LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.11.2012 - 6 U 2461/11
Anspruch auf Verletztenrente in der gesetzlichen Unfallversicherung; Erhöhung bei keinerlei Erwerbsfähigkeit
Dass ein Versicherter infolge eines Versicherungsfalls (hier Arbeitsunfall) einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen kann,
erfordert, dass keinerlei Erwerbstätigkeit mehr möglich ist; dafür ist selbst die volle Erwerbsminderung i.S.d. § 43 II 2 SGB VI nicht ausreichend.
Dass ein Versicherter infolge eines Versicherungsfalls (hier Arbeitsunfall) einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen kann,
erfordert, dass keinerlei Erwerbstätigkeit mehr möglich ist; dafür ist selbst die volle Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI nicht ausreichend. [Amtlich veröffentlichte Entscheidung]
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts U. vom 14. April 2011 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Entscheidungstext anzeigen:
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin infolge eines Arbeitsunfalls einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen
kann und deshalb einen Anspruch auf eine Rentenerhöhung hat.
Die 1945 geborene Klägerin erlitt am 12.06.2002 einen ersten Arbeitsunfall, als ihr ein Patient den linken Daumen umbog. In
der Folgezeit litt sie an Angst und depressiver Störung gemischt. Es bestand eint Tranquilizermissbrauch, als sie die Arbeit
bei Arbeitsplatzkonflikten wieder aufnahm. Der Sachverständige Prof. Dr. Dr. Dipl.-Ing. W. sah aufgrund der Konflikte am Arbeitsplatz
die dokumentierte psychische Symptomatik als nicht dem Arbeitsunfall 2002 zurechenbar an (dazu siehe unten). Ab Sommer 2004
konnte sie wieder vollschichtig arbeiten. In den frühen Morgenstunden des 24.11.2004 erlitt sie im Rahmen ihrer beruflichen
Tätigkeit als Krankenschwester im Psychiatrischen Krankenhaus Z. einen weiteren Arbeitsunfall, indem sie von einem Patienten,
den sie wegen unerlaubten Rauchens ermahnt hatte, auf brutalste Weise zusammengeschlagen wurde, der er ihren Kopf auf den
Fußboden schlug und auf sie eintrat. Die Klägerin wurde sodann in der Chirurgischen Klinik R. stationär behandelt. Diagnostiziert
wurden eine massive Gesichtsschädelprellung mit medialen Orbitarandfrakturen beidseits, eine Nasenbeinfraktur, eine Hämatosinus
sphenoidalis und eine Commotio cerebri (Arztbrief des Dr. B. vom 29.11.2004).
Am 22.09.2006 kam es durch die Doppelbilder zu einem Sturz der Klägerin beim Treppensteigen mit Verletzung des linken Arms
und Subluxation im Ellenbogengelenk mit verbleibender schmerzhafter Funktionseinschränkung, so dass unter Berücksichtigung
dieser weiteren Gesundheitsstörungen eine Berentung und die Einschätzung dieser mittelbaren Unfallfolgen mit einer MdE von
30 angenommen wurde (Gutachten von Dr. St., dazu siehe unten).
Die Beklagte holte diverse Gutachten ein. Prof. Dr. G., Leiter der Abteilung Augenheilkunde des Bundeswehrkrankenhauses U.,
beschrieb in seinem Gutachten vom 30.11.2006 als Unfallfolgen eine permanente Wahrnehmung von Doppelbildern beim beidäugigen
Sehen durch einen Tieferstand des rechten Auges, verstärkt durch die Schwäche des Muskulus obliquus inferior und des Muskulus
rectus superior rechts sowie des Muskulus rectus inferior links, eine unterschiedliche Pupillenweite, eine herabgesetzte Hornhautsensibilität
rechts, ein Überlastungsgefühl sowie gelegentliche Schmerzen der Augen und schätzte die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)
mit 30 vom Hundert (v. H.) ein. Ferner führte der Gutachter aus, die Klägerin sei seit dem Arbeitsunfall arbeitsunfähig. Die
Doppelbilder mit dem Verlust des räumlichen Sehens belasteten sie bereits im häuslichen Alltag sehr, so dass sie auf die Hilfe
ihres Ehegatten angewiesen sei. Derzeit sei eine Aussicht auf Besserung der Erwerbsfähigkeit durch eine Umstrukturierung des
Arbeitsplatzes oder eine Umschulungsmaßnahme nicht gegeben. Prof. Dr. Dr. W., Ärztlicher Direktor der Klinik für Mund-, Kiefer-
und Gesichtschirurgie, führte in seinem Gutachten vom 07.03.2007 aus, mit der Rekonstruktion der knöchernen Orbita seien die
