Rechtsgrundlage für die Entziehung einer Verletztenrente in der gesetzlichen Unfallversicherung
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger über den 30.06.2006 hinaus eine (gestützte) Verletztenrente nach einer Minderung
der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 10 v.H. zu gewähren ist.
Der im Jahr 1957 geborene Kläger erlitt am 17.06.2003 ein Knalltrauma als Arbeitsunfall. Auf Grund dieses Arbeitsunfalls bestehen
beim Kläger persistierende, fixierte Ohrgeräusche beidseits, die zunächst zu einer MdE um 10 v.H., auf Grund einer Verschlechterung
ab dem 25.10.2004 um 20 v.H. führten.
Am 14.11.2003 zog sich der Kläger bei einem weiteren Arbeitsunfall eine Achillessehnenruptur rechts zu. Wegen der Folgen dieser
Gesundheitsstörung wurde im Rahmen verschiedener Begutachtungen u.a. die Beweglichkeit der oberen Sprunggelenke gemessen.
Dabei ergaben sich folgende Werte (jeweils in Grad - Heben/Senken, rechts/links - Normalwerte: 20/30-0-40/50):
17.11.2003
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Dr. M.
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20-0-35
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30-0-60
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(Bl. 92 SG-Akte)
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03.08.2005
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Prof. Dr. Pfister
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15-0-50
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15-0-60
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(Bl. 110 VA)
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04.09.2006
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Dr. M.
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20-0-30
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30-0-55
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(Bl. 45 SG-Akte)
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19.09.2006
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Prof. Dr. M.
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5-0-40
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5-0-40
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(Bl. 208 VA)
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Die Begutachtungen durch Dr. M. erfolgten im Auftrag der P. R. AG, Prof. Dr. P. und Prof. Dr. M. wurden für die Beklagte tätig.
Mit Bescheiden vom 27.01.2006 (Bl. 19 SG-Akte, Bl. 138 VA) bewilligte die Beklagte, die eine Entschädigung aus Anlass der Achillessehnenruptur im Jahr 2004 noch abgelehnt
hatte, dem Kläger wegen beider Arbeitsunfälle wechselseitig gestützte Renten als vorläufige Entschädigung nach einer MdE um
jeweils 10 v.H. Die Bescheide enthielten jeweils den Hinweis, dass der Anspruch nur bestehe, solange die MdE wegen des anderen
Versicherungsfalls mindestens 10 v.H. betrage. Die Verletztenrente wegen der Folgen des erlittenen Knalltraumas setzte ab
dem 14.11.2003 (Hinzutritt der Achillessehnenruptur), die Verletztenrente wegen der Achillessehnenruptur mit dem Auslaufen
der darauf beruhenden Arbeitsunfähigkeit ab dem 27.04.2004 ein. Der Rentengewährung für die Folgen der Achillessehnenruptur
lag das auf Grund einer Untersuchung des Klägers am 03.08.2005 vom Direktor der Unfallchirurgischen Abteilung im Städtischen
Klinikum K. Prof. Dr. P. erstellte unfallchirurgische Fachgutachten zu Grunde, der als Folgen der Achillessehnenruptur ein
leichtes Rechtshinken, eine leichte Unsicherheit beim Zehenspitzengang rechts, eine Unmöglichkeit voll in die Hocke zu gehen
und eine minimale Einschränkung der Plantarflexion des rechten oberen Sprunggelenks beschrieb.
