Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Versorgung mit medizinischen Cannabisblüten in der gesetzlichen Krankenversicherung
im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes im sozialgerichtlichen Verfahren
Anforderungen an die begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes zur Nichtanwendbarkeit einer allgemein anerkannten,
dem medizinischen Standard entsprechenden Leistung – hier zur Schmerzbehandlung bzw. der Krankheit ADHS
Vorliegen einer Kontraindikation für eine Cannabistherapie bei einer Abhängigkeitserkrankung
Gründe
I.
Streitig ist die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Übernahme der Kosten für die Versorgung mit medizinischen
Cannabisblüten.
Der 1986 geborene und bei der Antragsgegnerin krankenversicherte Antragsteller leidet nach Angaben seines behandelnden Facharztes
für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. P. an einem chronischen Schmerzsyndrom, einer rezidivierenden depressiven Störung,
einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), Persönlichkeitsstörung sowie ADHS. Seit 01.06.2020 verfügt er über einen
Pflegegrad 1, vor allem begründet mit verbaler Aggression, Ängsten und Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage (Pflegegutachten
vom 13.07.2020) und basierend auf den pflegebegründenden Diagnosen Depressive Episode sowie Angststörung.
Am 20.04.2020 stellte er über seinen behandelnden Arzt Dr. P. einen Antrag auf Kostenübernahme von Cannabis-Arzneimitteln
nach §
31 Abs
6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V). In der ärztlichen Bescheinigung führte Dr. P. aus, zuletzt sei Oxycodon verordnet worden, außerdem erfolge derzeit eine
Psychotherapie (Verhaltenstherapie). Trotz einer adäquaten und intensiven Therapie sei bisher keine anhaltende Stabilisierung
erreicht worden. Bereits bei alltäglichen Belastungen sei eine rasche Überforderung mit nachfolgender Dekompensation zu erwarten.
Behandlungsziel sei einer Linderung der Symptome sowie Verbesserung der Lebensqualität. Die Erkrankung sei schwerwiegend,
es sei zum kompletten Verlust der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gekommen. Ohne eine ausreichende Therapie sei eine
zunehmende Verschlimmerung zu beobachten. Alle Standardtherapien seien bereits leitliniengerecht durchgeführt worden. Nach
dem (selbstfinanzierten) Konsum von Cannabisblüten habe der Antragsteller problemlos ein- und durchschlafen sowie in den Verhaltenstherapien
Ängste proaktiv besprechen und angehen können. Im Übrigen sei unverständlich, dass die Kosten beim Antragsteller abgelehnt,
bei anderen, weniger kranken Patienten aber übernommen würden.
Mit Bescheid vom 21.04.2020 lehnte die Antragsgegnerin die Kosten für Cannabisblüten ab mit der Begründung, wissenschaftlich
nachprüfbare Studien, die eine Wirksamkeit der beantragten Therapie bei der vorliegenden Erkrankung belegten, fehlten.
Nachdem der Antragsteller hiergegen Widerspruch eingelegt hatte, holte die Antragsgegnerin beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung
Baden-Württemberg (MDK) ein sozialmedizinisches Gutachten ein (Gutachten vom 06.05.2020), worin Dr. N. darlegte, dem Medikationskonto
der Kasse seien seit 2018 bis 3/2020 lediglich folgende Einträge zu entnehmen: 2018 1 x Amoxicillin, 3 x Novaminsulfon, 2019
1 x Novaminsulfon, 2020 1 x Tramadol. 2011 sei eine Orthese verordnet worden, ansonsten fänden sich keinerlei Einträge über
Physiotherapie, Psychotherapie, Krankenhausaufenthalte, Rehaaufenthalte etc. Fachärztliche Befunde über die angegebenen Diagnosen
fehlten. Diese ließen sich anhand des Leistungsauszugs der Kasse nicht bestätigen. Es werde nicht einmal angegeben, aus welcher
zugrundeliegenden pathologischen Veränderung die chronische Schmerzstörung beruhen solle. Insofern sei nicht von einer schwerwiegenden
Erkrankung iSd §
31 Abs
6 SGB V auszugehen. In Bezug auf eine chronische Schmerzstörung stünden Behandlungsalternativen zur Verfügung, abhängig von der Art
bzw Ursache des Schmerzes. Vorliegend sei bisher offensichtlich eine Bedarfsmedikation an Schmerzmitteln eingesetzt worden,
eine konsequente Behandlung sei nicht ersichtlich. Gleiches gelte für die Depression, da der Antragsteller bisher keinerlei
Psychopharmaka erhalten habe und auch hier etablierte Standardtherapien nicht ausgeschöpft seien. Die Erkrankung ADHS - falls
sie tatsächlich vorläge - sei bisher ebenso wenig wie die PTBS - die sich den Unterlagen im Übrigen nicht entnehmen lasse
- adäquat behandelt worden. Im Übrigen ergebe die Literaturrecherche, dass Cannabinoide lediglich bei chronischen Schmerzen
und PTBS, nicht aber bei Depressionen sowie ADHS die Erkrankung spürbar positiv beeinflussten. Im Ergebnis fehle es an einer
schwerwiegenden Erkrankung und stünden zahlreiche medikamentöse und nicht-medikamentöse Verfahren zu Behandlung zur Verfügung.
