPK-SGB II, 4. Aufl., § 9 Rdnr. 38 ff. m.w.N. zur Gegenauffassung). Dies hat das BSG bereits bestätigt (BSG SozR 4-4200 § 9 Nr. 4). Der Senat schließt sich dem aus eigener Überzeugung an. Ist in einer Bedarfsgemeinschaft nicht der gesamte Bedarf
aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt, gilt jede Person der Bedarfsgemeinschaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf
als hilfebedürftig (§ 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II). Es ist danach nicht nach Ermittlung der individuellen Bedarfe der Partner einer Bedarfsgemeinschaft nur das überschießende
Einkommen zu verteilen. Allerdings ist die Vorgabe des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II zu beachten, dass zwar das Einkommen der Eltern auf die zur Bedarfsgemeinschaft gehörenden Kindern verteilt wird, nicht aber
umgekehrt deren Einkommen auf die Eltern. Der Beklagte hat dies bei der Berechnung beachtet, wie sich aus den Berechnungsbögen
auf Bl. 486/491 der Verwaltungsakte ergibt. Bei den zur Bedarfsgemeinschaft gehörenden Kindern hat er von deren Bedarf zunächst
das jeweilige Kindergeld (§ 11 Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB II) i.H.v. € 154.- monatlich abgezogen, bei den volljährigen Kindern, dem Kläger und D, zu Recht jeweils vermindert um die Versicherungspauschale
i.H.v. € 30.-. Damit ergibt sich unter Berücksichtigung des jeweiligen Kopfteils an den Kosten der Unterkunft und Heizung
i.H.v. € 182,76 für den Kläger und D je ein ungedeckter Hilfebedarf i.H.v. € 336,76 (€ 278.- + 182,76 - 124.-), für S i.H.v.
€ 306,76 (€ 278.- + 182,76 - 154.-). Bei DH war neben den Kosten der Unterkunft und Heizung und der Regelleistung i.H.v. €
347.- der Mehrbedarf für Alleinerziehende i.H.v. € 42.- zu berücksichtigen, insgesamt also € 571,74. Der Bedarfsanteil des
Klägers an diesem Gesamtbedarf i.H.v. € 1.552,02 lag mithin bei 21,70%. In Höhe dieses Anteils minderte demnach das zu verteilende
Einkommen der DH seinen Leistungsanspruch.
Da Steuern und Sozialversicherungsbeiträge aus dem Einkommen der DH nicht entrichtet wurden, waren lediglich die Absetzbeträge
des § 11 Abs. 2 Satz 2 sowie Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II (in der Fassung vom 5. Dezember 2006, BGBl. I S. 2748 bzw. 14. August 2005, BGBl. I S. 2407) zu berücksichtigen. Somit ergab sich für August ein bereinigtes Einkommen i.H.v. € 288,89 (tatsächlich zugeflossen € 461,11,
abzüglich Freibeträge i.H.v. € 172,22) und im Oktober 2007 i.H.v. € 215,55 (tatsächlicher Zufluss € 369,44, abzüglich Freibeträge
i.H.v. € 153,89). Damit entfiel auf den Kläger daraus im August ein Einkommensanteil i.H.v. € 62,68 und im Oktober € 46,77
(jeweils 21,70%). Da der Beklagte jedoch im Bewilligungsbescheid vom 4. Juli 2007 Einkommen der DH beim Kläger lediglich i.H.v.
€ 28,93 angerechnet hatte, ergab sich eine Überzahlung für August i.H.v. € 33,75 und Oktober i.H.v. € 17,84, wie vom Beklagten
im Bescheid vom 7. Mai 2008 zutreffend geregelt.
Nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X führt dieser Einkommenszufluss zur rückwirkenden Aufhebung der Leistungsbewilligung, ohne dass es auf ein schuldhaftes Verhalten
des Klägers ankäme. Dabei handelt es sich gem. §
330 Abs.
3 Satz 1
SGB III i.V.m. § 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB II (in der Fassung vom 20. Juli 2006, BGBl. I S. 1706) um eine zwingende Entscheidung; ein Ermessen ist dem Beklagten nicht eingeräumt. Die Aufhebungsentscheidung des Beklagten
für August und Oktober 2007 ist daher gerichtlich nicht zu beanstanden.