Mit Bescheiden vom 01.06.2006 lehnte die Beklagte zunächst wegen der Folgen des erlittenen Knalltraumas die Gewährung einer
Rente auf unbestimmte Zeit ab und entzog die vorläufig gewährte Entschädigung zum 01.07.2006 (Blatt 27 SG-Akte). Die Beklagte ging damals noch davon aus, dass die MdE in Folge des Knalltraumas (endgültig) auf unter 10 v.H. festzusetzen
sei. Mit dem weiteren Bescheid vom 01.06.2006 (Blatt 169 VA) entzog die Beklagte zum 01.07.2006 dem Kläger die wegen der Folgen
der Achillessehnenruptur als vorläufige Entschädigung gewährte Rente. Zur Begründung dieser Entscheidung verwies sie auf den
Wegfall der in Folge des Knalltraumas gewährten Rente. Gegen beide Entscheidungen erhob der Kläger Widerspruch. Im Widerspruchsverfahren
holte die Beklagte das auf Grund einer Untersuchung am 19.09.2006 vom Leiter der Sektion Unfall- und Wiederherstellungschirurgie
am Universitätsklinikum H., Prof. Dr. M., erstellte Gutachten ein, das bei der Beklagten am 15.11.2006 einging. Prof. Dr.
M. bewertete die verbliebenen Folgen der Achillessehnenruptur mit einer MdE um weniger als 10 v.H., verwies jedoch - insbesondere
in seinen ergänzenden Stellungnahmen vom März und Mai 2007 - darauf, dass im Vergleich zum Zeitpunkt der Begutachtung durch
Prof. Dr. P. kein Nachweis einer wesentlichen Besserung geführt werden könne, da der einzige fassbare Unterschied darin bestehe,
dass Prof. Dr. P. noch von einer endgradigen Bewegungseinschränkung im Sprunggelenk ausgegangen sei, während nunmehr eine
Bewegungseinschränkung im oberen/unteren Sprunggelenk nicht mehr festgestellt werden könne (Blatt 234 VA). Die Beklagte bat
den Kläger unter Verweis auf die von Prof. Dr. M. vorgenommene Einschätzung der MdE auf unter 10 v.H. um Stellungnahme, ob
er seinen Widerspruch betreffend die Rentengewährung auf Grund der Achillessehnenruptur aufrecht erhalte. Nach weiterer Sachverhaltsermittlung
im Hinblick auf die Folgen des Knalltraumas hob die Beklagte mit dem Bescheid vom 27.10.2008 den das Knalltrauma betreffenden
Bescheid vom 01.06.2006 auf und bewilligte dem Kläger wegen dieses Arbeitsunfalls eine Rente ab dem 25.10.2004 (Eintritt einer
Verschlechterung) auf unbestimmte Zeit nach einer MdE um 20 v.H. (Blatt 30 SG-Akte).
Den vom Kläger aufrecht erhaltenen Widerspruch hinsichtlich des Entzugs der Rente wegen der Folgen der Achillessehnenruptur
wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19.11.2008 zurück. Im Ausgangsbescheid sei die bislang als vorläufige Entschädigung
gewährte Versichertenrente wegen des Wegfalls "Stützrententatbestands" entzogen worden. Nunmehr habe sich der Widerspruchsausschuss
nach Würdigung des im Widerspruchsverfahren beigezogenen Gutachtens davon überzeugt, dass der Kläger durch die Folgen des
Arbeitsunfalls vom 14.11.2003 zum Zeitpunkt der Feststellung einer Rente auf unbestimmte Zeit nicht mehr in einem messbarem
Grad von wenigstens 10 v.H. in seiner Erwerbsfähigkeit eingeschränkt sei.
