SGB-II-Leistungen
Ausländer mit Daueraufenthaltsrecht
Ehegattennachzug
Kein Leistungsausschluss
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II), hilfsweise von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) für die ersten drei Monate nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet.
Die 1995 geborene Klägerin türkischer Staatsangehörigkeit reiste am 01.07.2014 mit einem vom Deutschen Generalkonsulat Istanbul
ausgestellten, vom 18.06.2014 bis 15.09.2014 gültigen Visum zum Zwecke des Familiennachzuges in die Bundesrepublik Deutschland
ein zu ihrem Ehemann, den sie am 26.09.2013 in der Türkei geheiratet hatte. Nach der Einreise wurde ihr von der Ausländerbehörde
der Stadt S. eine vom 10.07.2014 bis 10.07.2016 gültige Aufenthaltserlaubnis erteilt. Der Ehemann der Klägerin, der in Deutschland
geboren wurde, ist türkischer Staatsangehöriger und seit dem 14.11.2013 im Besitz einer unbefristeten Niederlassungserlaubnis.
Zum 01.07.2014 bezogen die Klägerin und ihr Ehemann eine von diesem ab dem 16.06.2014 angemietete 2-Zimmer-Wohnung in der
W.-R.-Str. 2A in S. (Kosten der Unterkunft insgesamt 483,- EUR, davon Netto-Kaltmiete 334,- EUR, Vorauszahlung Betriebskosten
78,- EUR, Vorauszahlung Heizung 71,- EUR). Am 10.07.2014 beantragte der Ehemann der Klägerin als Vertreter der Bedarfsgemeinschaft
Leistungen nach dem SGB II. Durch Bescheid des Beklagten vom 01.08.2014 wurden ihm Leistungen für die Zeit vom 01.07.2014 bis 31.12.2014 in Höhe von
594,50 EUR monatlich (Regelleistung 353,- EUR und Kosten der Unterkunft 241,50 EUR) bewilligt. Zugleich wurde die Bewilligung
von Leistungen für die Klägerin abgelehnt mit der Begründung, diese habe keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes, da sie derzeit nur ein gültiges Visum mit einer Aufenthaltsdauer von drei Monaten besitze und dieses Visum
nur einen vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland begründe. Dagegen legte die Klägerin am 08.09.2014 Widerspruch ein mit
der Begründung, dass sie nunmehr über einen zureichenden Aufenthaltstitel (Gültigkeitszeitraum 10.07.2014 bis 10.07.2016)
verfüge. Bereits aufgrund des Visums zum Zwecke des Familiennachzuges sei sie nicht unter die gesetzlichen Ausschlusstatbestände
gefallen. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 24.09.2014 zurück, da die Klägerin aufgrund von §
7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sei.
Am 26.09.2014 hat die Klägerin dagegen Klage beim Sozialgericht (SG) Mannheim erhoben und daran festgehalten, leistungsberechtigt zu sein. Sie sei bereits bei Erlass des Bescheids vom 01.08.2014
im Besitz eines Aufenthaltstitels, nicht nur eines Visums, gewesen. Hilfsweise könne sie sich als türkische Staatsangehörige
und damit als Angehörige eines Signatarstaates auf das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) berufen und sei daher leistungsberechtigt
nach dem SGB II. Der hierzu am 19.12.2011 erklärte Vorbehalt der Bundesrepublik Deutschland stehe dem nicht entgegen, da die Erklärungsfrist
für einen Vorbehalt bereits verstrichen gewesen sei; die übrigen Anspruchsvoraussetzungen nach den SGB II seien nicht streitig.
In der (nichtöffentlichen) Sitzung des SG vom 25.03.2015 hat der Beklagte sich verpflichtet, der Klägerin für die Monate Oktober, November und Dezember 2014 Leistungen
nach dem SGB II auszuzahlen. Dieses Teilanerkenntnis hat die Klägerin angenommen.