Die Pflicht zur Erstattung der überzahlten Beträge (insgesamt € 51,59) folgt danach aus § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Die entsprechende Regelung in den angefochtenen Bescheiden ist auch nicht wegen fehlender Anhörung formell rechtswidrig.
Dabei kann der Senat offenlassen, ob vor einer auf § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X gestützten Erstattungsregelung eine Anhörung durchzuführen ist, wenn vor der Aufhebungsentscheidung eine solche nach § 24 Abs. 2 Nr. 5 SGB X entfallen kann (so wohl BSG SozR 4-4300 § 128 Nr. 1; unklar insoweit BSG SozR 4-4200 § 38 Nr. 2). Denn vorliegend hatte der Kläger die Möglichkeit, sich diesbezüglich im Widerspruchsverfahren ausreichend Gehör zu
verschaffen, da der Ausgangsbescheid alle für die Erstattungsregelung wesentliche Umstände enthielt. Diese umfassen nach dem
Tatbestand des § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X allein die Tatsache und den Umfang der Aufhebung der Leistungsbewilligung, nicht aber die Aufhebungsvoraussetzungen. Diese
sind nur für die eine gesonderte Regelung darstellende Aufhebungsentscheidung von Belang. Anderes gilt lediglich in den Fällen
des § 50 Abs. 2 SGB X, in denen es an einer solchen gesonderten Aufhebungsregelung gerade fehlt. Die Erstattungspflicht trifft auch gerade den
Kläger, da diesem die überhöhten Leistungen bewilligt worden waren (BSG SozR 4-4200 § 38 Nr. 2). Dass sie gegebenenfalls tatsächlich, wie er vorträgt, an seine Mutter ausgezahlt worden waren, steht dem nicht entgegen.
Denn diese war zur Entgegennahme der Leistungen für den Kläger bevollmächtigt, der in dieser Zeit noch Mitglied deren Bedarfsgemeinschaft
war (vgl. § 38 Satz 1 SGB II).
Die Berufung ist daher insoweit unbegründet.
II. Soweit sie sich gegen die Aufhebung und Erstattung für die Zeit ab dem 1. November 2007 richtet, hat die Berufung hingegen
Erfolg. Das SG hat die Klage insoweit zu Unrecht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind in diesem Umfange rechtswidrig und verletzen
den Kläger in seinen Rechten.
Die Rechtswidrigkeit ergibt sich bereits aus formellen Gründen wegen eines Anhörungsmangels. Von einer Anhörung konnte nicht
gem. § 24 Abs. 2 SGB X abgesehen werden. Insbesondere liegt hier ein Fall der Nr. 5 nicht vor, da die Aufhebung ab dem 1. November 2007 nicht auf
die Anrechnung von Einkommen gestützt ist bzw. werden kann. Eine förmliche Anhörung ist zu keinem Zeitpunkt durchgeführt worden,
was auch der Beklagte nicht in Abrede stellt. Entgegen der Ansicht des SG ist dies auch nicht aufgrund der Durchführung eines Widerspruchsverfahrens unbeachtlich. Solches würde zumindest voraussetzen,
dass bereits der Ausgangsbescheid alle wesentlichen Umstände enthält, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung stützen will.
Dies ist vorliegend aber gerade nicht der Fall. Denn im Ausgangsbescheid wurde die Aufhebung ab dem 1. November 2007 allein
mit dem Umzug des Klägers und der danach fehlenden örtlichen Zuständigkeit des Beklagten begründet. Nur hierzu hatte der Kläger
im Widerspruch vortragen können und auch tatsächlich vorgetragen. Zwar trifft es zu, dass der Beklagte sich mit diesem Vorbringen
im Widerspruchsbescheid auseinandergesetzt hat. Er hat es allerdings zum Anlass genommen, seine Entscheidung nunmehr auf andere
tatsächliche Umstände zu stützen (Aufnahme der Ausbildung und daraus folgender Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II insgesamt). Zu diesen konnte sich der Kläger, da auch vor Erlass des Widerspruchsbescheides nicht angehört worden war, nicht
mehr äußern. Gleiches gilt für die tatbestandlichen Voraussetzungen des erstmals im Widerspruchsbescheid als Rechtsgrundlage
herangezogenen § 48 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 2 und 4 SGB X. Zu dem darin enthaltenen Element der subjektiven Vorwerfbarkeit bestand keine Möglichkeit zur Stellungnahme, da der Ausgangsbescheid
mit der nicht verschuldensabhängigen Vorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X begründet worden war (vgl. BSG SozR 4-1300 § 41 Nr. 2).