Mit weiterem Bescheid vom 20.05.2020 lehnte die Antragsgegnerin die Kostenübernahme für Dronabinol, Cannabisextrakt Tilray
unter Bezugnahme auf das Gutachten des MDK ab.
Der Antragsteller legte auch hiergegen Widerspruch ein und führte hierzu aus, er sei langjährig bei seiner Hausärztin Dr.
T.-B. in Behandlung. Er leide an einer chronischen Schmerzstörung, vor allem an Schultern und Händen. Dr. P. habe ihm auch
schon andere Schmerzmittel verschrieben, die aber zT erhebliche Nebenwirkungen gehabt hätten, und die Schmerzen seien dadurch
nicht besser geworden. Die positive Wirkung der cannabishaltigen Stoffe sei eindeutig und nachweislich festzustellen. Zur
Untermauerung seines Vortrags hat er eine weitere Stellungnahme des Dr. P. vom 22.06.2020 vorgelegt, wonach mehrfache medikamentöse
Therapieversuche erfolgt seien, nämlich mit Citalopram, Lorazepam, Trimipramin, Ibuprofen, Tramal, Oxycodon, Lesdexamfetamin,
Bupropion - jeweils in leitliniengerechter Dosierung und mit leitliniengerechter Anwendungsdauer, jedoch ohne ausreichende
Besserung der Symptomatik bzw mit Nebenwirkungen. Auch nichtmedikamentöse Therapieoptionen seien durchgeführt worden (Verhaltenstherapie).
Wegen der Schmerzen seien zudem Krankengymnastik und Analgetika verordnet worden, außerdem Tramadol, Tilidin, Ibuprofen, Novalgin,
Oxycodon. ADHS sei mit Stimulanzien behandelt worden. Es liege eine schwerwiegende Erkrankung vor, der Antragsteller sei verstärkt
auf Hilfen im Alltag angewiesen, er sei durchgehend arbeitsunfähig, die Erwerbsfähigkeit sei erheblich gefährdet bis aufgehoben.
Die Antragsgegnerin konsultierte daraufhin erneut den MDK, der im Bericht vom 06.07.2020 weitere Informationen für nötig erachtete
(insbesondere die Vorlage weiterer Behandlungsunterlagen, Facharztberichte, Krankenhausberichte, Rehabilitationsberichte)
und weitere Angaben durch Dr. P. zu den einzelnen Diagnosen und Therapien verlangte. Diesbezügliche Anfragen seitens der Antragsgegnerin
bei Dr. P. blieben bisher unbeantwortet. Ein Widerspruchsbescheid erging bis heute nicht.
Am 29.07.2020 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Mannheim (SG) einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt unter Wiederholung und Vertiefung seines Vorbringens aus
dem Widerspruchsverfahren und unter Bezugnahme auf die Stellungnahmen des Dr. P.. Ergänzend hat er dargelegt, seit ca Januar
2020 Cannabisprodukte konsumiert und sich dadurch besser gefühlt zu haben. Bis März 2020 sei er hierbei durch seine Eltern
finanziell unterstützt worden, doch sei dies nicht mehr möglich. Anschließend habe er sich nur noch kleinere Mengen leisten
können, und seit Juli 2020 könne er die Kosten als Alg-II-Bezieher nicht mehr aufbringen. Seit ein paar Wochen nehme er daher
kein Cannabis mehr und leide seitdem wieder unter stärkeren Schmerzen und unter Schlafstörungen.