Deswegen hat der Kläger am 04.12.2004 beim Sozialgericht Karlsruhe Klage erhoben. Sein zunächst auch verfolgtes Ziel, wegen
des Arbeitsunfalls vom 14.11.2003 eine Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE um 20 v.H. zu erhalten, hat er in der mündlichen
Verhandlung nicht aufrecht erhalten, vielmehr alleine die Aufhebung des Bescheides vom 01.06.2006 (betreffend die Achillessehnenruptur)
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2008 beantragt. Diesem Antrag hat das Sozialgericht im Urteil vom 22.10.2009
stattgegeben. Die Beklagte habe die mit dem Bescheid vom 27.01.2006 als vorläufige Entschädigung gewährte Rente nicht vor
Ablauf von drei Jahren nach dem Arbeitsunfall wirksam entzogen. Die Stützrente wegen der Folgen des Knalltraumas sei nicht
weggefallen. Damit sei die im Bescheid vom 27.01.2006 enthaltene auflösende Bedingung entgegen dem Inhalt des streitgegenständlichen
Bescheids vom 01.06.2006 nicht eingetreten. Die Beklagte habe die Rente nicht über die (unzutreffende) deklaratorische Feststellung
des Eintritts der auflösenden Bedingung hinausgehend konstitutiv entzogen. Eine Umdeutung des Bescheides vom 01.06.2006 in
einen Entziehungsbescheid scheide aus. Soweit die Beklagte im Widerspruchsbescheid den Rentenanspruch mit der Begründung verneint
habe, die arbeitsunfallbedingte MdE betrage weniger als 10 v.H., sei der notwendige Nachweis einer wesentlichen Änderung nicht
geführt.
Gegen das ihr am 05.11.2009 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 03.12.2009 Berufung eingelegt. Zur Begründung hat sie ausgeführt,
das Sozialgericht überziehe die gesetzlichen Bestimmtheitsanforderung an einen Entzugsbescheid nach §
62 Abs.
2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VII) erheblich. Auf die Begründung des Entziehungsbescheids komme es im Hinblick auf die Verhinderung der Rechtsfolgen des §
62 Abs.
2 Satz 1
SGB VII (Rentengewährung auf unbestimmte Zeit mit Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall) nicht an. Im Bescheid vom 01.06.2006
sei eindeutig verfügt worden, dass die Rente in Form einer vorläufigen Entschädigung entzogen werde. Die vom Sozialgericht
beschriebenen Folgen in Bezug auf den Eintritt der auflösenden Bedingung des Stützrententatbestandes wären nur dann in Betracht
gekommen, wenn kein gesonderter Entziehungsbescheid erlassen worden wäre und man nur auf den Eintritt der auflösenden Bedingung
vertraut hätte. Bei der Überprüfung der Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide komme es auf die Rechtmäßigkeit des Ausspruchs
an, die Begründung der Bescheide sei zwar erforderlich, hinsichtlich des Inhalts aber variabel. Der Bescheid vom 01.06.2006
werde nicht dadurch rechtswidrig, dass der zunächst angenommene Wegfall des Stützrententatbestandes nachträglich entfallen
sei. Denn im Widerspruchsbescheid sei er um die Begründung erweitert worden, dass es für die weitere Gewährung einer gestützten
Rente an der hierfür notwendigen MdE um mindestens 10 v.H. fehle. Im Übrigen habe das Sozialgericht übersehen, dass nach der
Rechtsprechung des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt (Urteil vom 21.08.2008, L 6 U 149/04, Bl. 23/34 LSG-Akte) die alleinige Aufhebung der Rente als vorläufige Entschädigung nicht zur Folge haben könne, dass die
vorläufige Rente als Rente auf unbestimmte Zeit weiter zu zahlen sei. Hilfsweise hat die Beklagte geltend gemacht, Prof. Dr.
M. habe gegenüber dem Vorgutachten eine Besserung der Beweglichkeit beschrieben. Soweit das Sozialgericht der Einschätzung
von Prof. Dr. M. zum Fehlen einer nachweisbaren wesentlichen Besserung gefolgt sei, hätte es den Erstgutachter anhören und
der Frage nachgehen müssen, ob er mit seiner Einschätzung der MdE falsch lag.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 22.10.2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 01.06.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.11.2008, mit dem
die Beklagte dem Kläger die zuvor mit Bescheid vom 27.01.2006 nach einer MdE um 10 v.H. vorläufig bewilligte Rente entzog.
