Rechtmäßigkeit einer Aufforderung zur Antragstellung auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in der gesetzlichen Krankenversicherung
Anforderungen an die Ermessensausübung der Krankenkasse im Hinblick auf eine Fristsetzung von zehn Wochen
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen einen Bescheid der Beklagten, mit dem sie aufgefordert wurde, einen Antrag auf Rehabilitationsmaßnahmen
zu stellen.
Die 1951 geborene Klägerin ist bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich krankenversichert. Sie war zuletzt als Altenpflegerin
versicherungspflichtig beschäftigt. Ab dem 06.08.2012 wurde ihr vom behandelnden Arzt fortlaufend Arbeitsunfähigkeit (AU)
bescheinigt. Die erste AU-Bescheinigung enthält die Diagnose M99.93 (biomechanische Funktionsstörung, Lumbalbereich). Aufgrund
dieser AU erhielt sie von der Beklagten Krankengeld (Krg) ab dem 14.08.2012; das Krg wurde schließlich bis zum 01.01.2014
gezahlt.
Am 13.11.2012 erstellte der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) auf Veranlassung der Beklagten
ein Sozialmedizinisches Gutachten. Dieses Gutachten beruht auf der Auswertung medizinischer Befundberichte und einer ambulanten
Untersuchung der Klägerin am 12.11.2012. In diesem Gutachten wurde das Leistungsvermögen der Klägerin wie folgt beurteilt:
Aufgrund der psychopathologischen Befunde sei die weitere AU der Klägerin medizinisch begründet. Empfohlen werde die Vorstellung
der Klägerin in der Schmerzambulanz zB im Neurozentrum F.. Eine multimodale mehrdimensionale Schmerztherapie könne empfohlen
werden. Des Weiteren sei die Durchführung einer stationären psychosomatischen Rehabilitationsmaßnahme indiziert. Eine erhebliche
Gefährdung der Erwerbsfähigkeit lägen ebenso vor wie die Voraussetzungen für §
51 Abs
1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V). Aus medizinischer Sicht sei die Klägerin auf Zeit weiter arbeitsunfähig.
Mit einem mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Schreiben vom 19.11.2012 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass
nach einem der Beklagten vorliegenden Gutachten die Erwerbsfähigkeit der Klägerin zurzeit erheblich gefährdet oder gemindert
sei. Nach dem Gutachten sei eine Rehabilitationsmaßnahme zum jetzigen Zeitpunkt im Sinne der Klägerin und werde deshalb von
der Beklagten empfohlen. Ferner wird ausgeführt: "Des Weiteren ist es nach §
51 Abs
1 SGB V eine Aufgabe der Krankenkasse, dafür Sorge zu tragen, dass Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit nach ärztlichem Gutachten
erheblich gefährdet ist, innerhalb einer Frist von 10 Wochen einen Antrag auf Maßnahmen zur Rehabilitation stellen. Deshalb
bitten wir Sie, innerhalb der nächsten 10 Wochen einen solchen Antrag zu stellen, und zwar auch dann, wenn Maßnahmen zur Rehabilitation
zu Lasten des Rentenversicherungsträgers erst vor kurzer Zeit durchgeführt worden sind. Ein Antragsformular mit Zusatzfragebogen
fügen wir bei. ... Stellen Versicherte innerhalb der nach §
51 Abs
1 SGB V gesetzten Frist den Antrag nicht, entfällt der Anspruch auf Krankengeld gemäß §
51 Abs
3 SGB V mit Ablauf der Frist. Beachten Sie daher bitte, dass uns der Antrag bis spätestens am 31.01.2013 zugegangen sein muss, weil
wir sonst mit diesem Tag die Zahlung des Krankengeldes einstellen müssen." Wegen des weiteren Inhalts des Schreibens wird
auf Seite 32 f der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin, vertreten durch ihren damaligen Bevollmächtigten, am 30.11.2012 Widerspruch ein.
Sie machte geltend, die Aufforderung, einen Reha-Antrag zu stellen, setze die Ausübung von Ermessen voraus. Daran fehle es.
Bei dem Schreiben der Beklagten handele es sich bekanntermaßen um ein Standardschreiben. Daraufhin erläuterte die Beklagte
mit einem an den Bevollmächtigten gerichteten Schreiben vom 05.12.2012 ihren Standpunkt und führte aus, in Abwägung der Gesamtumstände
sei sie der Auffassung, dass eine psychosomatische Rehabilitationsmaßnahme ein geeignetes Mittel sei, die drohende Erwerbsminderung
abzuwenden. Der Widerspruchsausschuss der Beklagten hat den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19.06.2013 zurückgewiesen.
Darin wird ua ausgeführt, es liege im besonderen Interesse der Solidargemeinschaft, aber auch im Interesse der Klägerin, geeignete
Maßnahme zu ergreifen, um den Genesungsprozess zu fördern und ggf die Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen. Berechtigte Interesse
der Klägerin, denen bei der Ermessensausübung Ausschlag gebende Bedeutung beizumessen wäre, seien nicht ersichtlich.