Durch Urteil vom 30.04.2015, welches ohne mündliche Verhandlung ergangen ist, hat das SG Mannheim die (verbliebene) Klage
abgewiesen, soweit diese über das Teilanerkenntnis des Beklagten hinausgeht. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, die Klägerin erfülle zwar die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Sie habe das 15. Lebensjahr vollendet und die maßgebliche Altersgrenze noch nicht erreicht, sei - soweit ersichtlich - erwerbsfähig
sowie hilfebedürftig und habe ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Der Anspruch auf Leistungen
nach dem SGB II im streitigen Zeitraum 01.07.2014 - 30.09.2014 sei jedoch nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II ausgeschlossen, weil der Klägerin bzw. ihrem Ehemann in den ersten drei Monaten seit ihrer Einreise in die Bundesrepublik
Deutschland (01.07.2014) weder Arbeitnehmer- noch Selbstständigeneigenschaft zugekommen sei. Auch sei die Klägerin nicht aufgrund
des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Aus der Entstehungsgeschichte der Regelung ergebe sich, dass der deutsche Gesetzgeber zeitgleich
mit der Erweiterung der Freizügigkeit von Arbeitnehmern zu einer allgemeinen Freizügigkeit für alle Unionsbürger mit der Ausschlussregelung
des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von der "Option" des Art. 24 Abs. 2 i.V.m. Art. 14 Abs. 4 der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG (RL 2004/38/EG) Gebrauch machen wollte (BT-Drucks 16/5065 S. 234; siehe auch BT-Drucks 16/688 S. 13). Der deutsche Gesetzgeber sei daher
davon ausgegangen, dass Arbeitslosengeld II ausschließlich eine Leistung der Sozialhilfe sei, von dessen Bezug Unionsbürger
nach Art. 24 Abs. 2 i.V.m. Art. 14 Abs. 4 der RL 2004/3 8/EG ausnahmslos während der ersten drei Monate des Aufenthalts ausgeschlossen
seien. Gleiches müsse auch für freizügigkeitsberechtigte Angehörige eines Signatarstaates des Assoziationsabkommens (Abkommen
zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei vom 12.09.1963 (BGBl. 1964
II S.510) gelten, da zur Überzeugung der Kammer für eine Besserstellung dieser Drittstaatangehörigen gegenüber EU-Bürgern
keine hinreichenden Gründe ersichtlich seien. Ein Leistungsanspruch der Klägerin folge auch nicht aus der Anwendung des EFA.
Das Gericht gehe in Anlehnung an den Vorlagebeschluss des Bundessozialgerichts (BSG) davon aus, dass der Vorbehalt der Bundesregierung vom 19.12.2011 gegen die Anwendung des SGB II wirksam sei (BSG, Vorlage an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) vom 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R - [...]). Der EuGH habe in seiner Entscheidung vom 11.11.2014 (C-333/13; Rechtssache Dano) die Ausführungen des LSG dahingehend gestützt, dass er die Gültigkeit des Leistungsausschlusses innerhalb
der ersten drei Monate des Aufenthalts im Aufnahmestaat zumindest nicht in Frage gestellt habe. Der Leistungsausschluss nach
§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II für die ersten drei Monate des Aufenthalts sei auch mit deutschem Verfassungsrecht und mit Gemeinschaftsrecht vereinbar.
Das erkennende Gericht schließe sich insoweit den Ausführungen des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen im Urteil
vom 18.03.2014 (L 15 AS 393/11) an. Der EuGH habe in seiner Entscheidung in der Rechtssache D. die Ausführungen des LSG dahingehend gestützt, dass er die
Gültigkeit des Leistungsausschlusses innerhalb der ersten drei Monate des Aufenthalts im Aufnahmestaat zumindest nicht in
Frage gestellt habe.
Ohne dass dies noch streitgegenständlich sei, scheide auch ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII aus. Ungeachtet der Frage des Bekanntwerdens nach § 18 SGB XII greife insofern der Leistungsausschluss nach § 5 Abs. 2 SGB II bzw. § 21 SGB XII bezüglich eines Anspruchs auf Hilfe zum Lebensunterhalt. Die Klägerin sei zwar, wie oben dargelegt, von Leistungen nach dem
SGB II ausgeschlossen, dem Grunde nach aber nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II leistungsberechtigt nach dem SGB II. Diese Regelung werde auch nicht von § 23 SGB XII verdrängt, weil diese Norm nach der Systematik des SGB XII nur für Ausländer gelte, die sich zwar tatsächlich im Inland aufhalten, aber keinen gewöhnlichen Aufenthalt hier haben, wie
es bei der Klägerin aber aufgrund ihres eigenen Vortrags der Fall sei (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.02.2015 - L 2 AS 14/15 B ER -). Ein Anspruch auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung komme ohnedies nicht in Betracht.