Nach dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht ausschließlich gestellten Anfechtungsantrag wendet
er sich (nur noch) gegen die Entziehung der ihm ursprünglich bewilligten vorläufigen Rente mit dem Ziel der Gewährung einer
Dauerrente in der bisherigen Höhe (MdE 10 v.H.). Seinen ursprünglich schriftsätzlich gestellten Antrag auf Gewährung einer
höheren Rente nach einer MdE um 20 v.H. hat er nicht aufrecht erhalten. Dem entsprechend ist die Anfechtungsklage die zutreffende
Klageart, denn mit Aufhebung des angefochtenen Entziehungsbescheides würde die vorläufig gewährte Rente - entgegen der Ansicht
der Beklagten - nach Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall schon kraft Gesetzes zur Dauerrente (st. Rechtsprechung
des Senats, u.a. Urteil vom 23.02.2006, L 10 U 3518/03; ebenso BSG, Urteil vom 05.02.2008, B 2 U 6/07 R in SozR 4-1300 § 41 Nr. 1; a.A. LSG Sachsen-Anhalt, aaO. - nicht weiter problematisiert im nachfolgenden Urteil des BSG vom
16.03.2010, B 2 U 2/09 R in SozR 4-2700 § 62 Nr. 1).
Das Sozialgericht hat die angefochtenen Bescheide zu Recht aufgehoben, denn keine der hier für eine Entziehung der vorläufig
gewährten Rente in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen ist in vollem Umfang erfüllt.
Der Senat kann offen lassen, ob der Bescheid vom 27.01.2006 über die Gewährung der Rente wegen des Arbeitsunfalles vom 14.11.2003
(Achillessehnenruptur) - wie vom Sozialgericht angenommen - tatsächlich eine auflösende Bedingung i.S. des § 32 Abs. 2 Nr. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) "Wegfall des Stützrententatbestands" enthält, was angesichts des Wortlauts zweifelhaft erscheint. Insbesondere ließe die
entsprechende Textpassage, die weder den Begriff der Bedingung noch eine entsprechende Umschreibung der Bedingung enthält,
auch eine Deutung i. S. eines bloßen rechtlichen Hinweises zu. Selbst die Beklagte hat sich nicht auf eine solche Nebenbestimmung
berufen. Es fehlt jedenfalls am tatsächlichen Eintritt einer solchen auflösenden Bedingung. Dies ergibt sich aus dem Bescheid
vom 27.10.2008 zum Arbeitsunfall vom 17.06.2003 (Knalltrauma). Auf Grund der dort getroffenen bestandskräftigen Regelung steht
fest, dass dem Kläger entgegen der ursprünglichen Annahme der Beklagten zum Zeitpunkt des Erlasses der Bescheide vom 01.06.2006
wegen der Folgen des Knalltraumas weiter eine Verletztenrente - sogar nach einer höheren als bislang angenommenen MdE - auf
unbestimmte Zeit zusteht. Die mit Bescheid vom 01.06.2006 hinsichtlich dieser Rente zunächst verfügte Entziehung als vorläufige
Entschädigung und Ablehnung der Gewährung der Rente auf unbestimmte Zeit wurde aufgehoben. Damit ist diese Stützrente tatsächlich
nie entfallen. Dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig. Es bedarf daher auch keiner Klärung, welche Regelungswirkung
dem streitigen Bescheid vom 01.06.2006 (in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2008) im Falle des Eintritts einer
auflösenden Bedingung zukäme.
Auf §
62 Abs.
1 Satz 2
SGB VII als Rechtsgrundlage der angefochtenen Entscheidung kann sich die Beklagte nicht berufen. Nach dieser Bestimmung kann im Falle
der Gewährung einer Rente als vorläufige Entschädigung der Vomhundertsatz der MdE innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren
nach dem Versicherungsfall (§
62 Abs.
1 Satz 1
SGB VII) jederzeit und ohne Rücksicht auf die Dauer der Veränderung neu festgestellt werden. Im Entziehungsbescheid vom 01.06.2006
wurde aber gerade nicht auf eine andere MdE abgestellt. Vielmehr ging die Beklagte damals noch von der MdE um 10 v.H. aus.