Das Fehlen einer Anhörung kann zwar gem. § 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X noch bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozialgerichtlichen Verfahrens nachgeholt und damit geheilt werden. Dies setzt
jedoch ein "mehr oder minder" förmliches Verwaltungserfahren voraus (BSG SozR 3-1300 § 24 Nr. 22; BSG, Urteil vom 6. April 2006 - B 7a AL 64/05 R - [juris]). Allein die Möglichkeit zur Stellungnahme im Rahmen eines dem Widerspruchsbescheid
folgenden Gerichtsverfahrens genügt dem nicht; vielmehr ist es allein Sache der Verwaltung dem Kläger die für sie maßgeblichen
Umstände kundzutun. Ein während des Gerichtsverfahrens zu diesem Zweck durchzuführendes förmliches Verwaltungsverfahren liegt
daher nur vor, wenn die beklagte Behörde dem Kläger in angemessener Weise Gelegenheit zur Äußerung zu den entscheidungserheblichen
Tatsachen gegeben hat und sie danach zu erkennen gibt, ob sie nach erneuter Prüfung dieser Tatsachen am bisher erlassenen
Verwaltungsakt festhält. Dies setzt regelmäßig voraus, dass die Behörde den Kläger in einem gesonderten "Anhörungsschreiben"
alle Haupttatsachen mitteilt, auf die sie die belastende Entscheidung stützen will und sie ihm eine angemessene Frist zur
Äußerung setzt. Ferner ist erforderlich, dass die Behörde das Vorbringen des Betroffenen zur Kenntnis nimmt und sich abschließend
zum Ergebnis der Überprüfung äußert (BSG SozR 4-1300 § 41 Nr. 1). Ein solches Verfahren wurde hier nicht durchgeführt. Zu Recht hat das BSG dargestellt, dass es sich dabei nicht um eine inhaltsleere Formalität handelt, und dazu ausgeführt: "Die in § 24 SGB X normierte Anhörungspflicht verlöre jeglichen Gehalt, wenn der Verstoß im gerichtlichen Verfahren ohne jegliches formalisiertes
Verfahren geheilt werden könnte. Vielmehr können nur die genannten verfahrensrechtlichen Anforderungen gewährleisten, dass
die mit dem Anhörungsverfahren verfolgten Zwecke jedenfalls teilweise zur Geltung kommen. Mit der Regelung über die Anhörung
beabsichtigt der Gesetzgeber, allgemein das Vertrauensverhältnis zwischen dem Bürger und der Sozialverwaltung zu stärken und
die Stellung des Bürgers insbesondere durch den Schutz vor Überraschungsentscheidungen zu stärken (BT-Drucks 7/868 S. 28 und
45). Insbesondere soll der Betroffene Gelegenheit erhalten, durch sein Vorbringen zum entscheidungserheblichen Sachverhalt
die bevorstehende Verwaltungsentscheidung zu beeinflussen." Dem schließt sich der Senat nach eigener Überzeugung an. Darüber
hinaus hat der Beklagte während des Gerichtsverfahrens zumindest teilweise wieder auf die abweichende Begründung des Ausgangsbescheides
zurückgegriffen, indem er dem Kläger vorgehalten hat, den Umzug nicht rechtzeitig mitgeteilt zu haben. Somit ist für den Kläger
erst recht nicht erkennbar, worauf der Beklagte die angefochtene Entscheidung tatsächlich stützen will.
Eine Aussetzung des Gerichtsverfahrens nach §
114 Abs.
2 Satz 2
SGG hat der Beklagte nicht beantragt.
Der Anhörungsverstoß ist auch nicht gem. § 42 Satz 1 SGB X unbeachtlich, da diese Regelung nach Satz 2 ausdrücklich nicht für die Anhörung gilt. Der Aufhebungsbescheid und damit auch
die auf diesem beruhende Erstattungsentscheidung nach § 50 Abs. 1 SGB X waren daher insoweit aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Dabei wurde berücksichtigt, dass der Anteil des Unterliegens des Klägers im Verhältnis zum Obsiegen nicht ins Gewicht fiel.
Gründe, die Revision zuzulassen (§
160 Abs.
2 Nrn. 1 und 2
SGG), liegen nicht vor.