Das SG hat die behandelnde Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. T.-B. als sachverständige Zeugin befragt, die in ihrem Schreiben aus
August 2020 die Anzahl der Behandlungen seit 2001 mitgeteilt (ua 2018: 6x, 2019: 1x, 2020 keine Behandlung) und ergänzt hat,
ab 2007 hätten die Schmerzen, vor allem an der Wirbelsäule, im Vordergrund gestanden. Bis 2019 seien weitere orthopädische
Erkrankungen hinzugekommen, es habe sich ein chronisches Schmerzsyndrom formiert. Zusätzlich seien psychische Erkrankungen
aufgetreten wie Anpassungsstörung, Depression und Suchtstoffabhängigkeit (wohl seit 2005) bei multiplem Substanzgebrauch.
Es seien mehrfach Überweisungen an Fachärzte ausgestellt worden. Beigefügt waren etliche Arztberichte älteren Datums (alle
älter als 2013), ua ein Bericht des Psychiatrischen Zentrums N. vom 21.03.2005 mit der Diagnose Psychische und Verhaltensstörungen
durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen, Abhängigkeitssyndrom, weiterhin ein Bericht des
Neurologen und Psychiaters Dr. J. vom 13.10.2008, worin dieser eine Polytoxikomanie, Teilabstinenz, Anpassungsstörung mit
depressiver Symptomatik sowie den Verdacht auf ADHS diagnostiziert und eine unzureichende Motivation des Antragstellers beschreibt.
Der ebenfalls befragte Dr. P. hat auf die Anfrage des SG nicht reagiert.
Nachdem das SG eine Leistungsauskunft bei der Antragsgegnerin eingeholt hatte, hat es den Antrag mit Beschluss vom 30.10.2020 abgelehnt
mit der Begründung, es fehle bereits an der notwendigen vertragsärztlichen Verordnung.
Gegen den seinem Bevollmächtigten am 05.11.2020 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 07.12.2020 (Montag) Beschwerde
beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingereicht mit der Begründung, das SG könne sich nicht lediglich auf formale Aspekte stützen, sondern müsse den Anspruch materiell-rechtlich prüfen. Im Übrigen
lägen private Rezepte vor und könne es nicht darauf ankommen, ob der behandelnde Arzt auf den Verordnungen "privat" oder "Krankenkasse"
als Kostenträger eingetragen habe. Mittlerweile habe Dr. P. eine weitere Verordnung ausgestellt, die den Vorgaben einer vertragsärztlichen
Verordnung entspreche (Verordnung vom 16.11.2020, Bl 22 LSG-Akte).
Gleichzeitig hat der Antragsteller die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt.
Der Antragsteller beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Mannheim vom 30.10.2020 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung
zur Kostenübernahme für Cannabisblüten und für das Arzneimittel Cannabisdronabinol / Tilrayextrakt zu verpflichten.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie hat ausgeführt, um einen Leistungsanspruch zu begründen, bedürfe es einer vertragsärztlichen Verordnung, die das zentrale
Element der Arzneimittelversorgung der Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung darstelle. Vorliegend erachte der
MDK die Vorlage weiterer Befunde und ärztlicher Unterlagen für notwendig, doch habe Dr. P. bisher keine weiteren Befundunterlagen
vorgelegt. Das anhängige Widerspruchsverfahren habe daher bisher nicht zu einem Abschluss geführt werden können.
Wegen der weiteren Einzelheiten sowie des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten erster und
zweiter Instanz samt darin enthaltener Auszüge aus den Verwaltungsakten verwiesen.
II.
Die Beschwerde des Antragstellers hat keinen Erfolg.
Der Senat entscheidet durch Beschluss (§
176 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Eine mündliche Verhandlung wird nicht für erforderlich gehalten (§§
153 Abs
1,
124 Abs
3 SGG). Die form- und fristgerecht (§
173 SGG) und auch ansonsten nach §
172 SGG statthafte Beschwerde ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet. Das SG hat den Antrag zu Recht abgelehnt. Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf Versorgung mit Cannabisblüten bzw Kostenübernahme
für einen bereits auf eigene Kosten erfolgtem Konsum.