Die im Ausgangsbescheid verfügte Entziehung beruhte allein auf der - wie schon ausgeführt - unzutreffenden Annahme eines Wegfalls
des Stützrententatbestandes. Die Intention einer anderen Feststellung der MdE nach §
62 Abs.
1 Satz 2
SGB VII könnte allenfalls dem Widerspruchsbescheid entnommen werden, in dessen Begründung die Beklagte - freilich ohne ausdrücklich
auf §
62 SGB VII Bezug zu nehmen - auf eine nicht (mehr) gegebene MdE um 10 v.H. hinwies. §
62 Abs.
1 Satz 2
SGB VII stellt jedoch keine Rechtsgrundlage für die Entziehung einer Rente als vorläufige Entschädigung wegen Wegfalls der rentenberechtigenden
MdE dar. Denn mit dem Entzug einer Rente als vorläufige Entschädigung mangels rentenberechtigender MdE wird nicht nur die
vorläufige, sondern auch die Dauerrente abgelehnt (BSG, Urteil vom 21.03.1974, 8/2 RU 55/72 in SozR 2200 § 581 Nr. 1). Die Entscheidung über die Dauerrente - einschließlich einer Rentenablehnung (BSG, Urteil vom 16.03.2010,
aaO.) - nach Gewährung einer Rente als vorläufige Entschädigung beruht aber auf §
62 Abs.
2 Satz 2
SGB VII (BSG, Urteil vom 16.03.2010, aaO.). Damit beschränkt sich der Anwendungsbereich des §
62 Abs.
1 Satz 2
SGB VII auf jene Fälle, in denen die Rente als vorläufige Entschädigung nach einer anderen MdE weitergewährt wird, also eine vorläufige
Regelung durch eine andere ersetzt wird (BSG, Urteil vom 16.03.2010, aaO.). Im Übrigen wäre auch bei §
62 Abs.
1 Satz 2
SGB VII - wie bei Abs.
2 Satz 2 (hierzu sogleich) - erforderlich, dass die Neufeststellung innerhalb von drei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalles
ergeht. Hier erging der Widerspruchsbescheid erst am 19.11.2008 und mithin lange nach Ablauf des Drei-Jahres-Zeitraums nach
dem Versicherungsfall vom 14.11.2003.
§
62 Abs.
2 Satz 2
SGB VII bestimmt, dass bei der erstmaligen Feststellung der Rente (auf unbestimmte Zeit) nach der vorläufigen Entschädigung der Vomhundertsatz
der MdE abweichend von der vorläufigen Entschädigung festgestellt werden kann, auch wenn sich die Verhältnisse nicht geändert
haben. Nach Satz 1 dieser Vorschrift wird die Rente jedoch spätestens mit Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall
kraft Gesetzes nicht mehr als "vorläufige Entschädigung", sondern als "Rente auf unbestimmte Zeit" geleistet, sodass der "Vorläufigkeitsvorbehalt"
in dem den Rentenanspruch feststellenden Verwaltungsakt gesetzesunmittelbar entfällt (BSG, Urteil vom 16.03.2010, aaO., auch
zum Nachfolgenden). §
62 Abs.
2 Satz 2
SGB VII greift unter drei Voraussetzungen ein: Erstens darf der Träger das Recht auf die Rente bisher nur "vorläufig" anerkannt haben.
Zweitens muss er beabsichtigen, diese "vorläufige" Feststellung zu ändern und erstmals darüber zu entscheiden, ob dem Versicherten
der Rentenanspruch auf unbestimmte Zeit zusteht, was - wie bereits erwähnt - auch eine Rentenablehnung beinhalten kann. Drittens
muss er diese Verwaltungsakte dem Versicherten innerhalb des Zeitraums von drei Jahren seit dem Arbeitsunfall bekanntgeben.
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Im Ausgangsbescheid wurde die vorläufige Rente nicht wegen Wegfalls der rentenberechtigenden
MdE und nicht im Zusammenhang mit einer Entscheidung über eine Dauerrente entzogen. Eine solche Intention kann nur dem Widerspruchsbescheid
entnommen werden; dieser erging aber - wie bereits ausgeführt - nicht innerhalb des Drei-Jahres-Zeitraums.