Gegen das dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 19.05.2015 zugestellte Urteil hat dieser am 16.06.2015 Berufung beim
LSG Baden-Württemberg eingelegt unter Beibehaltung seines bisherigen Rechtsstandpunkts.
Durch Beschluss vom 01.10.2015 (L 9 AS 2537/15) hat der Senat der Klägerin für das Berufungsverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten
bewilligt. Zur Begründung hat der Senat (unter Anderem) Folgendes ausgeführt: " ...Hiernach können die Erfolgsaussichten der
Rechtsverfolgung, mit welcher die Klägerin türkischer Staatsangehörigkeit und Herkunft die Gewährung von Leistungen nach dem
SGB II für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts nach Zuzug zu ihrem schon länger im Bundesgebiet lebenden Ehemann begehrt, nicht
verneint werden. Zwar dürfte der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II während der ersten drei Monate des Aufenthalts bei Unionsbürgern (auch damit ebenso bei der Antragstellerin) nach der vorliegenden
Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich mit Gemeinschaftsrecht, insbesondere Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 EG, vereinbar
sein (Gerichtshof in der Rechtssache Dano, Rechtssache C 333/13; ebenso Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet vom 04.06.2015 Rn. 55; Garcia-Nieto u.a.; Rechtssache C-299/14). Allerdings steht die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache G.-N. aus. Hinzu kommt, dass in Literatur und Rechtsprechung
zum Teil vertreten wird, dass der Leistungsausschluss während der ersten drei Monate nicht Familienangehörige erfasst, die
im Rahmen des Familiennachzugs zu einem schon länger in Deutschland lebenden Ausländer ziehen (SG Berlin, Urteil vom 18.04.2011
- S 201 AS 45186/09 - ([...]); Leopold in jurisPK-SGB II, § 7 Rn. 89; Thie in LPK-SGB II, § 7 Rn. 24 a.E.). Auch unter diesem Gesichtspunkt erscheinen die Erfolgsaussichten jedenfalls offen, und es könnten sich aus
der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache G.-N. sowie den - noch nicht vorliegenden - Entscheidungsgründen des EuGH im
Verfahren C-67/14 (Entscheidung vom 15.09.2015 - Alimanovic -) weiterführende rechtliche Erkenntnisse ergeben. Eine hinreichende Erfolgsaussicht
der Rechtsverfolgung ist daher derzeit insgesamt nicht zu verneinen."
Durch Beschluss vom 23.11.2015 hat das Gericht das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Am 10.08.2016 hat die Klägerin das Verfahren
wieder angerufen. Durch Beschluss vom 28.09.2016 ist der zuständige Sozialhilfeträger zum Verfahren beigeladen worden.
Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 30. April 2015 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 1.
August 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. September 2014 zu verurteilen, der Klägerin Leistungen nach dem
SGB II, hilfsweise den Beigeladenen zu verurteilen, Leistungen nach dem SGB XII, auch für die Zeit vom 1. Juli 2014 bis 30. September 2014 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verweist auf sein Vorbringen im erstinstanzlichen Verfahren.
Der Beigeladene hat sich nicht geäußert.
Nach Mitteilung des Ehemanns der Klägerin vom 27.09.2016 an den Beklagten leben er und die Klägerin zwischenzeitlich getrennt.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf die Akten des Beklagten, des SG sowie des Senats Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche
Verhandlung entscheiden kann (§
124 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG)), ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach §
144 SGG liegen nicht vor. Die Berufung ist auch begründet. Entgegen der Auffassung des SG und des Beklagten hat die Klägerin dem Grunde nach Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II im streitbefangenen Zeitraum.