Gemäß §
86 b Abs
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht,
dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich
erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind nach §
86 b Abs
2 Satz 2
SGG auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung
zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass
sowohl der Anordnungsgrund als auch der Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht worden sind (§
86 b Abs
2 Satz 4
SGG i.V.m. §§
290 Abs
2,
294 Abs
1 Zivilprozessordnung -
ZPO). Die Glaubhaftmachung begnügt sich bei der Ermittlung des Sachverhaltes als Gegensatz zum Vollbeweis mit einer überwiegenden
Wahrscheinlichkeit. Dagegen dürfen die Anforderungen an die Erkenntnis der Rechtslage, dh die Intensität der rechtlichen Prüfung,
grundsätzlich nicht herabgestuft werden. Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab für das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs ist
grundsätzlich das materielle Recht, das vollumfänglich zu prüfen ist. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes
schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr
zu beseitigen wären, und ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich,
so verlangt der Anspruch des Antragstellers auf effektiven Rechtsschutz eine Eilentscheidung anhand einer umfassenden Güter-
und Folgenabwägung (BVerfG 12.05.2005, 1 BvR 569/05, Breith 2005, 803-808).
Der Antragsteller hat weder einen Anspruch auf Kostenerstattung für bereits selbst besorgte Cannabinoide gem §
13 Abs
3 Satz 1
SGB V noch einen Anspruch auf Versorgung für die Zukunft (Sachleistung) glaubhaft gemacht. Für einen Anordnungsanspruch in Bezug
auf eine Kostenerstattung fehlt es schon an einer Bezifferung des Antrags.
Nach §
27 Abs
1 Satz 1
SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre
Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst gemäß §
27 Abs
1 Satz 2 Nr
3 SGB V auch die Versorgung mit Arzneimitteln (§
31 SGB V). Gemäß §
31 Abs
6 Satz 1
SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten
oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon,
wenn (1.) eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung (a) nicht zu Verfügung steht oder (b)
im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen
und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann und (2.) eine nicht ganz
entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome
besteht. Nach §
31 Abs
6 Satz 2
SGB V bedarf die Leistung bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen
abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist.
Ein Anspruch des Antragstellers auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter
Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon Cannabinoiden besteht derzeit nicht.
Der Senat lässt offen, ob der der Antragsteller an einer schwerwiegenden Erkrankung leidet. Nach Angaben des Dr. P., Facharzt
für Psychiatrie und Psychotherapie, in seiner ärztlichen Bescheinigung zur Verwendung von Cannabinoiden nach §
31 Abs
6 SGB V bestehen beim Antragsteller folgende Gesundheitsstörungen:
- chronisches Schmerzsyndrom (R52.2/M79.8G)
- rezidivierende depressive Störung (F33.2)
- posttraumatische Belastungsstörung (F43.1)
- Persönlichkeitsstörung (F60.31)
- ADHS (F90.0)
Jedenfalls hat der Senat nach dem Stand der bisherigen Ermittlungen Zweifel daran, dass keine andere Therapie zur Verfügung
steht bzw eine solche nicht zur Anwendung kommen kann. Wie der MDK im Gutachten vom 06.05.2020 nachvollziehbar ausgeführt
hat, hängt die Behandlung einer Schmerzerkrankung von der Schmerzart (nozizeptiver Schmerz, neuropathischer Schmerz, funktioneller
Schmerz) sowie der Schmerzursache ab. Zur Anwendung kommen je nach Schmerzart zB Nicht-Opioidanalgetika, niederpotente Opioidanalgetika,
hochpotente Opioidanalgetika, Antikonvulsiva, evtl Antidepressiva, lang wirksame Opioide, ggf Lidocain- oder Capsaicin-Pflaster,
außerdem physiotherapeutische und andere nicht-medikamentöse Maßnahmen. Ob und in welchem Umfang diese Maßnahmen vor Beginn
der Behandlung mit Cannabinoiden zur Anwendung kamen, lässt sich nach Aktenlage nicht beurteilen. Ausweislich der Entbindungserklärung
des Antragstellers vom 05.08.2020 hat dieser sich wohl erst Anfang des Jahres 2020 in Behandlung bei Dr. P. begeben - und