Auch § 48 Abs. 1 SGB X kommt als Rechtsgrundlage der angefochtenen Bescheide nicht in Betracht, weil eine wesentliche Änderung der Verhältnisse
nicht nachgewiesen ist. Dies geht nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast
zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleitet (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 27.06.1991, 2 RU 31/90 in SozR 3-2200 § 548 Nr. 11), bei den Voraussetzungen für den Erlass eines belastenden Verwaltungsaktes also zu Lasten der
Behörde.
Nach § 48 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass
vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, mit Wirkung für die Zukunft (Satz 1) aufzuheben. Nach näherer Maßgabe
soll er auch mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse (Satz 2) aufgehoben werden.
Soweit der Ausgangsbescheid vom 01.06.2006 unter dem Blickwinkel eines Wegfalls des Stützrententatbestandes betrachtet wird,
wird § 48 SGB X zwar nicht von §
62 SGB VII verdrängt (s. hierzu BSG, Urteil vom 16.03.2010, aaO.), weil §
62 SGB VII allein Neufeststellungen der MdE betrifft. Indessen liegt dieser Wegfall des Stützrententatbestandes - wie bereits dargestellt
- und damit eine wesentliche Änderung i.S. § 48 SGB X nicht vor. Vielmehr wurde wegen der Folgen des Knalltraumas als weiterem Arbeitsunfall bestandskräftig eine (Stütz-)Rente
bewilligt.
Soweit dem gegenüber der Widerspruchsbescheid darauf abstellt, dass eine MdE um 10 v.H. nicht (mehr) vorliege und dies eine
wesentliche Änderung darstelle, liegt insoweit - entgegen der Annahme des Sozialgerichts - zwar vom Ansatz her ein zulässiger
Austausch der Begründung in Bezug auf den Ausgangsbescheid vor (s. auch die Gestaltungswirkung nach §
95 SGG). Nach Ablauf des Drei-Jahreszeitraumes wird § 48 SGB X auch nicht mehr von §
62 SGB VII verdrängt. Maßgebend wäre deshalb, ob tatsächlich eine wesentliche Änderung eintrat. Diese ist nicht schon deshalb zu bejahen,
weil die Beklagte nun gestützt auf das Gutachten von Prof. Dr. M. keine MdE um 10 v.H. mehr annimmt. Entscheidend ist vielmehr,
ob sich die für die Bemessung der MdE maßgebenden tatsächlichen Verhältnisse wesentlich geändert haben (s. hierzu §
73 Abs.
3 SGB VII: mehr als 5 v.H.). Davon kann sich der Senat jedoch nicht überzeugen. Denn das Vorliegen einer wesentlichen Änderung wurde
auf Nachfrage der Beklagten von Prof. Dr. M. trotz seiner von Prof. Dr. P. abweichenden Beurteilung der MdE ausdrücklich verneint.
Zwar konnte Prof. Dr. M. im September 2006 die von Prof. Dr. P. im August 2005 beschriebene "minimale" Bewegungseinschränkung
am rechten oberen Sprunggelenk nicht mehr bestätigen. Soweit er dennoch von keiner wesentlichen Änderung ausging, ist dies
für den Senat jedoch nachvollziehbar. Schon der Wechsel von einer "minimalen" zu keiner Bewegungseinschränkung lässt sich
schwerlich als wesentliche Änderung ansehen. Darüber hinaus ist zu beachten, dass als Folge der Achillessehnenruptur nicht
nur die Bewegungseinschränkung im oberen Sprunggelenk, sondern noch weitere Beschwerden zu würdigen waren. Insoweit bestätigte
Prof. Dr. M. als Unfallfolgen das bereits von Prof. Dr. P. beschriebene leichte Rechtshinken und die Unsicherheit beim Zehenspitzengang
rechts und beschrieb darüber hinaus intermittierende leichte Ruhe- und Belastungsschmerzen im Bereich der Achillessehne rechts,
einen Druckschmerz an der Achillessehne, intermittierend auftretende Schwellungen im Bereich der Achillessehne und eine pauschal
verminderte Belastbarkeit des rechten Fußes. Auch die Einnahme einer Hockstellung war dem Kläger eigenständig nicht möglich.