Gegenstand des Klage- und Berufungsverfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 01.08.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 24.09.2014, mit dem (auch) Leistungen für den streitig gebliebenen Zeitraum 01.07.2014 bis 30.09.2014 abgelehnt wurden.
Die Klägerin erfüllt die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 SGB II. Sie hatte im streitbefangenen Zeitraum das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht, war erwerbsfähig und hilfebedürftig und hatte ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.
Sie erfüllte damit die Voraussetzungen für die Leistungsgewährung dem Grunde nach, wobei der am 10.07.2014 gestellte Leistungsantrag
auf den Monatsersten zurückwirkt (§ 37 Abs. 1 Satz 2 SGB II).
Die Klägerin war auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer
oder Selbstständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen
für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts von Leistungen ausgeschlossen. Dieser Leistungsausschluss findet nach Satz 3
im Wege einer Rückausnahme jedoch keine Anwendung auf Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt
5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten.
Hierzu stellt der Senat fest, dass sich die Klägerin zwar im streitbefangenen Zeitraum erst weniger als drei Monate im Bundesgebiet
aufhielt. Allerdings reiste sie mit einem zum Zwecke des Familiennachzuges erteilten Visum ein und erhielt kurz nach der Einreise
eine Aufenthaltserlaubnis nach §§ 29, 30 AufenthG. Sie hielt sich somit durchgängig rechtmäßig im Bundesgebiet auf zum Zwecke der Herstellung der ehelichen Gemeinschaft mit
ihrem seit der Geburt hier lebenden Ehemann, der im Besitz einer unbefristeten Niederlassungserlaubnis (§ 9 AufenthG) ist.
In dieser Konstellation greift die Bestimmung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II zur Überzeugung des Senats nicht ein. Dies ergibt sich bereits aus deren Sinn und Zweck. Der Gesetzgeber wollte mit dieser
Regelung von der Option in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Rates vom 29.04.2009 Gebrauch machen (Bundestags-Drucksache 16/5065, S. 234). Nach Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Rates ist der einen Ausländer aufnehmende Staat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern und Selbstständigen
und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthaltes einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren.
Durch die Regelung sollten somit vor allem EU-Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, die von dem voraussetzungslosen dreimonatigen
Aufenthaltsrecht nach Art. 6 der Richtlinie 2004/38/EG bzw. § 2 Abs. 5 FreizügG-EU Gebrauch machen, im Rahmen des unionsrechtlich Zulässigen von den Leistungen des SGB II ausgeschlossen werden. Hiervon ausgehend hat das BSG bereits entschieden, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 von vornherein nicht den Zuzug ausländischer Ehegatten zu deutschen Staatsangehörigen erfasst (Urteil vom 30.01.2013 - B
4 AS 37/12 R - SozR 4-4200 § 7 Nr. 33). Zur Überzeugung des erkennenden Senats ist die Bestimmung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II aber auch beim Nachzug einer Ausländerin, die von ihrem Recht auf Familiennachzug zu ihrem ausländischen, mit einem Daueraufenthaltsrecht
im Bundesgebiet ausgestatteten Ehegatten Gebrauch macht, nicht anwendbar. Dass ein solcher Nachzug einerseits aufenthaltsrechtlich
gestattet wird, andererseits vom SGB II leistungsrechtlich sanktioniert werden soll, lässt sich weder dem Willen des Gesetzgebers entnehmen noch entspricht dies
nach den obigen Ausführungen dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Mit Blick auf den gebotenen Schutz der Ehe (Art.
6 GG) dürfte eine dahingehende einschränkende, den Ehegattennachzug ausnehmende Auslegung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II auch von Verfassungs wegen geboten sein (s. hierzu SG Berlin, Urteil vom 18.04.2011 - S 201 AS 45186/09 - [...]).