dieser hat offensichtlich sofort eine Behandlung mit Cannabinoiden begonnen. Dies ergibt sich aus auch den Angaben des Antragstellers
in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 27.07.2020 (Bl 37 SG-Akte). Vor diesem Zeitpunkt sind ausweislich des Leistungsverzeichnisses der Antragsgegnerin nur sehr vereinzelt Behandlungsversuche
unternommen worden, um die Beschwerden des Antragstellers zu lindern. Bei seiner Hausärztin Dr. T.-B. war Antragsteller ausweislich
der von ihr vorgelegten Karteikarte (vgl Bl 83 ff SG-Akte) in den Jahren 2014 bis 2017 kein einziges Mal zur Behandlung, in 2018 lediglich sechsmal (dabei lediglich am 03.12.2018
sowie 10.12.2018 Hinweise auf Schmerzen in Form von Cephalgie bzw Gelenk-, Schulter- und Fingergelenkschmerzen) und 2019 gar
nur einmal. Aktuelle Facharztberichte zu schmerztherapeutischen Behandlungen bzw zur Behandlung der sonstigen Beschwerden
des Antragstellers finden sich in den Akten nicht und wurden insbesondere nicht durch die behandelnde Hausärztin vorgelegt,
der nur Berichte aus der Zeit von 2013 und älter zur Verfügung standen. Zur Behandlung von Schmerzen findet sich vor 2020
in der Arzneimittelübersicht lediglich das Medikament Novaminsulfon (verordnet im September 2018, im Oktober 2018 und im November
2019), davor wurde zuletzt 2013 ein Schmerzmedikament (Novalgin Akut Brausetabletten im Februar 2013) verordnet. Sämtliche
weiteren Arzneimittel zur Schmerzbekämpfung wurden erst durch Dr. P. und auch erst im Laufe des Jahres 2020 verordnet (Oxycodon
im März und Mai 2020, Tramadol im Januar und Februar 2020) und damit offensichtlich parallel zur Cannabisbehandlung. Die Durchführung
von Krankengymnastik wird zwar vom Antragsteller behauptet, ergibt sich jedoch aus dem Leistungsverzeichnis nicht. Insofern
stehen hinsichtlich der Schmerzerkrankung noch weitere Therapiemöglichkeiten zur Verfügung.
Gleiches gilt für die Behandlung der PTBS. Diesbezüglich hat der MDK als Behandlungsoption die Abklärung des individuellen
Stabilisierungsbedarfs durch entsprechend qualifizierte ärztliche oder psychologische Psychotherapeuten empfohlen unter Einbeziehung
adjuvanter Pharmakotherapie, kunst- und gestaltungs-, ergo- sowie körpertherapeutischer Verfahren sowie Antidepressiva. Dass
diese Behandlung bisher erfolgt ist, ergibt sich aus den Akten nicht. Auch zur Behandlung der depressiven Erkrankung des Klägers
stehen nach den überzeugenden Angaben des MDK im genannten Gutachten umfangreiche Therapiemöglichkeiten zur Verfügung (ua
Psychotherapie, medikamentöse und psycho-soziale Therapie, Ergotherapie, Bewegungstherapie usw), während der Antragsteller
ausweislich des Leistungsverzeichnisses vor 2020 keinerlei Therapieoptionen ergriffen hat. Erst bei Dr. P. begann er nach
dessen Angaben mit einer Verhaltenstherapie.
In Bezug auf die Krankheit ADHS finden sich ebenfalls im Leistungsverzeichnis vor 2020 keinerlei Behandlungshinweise - erst
Dr. P. hat im Mai 2020 das Medikament Elvanse Adult verordnet und damit zu einem Zeitpunkt, zu dem der Antragsteller längst
mit der Einnahme von Cannabinoiden begonnen hatte. Insofern geht der Senat nach den bisherigen Erkenntnissen davon aus, dass
es zum Zeitpunkt der Beantragung der Cannabis-Behandlung noch umfangreiche Behandlungsalternativen gab.
Auch die Voraussetzungen des §
31 Abs
6 Satz 1 Nr
1 Buchst b)
SGB V, wonach ein Anspruch auf Versorgung mit Cannabinoiden auch besteht, wenn im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung
der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und
unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann, liegen nicht vor.
Die Ausführungen des Dr. P. in seiner ärztlichen Bescheinigung zur Verwendung von Cannabinoiden nach §
31 Abs.
6 SGB V enthalten eine solche begründete Einschätzung nicht. Unabhängig von einer gewissen Einschätzungsprärogative/Therapiehoheit
des behandelnden Vertragsarztes (vgl LSG Baden-Württemberg 19.09.2017, L 11 KR 3414/17 ER-B, Rn 26, juris; LSG Hamburg 02.04.2019, L 1 KR 16/19 B ER, Rn 14, juris; LSG Berlin-Brandenburg 27.05.2019, L 9 KR 72/19 B ER, Rn 7, juris; s auch BT-Drucks 18/10902 S 20) muss die ärztliche Einschätzung nach dem Gesetzeswortlaut die zu erwartenden
Nebenwirkungen der zur Verfügung stehenden allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen darstellen.