Am 11.07.2013 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben (S 19 KR 3148/13). Im Hinblick auf zwei beim Bundessozialgericht (BSG) anhängige Revisionsverfahren hat das SG auf Antrag der Beteiligten mit Beschluss vom 12.06.2014 das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Am 12.11.2018 hat die Beklagte
das Klageverfahren wieder angerufen (S 11 KR 5371/18).
Mit Gerichtsbescheid vom 07.02.2020 hat das SG die Klage abgewiesen. Nach §
51 Abs
1 Satz 1
SGB V könne die Krankenkasse Versicherten, deren Erwerbsfähigkeit nach ärztlichem Gutachten erheblich gefährdet oder gemindert
sei, eine Frist von 10 Wochen setzen, innerhalb der sie einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder
zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen hätten. Diese Voraussetzungen seien im vorliegenden Fall erfüllt gewesen. Die Erwerbsfähigkeit
der Klägerin sei nach dem Gutachten des MDK vom 13.11.2012 gefährdet und die Durchführung einer Rehabilitationsleistung geboten
gewesen. Wie der Gebrauch des Wortes "kann" in §
51 Abs
1 Satz 1
SGB V zum Ausdruck bringe, stehe die auf diese Norm gestützte Aufforderung im Ermessen des Krankenversicherungsträgers. Eine Ermessensausübung
lasse der Bescheid vom 19.11.2012 zwar, worauf die Klägerin in der Widerspruchsbegründung zu Recht habe hinweisen lassen,
nicht erkennen. Von dem Ermessen sei jedoch im Widerspruchsbescheid in rechtlich nicht zu beanstandender Weise Gebrauch gemacht
worden. Zu Unrecht vertrete die Klägerin die Auffassung, die Beklagte sei nicht berechtigt gewesen, die Ermessensausübung
im Widerspruchsbescheid nachzuholen. Dabei verkenne sie §
95 Sozialgerichtsgesetz (
SGG). Nach §
95 SGG sei, wenn ein Vorverfahren stattgefunden habe, Gegenstand der Klage der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die
er durch den Widerspruchsbescheid gefunden habe. Daraus folge, dass ein Nachholen der Ermessensausübung oder ein Nachschieben
von Ermessenserwägungen im Widerspruchsverfahren unbeschränkt zulässig sei.
Gegen diesen Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 17.02.2020 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Berufung eingelegt.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 07.02.2020 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19.11.2012 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 19.06.2013 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält die Entscheidung des SG für zutreffend. Der Ausgangsbescheid vom 19.11.2012 werde nicht durch den Widerspruchsbescheid vom 19.06.2013 ersetzt, sondern
vielmehr ergänzt. Es sei auch nicht schädlich, dass die Frist bis zum 31.01.2013 bei Erlass des Widerspruchsbescheides bereits
verstrichen gewesen sei. Das Ermessen sei bereits bei Erlass des Bescheides vom 19.11.2012 ausgeübt worden. Lediglich die
Entscheidungsgründe seien erst im Widerspruchsbescheid mitgeteilt worden. Die Gründe hätten bereits bei Erlass des Bescheides
vom 19.11.2012 Bestand gehabt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster
und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin hat Erfolg.
Die gemäß §§
143,
144 SGG statthafte und gemäß §
151 Abs
1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung
entscheidet (§§
153 Abs
1,
124 Abs
2 SGG), ist zulässig und begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 19.11.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 19.06.2013 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Rechtsgrundlage für den Bescheid vom 19.11.2012 ist §
51 Abs
1 SGB V. Nach dieser Vorschrift kann die Krankenkasse Versicherten, deren Erwerbsfähigkeit nach ärztlichem Gutachten erheblich gefährdet
oder gemindert ist, eine Frist von zehn Wochen setzen, innerhalb der sie einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation
und zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen haben (§
51 Abs
1 SGB V). Die Berechtigung der Krankenkasse, Versicherte zur Stellung eines Reha-Antrages aufzufordern, dient dazu, mittels Leistungen
der medizinischen Rehabilitation die Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit zu beseitigen. Dies ist Ausdruck des allgemeinen
Grundsatzes, wonach die Leistungen zur Teilhabe Vorrang haben vor Rentenleistungen, die bei erfolgreichen Leistungen zur Teilhabe
nicht oder voraussichtlich erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind (BSG 16.12.2014, B 1 KR 31/13 R, BSGE 118, 40 = SozR 4-2500 § 51 Nr 3).
Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Norm liegen nach Ansicht des Senats vor, obwohl im Gutachten des MDK vom 13.11.2012
keine Angaben darüber gemacht werden, wie lange die erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit bei der Klägerin voraussichtlich
anhalten wird (vgl hierzu LSG Bayern 30.05.2017, L 20 KR 545/16). Auch das BSG verlangt, dass in dem Gutachten Angaben zu den Leistungseinschränkungen und ihrer voraussichtlichen Dauer gemacht werden
(vgl BSG 07.08.1991, 1/3 RK 26/90, BSGE 69, 187). Die Aussage in dem Gutachten, dass "auf Zeit weiter AU" bestehe, ließe sogar den Schluss zu, dass die erhebliche Gefährdung
der Erwerbsfähigkeit nur vorübergehend sein wird und deshalb nur von einer Akuterkrankung auszugehen wäre. Da die Klägerin
nach dem Gutachten aber an einer somatoformen Schmerzstörung bei therapieresistenten Lumbalgien leidet und zuletzt als Altenpflegerin
berufstätig war, dabei neben Heben und Tragen auch Arbeiten in Zwangshaltung der Wirbelsäule verrichten musste, geht der Senat
davon, dass die erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit damals auf nicht absehbare Zeit bestand. Ob die Erwerbsfähigkeit
von Versicherten erheblich gefährdet oder bereits gemindert ist, beurteilt sich auch bei der gemäß §
51 SGB V vorzunehmenden Prüfung an der letzten versicherungspflichtigen Tätigkeit (vgl BSG 12.03.2019, B 13 R 27/17 R, NJW 2019, 3332), hier also am Beruf der Altenpflegerin.
Die Beklagte hat jedoch im Bescheid vom 19.11.2012 von dem ihr zustehenden Ermessen keinen Gebrauch gemacht. Mit der Anordnung
von Ermessen ("kann") räumt das Gesetz der Krankenkasse in §
51 Abs
1 Satz 1
SGB V einen Entscheidungsspielraum ein, den die Gerichte dahingehend zu überprüfen haben, ob die Verwaltung die gesetzlichen Grenzen
des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch
gemacht hat (LSG Bayern 15.01.2019, L 5 KR 244/18). Hat die Krankenkasse ihr Ermessen gar nicht ausgeübt, ist die Aufforderung nach §
51 Abs
1 SGB V rechtswidrig. Ein solcher Fall liegt hier vor. Im Bescheid der Beklagten vom 19.11.2012 heißt es ua: "Des Weiteren ist es
nach §
51 Abs
1 SGB V eine Aufgabe der Krankenkasse, dafür Sorge zu tragen, dass Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit nach ärztlichem Gutachten
erheblich gefährdet oder gemindert ist, innerhalb einer Frist von 10 Wochen einen Antrag auf Maßnahmen der Rehabilitation
stellen. Deshalb bitten wir Sie, einen solchen Antrag innerhalb der nächsten 10 Wochen zu stellen, und zwar auch dann, wenn
Maßnahmen zur Rehabilitation zu Lasten des Rentenversicherungsträgers erst vor kurzer Zeit durchgeführt worden sind. Ein Antragsformular
mit Zusatzfragenbogen fügen wir bei." Mit diesen und den weiteren Ausführungen im Bescheid wird kein Ermessen ausgeübt. Es
wird im Gegenteil der Eindruck erweckt, als habe die Krankenkasse gar keine andere Wahl ("Aufgabe der Krankenkasse"), als
so zu handeln.
Bei einer nach §
51 Abs
1 SGB V ergangenen Aufforderung zur Stellung eines Reha-Antrages kann das Ermessen nicht nachgeholt werden. Zwar kommt die Nachholung
einer zunächst unterbliebenen Ausübung von Ermessen grundsätzlich in Betracht. Wird die im Ausgangsbescheid unterlassene Ermessensausübung
im Widerspruchsbescheid nachgeholt, so gilt der Bescheid seit dem Zeitpunkt seines Erlasses als mangelfrei. Dies kann aber
nicht gelten, wenn dadurch - wie hier - nachträglich eine bereits zeitlich überholte Fristsetzung gerechtfertigt werden soll.
Unerheblich ist, dass sich die Dauer der Frist bereits aus dem Gesetz selbst ergibt. Maßgebend ist, dass die Frist mit der
Aufforderung zur Stellung eines Reha-Antrages verknüpft ist. In einem solchen Fall ist für die Prüfung der Rechtmäßigkeit
des Verwaltungsakts nicht auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, sondern auf den Zeitpunkt des Erlasses des Ausgangsbescheides
abzustellen. Die Versicherten sollen prüfen können, ob sie der Aufforderung zur Stellung eines Reha-Antrages nachkommen müssen
oder ob sie aus ihrer subjektiven Sicht gute Gründe haben, der Aufforderung nicht nachzukommen und das Risiko eingehen, den
Anspruch auf Auszahlung von Krg zu verlieren (vgl BSG 19.08.2015, B 14 AS 1/15 R, BSGE 119, 271 zu einer ähnlichen Situation bei der Aufforderung nach § 5 Abs 3 Satz 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch, einen Antrag auf vorrangige
Leistungen bei einem anderen Leistungsträger zu stellen; ferner LSG Nordrhein-Westfalen 07.01.2013, L 11 KR 592/12 B ER, juris Rn 27). Zum Zeitpunkt der Entscheidung im Widerspruchsverfahren im Juni 2013 konnte nicht mehr erstmals unter
Ausübung von Ermessen begründet werden, weshalb im November 2012 zur Antragstellung (mit der Folge einer Handlungsfrist bis
zum 31.01.2013) aufgefordert wurde; schließlich war der Termin, auf den sich die Ermessensentscheidung (auch) bezieht, längst
verstrichen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.