Unterstrichen wird dieses Ergebnis auch durch die Regelung der Rückausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 3 SGB II bzw. deren Auslegung durch die Rechtsprechung. Das LSG Niedersachsen-Bremen hat hierzu durch Urteil vom 26.01.2016 (L 11 AS 1076/14) entschieden, dass Familienangehörige eines Ausländers, welcher einen Aufenthaltstitel nach Abschnitt 5 des Zweiten Kapitels
AufenthG besitzt und daher aufgrund der Rückausnahme in § 7 Abs. 1 Satz 3 SGB II Leistungsberechtigter im Sinne des SGB II ist, keinem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II unterfallen, wenn sie auf der Grundlage eines zum Zwecke des Familiennachzugs erteilten Einreisevisums nach Deutschland einreisen
und ihnen im Anschluss an eine Fiktionsbescheinigung ein Aufenthaltstitel nach dem Abschnitt 6 des Zweiten Kapitels AufenthG erteilt wird. Eine abweichende Handhabung sei bereits nach der Grundstruktur des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht gerechtfertigt und widerspreche auch den fachlichen Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit zu § 7 SGB II, wonach für Familienangehörige eines Ausländers, der einen Aufenthaltstitel nach Abschnitt 5 des Zweiten Kapitels AufenthG besitzt, kein Leistungsausschluss besteht, wenn sie nach Deutschland nachziehen und ihnen ein Aufenthaltstitel nach dem Abschnitt
6 des Zweiten Kapitels AufenthG erteilt wird.
Gleiches muss (erst recht) gelten, in welchem der Nachzug des Familienangehörigen nicht zu einem Ausländer erfolgt, dessen
Aufenthalt gemäß Abschnitt 5 des Zweiten Kapitels AufenthG aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen, sei es vorübergehend oder auf Dauer, genehmigt wird, sondern
- wie hier - zu einem Ausländer, der das höchste Maß aufenthaltsrechtlicher Verfestigung im Bundesgebiet in Form einer unbefristeten
Niederlassungserlaubnis erlangt hat und aufgrund seines Werdegangs einem Inländer faktisch gleichsteht (s. zum Begriff des
faktischen Inländers zuletzt Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 - [...]). Vom Leistungsausschluss nach Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 nicht betroffen sind daher jedenfalls nachziehende Familienangehörige
eines aufgrund seines Werdegangs einem Inländer gleich zu erachtenden, mit einem Daueraufenthaltsrecht ausgestatteten Ausländer.
Die Bestimmung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist dementsprechend einschränkend auszulegen (s. auch SG Berlin, a.a.O.; Hessisches LSG, Beschluss vom 06.09.2011 - L 7 AS 334/11 B ER - [bei einem Aufenthaltsrecht aufgrund einer Fiktionsbescheinigung]; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 19.09.2014
- L 11 AS 502/14 B ER -; Leopold in [...] PK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 7 Rdnr 89; Thie in LPK-SGB II, 5. Aufl. 2013, § 7 Rdnr. 24).
Ein Leistungsausschluss ergibt sich in diesem Falle auch nicht aus § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. Nach dieser Vorschrift sind vom Leistungsbezug ausgenommen Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der
Arbeitsuche ergibt. Dies ist bei der Klägerin im streitigen Zeitraum bereits deshalb nicht der Fall, weil sich ihr Aufenthaltsrecht
aus dem Familiennachzug ergibt und damit nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 37/12 R -). Da der Klägerin in diesem Zeitraum auch kein Anspruch auf Asylbewerberleistungen zustand, ergibt sich auch kein Leistungsausschluss
aus § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II.
Damit liegen sämtliche Voraussetzungen für einen Anspruch auf SGB II-Leistungen im streitigen Zeitraum vor. Dementsprechend war der Beklagte gemäß dem (sinngemäß) gestellten Antrag zur Leistungsgewährung
dem Grunde nach (§
130 SGG) zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG). Vom BSG ist bislang (lediglich) entschieden, dass Drittstaatsangehörige, die als Familienangehörige eines Deutschen in die Bundesrepublik
Deutschland einreisen, in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind (BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 37/12 R -, a.a.O.). Ob dies auch für Familienangehörige eines aufgrund seines Werdegangs einem Inländer faktisch gleich zu erachtenden,
mit einem Daueraufenthaltsrecht ausgestatteten Ausländers gilt, ist höchstrichterlich noch nicht geklärt, aber über den Einzelfall
hinaus klärungsbedürftig.