Angesichts dieser fortbestehenden Beschwerden kann der alleinige Wegfall der vormals beschriebenen "minimalen" Bewegungseinschränkung
nicht als wesentliche Änderung angesehen werden. Dagegen spricht auch, dass sich aus den von Prof. Dr. P. erhobenen Bewegungsmaßen
zwar eine unfallbedingte Minderung der Bewegungsfähigkeit beim Senken des oberen Sprunggelenks um 10° ergibt (50° rechts im
Vergleich zu 60° links), die Beweglichkeit beim Senken mit 50° jedoch noch im Normbereich (40°-50°) lag. Soweit Dr. M. im
Vergleich zu Prof. Dr. P. und Prof. Dr. M. andere und teils schlechtere Bewegungsmaße ermittelte, lässt sich auch aus diesen
Maßen im Vergleich der beiden Untersuchungen durch Dr. M. keine wesentliche Änderung zuungunsten des Klägers erkennen. Vielmehr
wurde nach seinen Messungen die Beweglichkeit beim Senken sogar schlechter (35° im November 2003, 30° im September 2006).
Bei einer somit nicht nachgewiesenen wesentlichen Änderung kann die angefochtene Entscheidung der Beklagten auch unter dem
Gesichtspunkt der Rücknahme eines (möglicherweise schon ursprünglich) rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes nach
§ 45 Abs. 1, 2 SGB X keinen Bestand haben. Nach dieser Regelung darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil
begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden
ist, nach näherer Maßgabe ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder Vergangenheit zurückgenommen werden. Im Ausgangsbescheid
vom 01.06.2006 wollte die Beklagte klar ersichtlich keine Entscheidung nach § 45 SGB X treffen, da sie zum Zeitpunkt seines Erlasses allein den nach der vorläufigen Rentenbewilligung vermeintlich (nachträglich)
eingetretenen Wegfall der Stützrente für maßgeblich hielt. Auch die Formulierung im Widerspruchsbescheid: "... dass Sie ...
nicht mehr in messbarem Grad von wenigstens 10 v.H. in Ihrer Erwerbsfähigkeit eingeschränkt sind" weist eher auf eine Entscheidung
nach § 48 Abs. 1 SGB X oder §
62 Abs.
2 SGB VII (dazu jeweils s.o.) als auf eine Entscheidung nach § 45 SGB X hin.
Eine Rücknahme nach § 45 Abs. 1, 2 SGB X setzt jedenfalls die Ausübung von Ermessen durch die Beklagte voraus (u.a. BSG, Urteil vom 21.06.2011, B 4 AS 21/10 R, juris Rdnr. 35; zur fehlenden Heilbarkeit eines Ermessensnichtgebrauchs im Rahmen des § 41 Abs. 2 SGB X: Urteil des Senats vom 22.02.2007, L 10 R 5254/05, juris). Eine solche Ermessensentscheidung wurde von der Beklagten aber nicht getroffen. Anhaltspunkte für eine Ermessensreduzierung
auf Null sind nicht gegeben (hierzu: Steinwedel in Kassler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, § 45 SGB X Rdnr. 58 ff.). Die fehlende Ermessensausübung macht die angefochtenen Bescheide auch bei Unterstellung einer ursprünglichen
Unrichtigkeit der vorläufigen Rentenbewilligung rechtswidrig. Damit war entgegen der Berufungsbegründung der Beklagten weder
das Sozialgericht noch der Senat gehalten, der Frage, ob Prof. Dr. P. mit seiner Einschätzung der MdE falsch lag, durch weitere
Ermittlungen nachzugehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.