Ferner muss die Einschätzung den Krankheitszustand des Versicherten dokumentieren und eine Abwägung enthalten, mit der zum
Ausdruck gebracht wird, ob, inwieweit und warum eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
nicht zur Anwendung kommen kann. Schließlich muss die Einschätzung in sich schlüssig und nachvollziehbar sein; sie darf nicht
im Widerspruch zum Akteninhalt im Übrigen stehen (vgl LSG Nordrhein-Westfalen 25.02.2019, L 11 KR 240/18 B ER, Rn 69 ff, juris; LSG Schleswig-Holstein 26.06.2019, L 5 KR 71/19 B ER, Rn 17, juris; Beschluss des Senats vom 14.01.2021, L 11 KR 3898/20 ER-B).
Wie dargelegt, hat der Antragsteller erst parallel zum Cannabinoid-Konsum überhaupt mit weiteren Behandlungsformen seiner
Schmerzen bzw der Krankheit ADHS begonnen. Insofern kann nach Überzeugung des Senats noch in keiner Weise abgeschätzt werden,
welchen Erfolg diese alternativen Behandlungsformen bringen bzw ob sie verträglich sind oder nicht. Die Einschätzung des Dr.
P., alle Alternativbehandlungsmöglichkeiten seien erschöpft bzw erfolglos verlaufen, überzeugt den Senat daher nicht. Sein
Argument, es sei unverständlich, dass bei anderen, weniger kranken Patienten die Kosten übernommen würden, verfängt ebenfalls
nicht, da es vorliegend allein auf den Antragsteller und dessen Erkrankungen ankommt.
Der Senat ist im Übrigen der Auffassung, dass eine Kontraindikation für eine Cannabistherapie besteht, wenn beim Antragsteller
eine Abhängigkeitserkrankung bestünde. Zumindest bedarf es in diesem Fall einer begründeten und nachvollziehbaren therapeutischen
Entscheidung, weshalb ggf dennoch (und ohne, dass zuvor eine Entwöhnungsbehandlung stattgefunden hat) eine Behandlung mit
Cannabispräparaten sinnvoll erscheint. Die Abklärung einer solchen Kontraindikation muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten
bleiben (vgl Bayerisches LSG 07.11.2019, L 4 KR 397/19 B ER, Rn. 37, juris). Nach dem Ergebnis der bisher durchgeführten Beweiserhebungen besteht der dringende Verdacht, dass der
Antragsteller (auch) an einer Suchtmittelerkrankung leidet. Der Senat stützt sich insoweit auf die Ausführungen der Fachärztin
für Allgemeinmedizin Dr. T.-B. gegenüber dem SG (Bl 66 f der SG-Akte). Bei ihr war der Antragsteller von März 2001 bis November 2019 in Behandlung. Sie hat in ihrer schriftlichen Zeugenaussage
folgende Angaben zum Gesundheitszustand des Antragstellers im Jahr 2005 gemacht: Magenschmerzen, Rauschmittelgebrauch, stationäre
Einweisung ins PZN/ Entzug, familiäre Konflikte, nur zu ambulanter Behandlung bereit, Cephalgie, Erbrechen, Schmerzen, BWS
- Blockierung. Ferner hat sie zusammenfassend ausgeführt, die ersten Behandlungen seien wegen banaler Infekte erfolgt. Bei
Schmerzangaben habe schon immer die Intensität imponiert (zB bei Kopf, Gelenk- oder Magenschmerzen). Die Schmerzen, vor allem
an der Wirbelsäule, hätten ab 2007 sehr im Vordergrund gestanden. Im Februar 2013 sei der Antragsteller ein Schatten seiner
selbst gewesen. Bis 2019 seien weitere orthopädische Erkrankungen hinzugekommen, es habe sich ein chronisches Schmerzsyndrom
formiert. Zusätzlich seien psychische Erkrankungen hinzugekommen, wie Anpassungsstörung, Depression und Suchtstoffabhängigkeit
(wohl seit 2005) bei multiplem Substanzgebrauch. Bei dieser Sachlage scheidet der Erlass einer Regelungsanordnung, mit der
die Krankenkasse verpflichtet wird, einen Versicherten vorläufig mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten
in standardisierter Qualität oder mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon zu versorgen, aus.
Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) wird abgelehnt. Gemäß §
114 Abs
1 ZPO, der nach §
73 a Abs
1 Satz 1
SGG auch im sozialgerichtlichen Verfahren Anwendung findet, erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen
Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe,
wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig
erscheint. Wie oben dargelegt, fehlt es hier an der Erfolgsaussicht der Beschwerde.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Diese Entscheidung ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§
177 SGG).