Unfallfolgen auf mund-kiefer-gesichtschirurgischem Fachgebiet wiederhergestellt. Weitere Unfallfolgen auf diesem Fachgebiet
bestünden nicht. Aus mund-, kiefer- und gesichtschirurgischer Sicht bestehe keine MdE. Prof. Dr. Dr. Dipl.-Ing. W., Ärztlicher
Direktor der Klinik für Neurologie und Neurologische Rehabilitation im Bezirkskrankenhaus G., führte in seinem Gutachten vom
16.03.2007 aus, in den Monaten nach dem Arbeitsunfall sei es zu einer ausgeprägten depressiven Symptomatik mit Konzentrations-
und Antriebsstörungen, innerer Unruhe, sozialem Rückzug, Suizidgedanken und erheblichen Schlafstörungen gekommen. Dies sei
als Verschlechterung einer bereits vorbestehenden depressiven Entwicklung seit 2002 zu werten. Eine posttraumatische Belastungsstörung
liege nicht vor. Die Klägerin sei davon überzeugt, nie wieder arbeitsfähig zu werden. In seiner ergänzenden gutachtlichen
Stellungnahme vom 09.04.2007 führte Prof. Dr. Dr. Dipl.-Ing. W. aus, psychische Folgen des Arbeitsunfalles lägen nicht vor,
so dass über eine allenfalls vorübergehende Verschlimmerung hinaus psychoreaktive Folgen des Arbeitsunfalls auszuschließen
seien. Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt Dr. K. beschrieb in seinem Gutachten vom 19.07.2007 als Unfallfolgen eine Hörminderung im
Innenohrbereich sowie einen Tinnitus und schätzte die MdE mit 15 v. H. ein. Prof. Dr. G. beschrieb in seinem weiteren Gutachten
vom 12.01.2008 als Unfallfolgen am rechten Auge eine Hypotrophie mit Wahrnehmung von Doppelbildern im gesamten Blickfeld,
ein Hebungsdefizit durch Schwäche des Muskulus opliquus inferior und des Muskulus rectus superior, eine Anisokorie und eine
herabgesetzte Hornhautsensibilität sowie am linken Auge eine Anisokurie und schätzte die MdE mit 30 v. H. ein. Er führte ferner
aus, zur Verbesserung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin könnten keine Maßnahmen empfohlen werden. Durch Umschulung oder Wechsel
des Arbeitsplatzes bestehe keine Aussicht auf Verbesserung der Erwerbsfähigkeit. Prof. Dr. Dr. Dipl.-Ing. W. führte in seinem
weiteren Gutachten vom 06.08.2008 aus, angesichts der komplexen Vorgeschichte und des komplexen Verlaufs nach dem Arbeitsunfall
sei die Zuordnung zu unfallabhängigen und unfallunabhängigen Beschwerden einschließlich des Zeitverlaufs retrospektiv kaum
mehr mit der geforderten Wahrscheinlichkeit zu treffen. Im Sinne eines pragmatischen Vorgehens schlage er die Anerkennung
einer depressiven Anpassungsstörung auf dem Boden einer ausgeprägten psychischen Vorschädigung bis zum Ende des sechsten Monats
nach dem Arbeitsunfall mit einer MdE um 50 v. H., bis zum Ende des zwölften Monats nach dem Arbeitsunfall mit einer MdE um
30 v. H. und bis Juni 2006 mit einer MdE um 20 v. H. vor. Danach sei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen,
dass die dann noch bestehende Symptomatik als überwiegend unfallunabhängig der psychischen Vorschädigung zuzurechnen sei,
die sich dann offensichtlich verselbstständigt habe. Angesichts des Alters der Klägerin von nunmehr über 63 Jahren erachte
er eine Wiedereingliederung nicht für zielführend. Dr. St., Leitender Arzt der Abteilung Orthopädie und Unfallchirurgie des
Bundeswehrkrankenhauses U., beschrieb in seinem Gutachten vom 31.10.2008 als Unfallfolge eine aufgrund eines unfallbedingten
Folgeunfalls eingetretene Bewegungseinschränkung des linken Ellenbogengelenks und schätzte die MdE mit 30 v.H. ein. Er führte
ferner aus, in der Zusammenschau aller Unfallfolgen sei sicher eine dauernde Arbeitsunfähigkeit der Klägerin anzunehmen. Dr.
G. schätzte in der beratungsärztlichen Stellungnahme vom 04.11.2008 unter Zugrundelegung einer Einzel-MdE um 30 v. H. auf
augenärztlichem Fachgebiet, von 0 v. H. auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet, von 0 v. H. auf mund-kiefer-gesichtschirurgischem
Fachgebiet, von 15 v. H. auf hals-nasen-ohren-ärztlichem Fachgebiet, und von 30 v. H. auf chirurgischem Fachgebiet die Gesamt-MdE
mit 70 v. H. ein.
Mit Bescheid vom 18.11.2008 stellte die Beklagte als Unfallfolgen eine permanente Wahrnehmung von Doppelbildern bei beidäugigem
Sehen, einen Tieferstand des rechten Auges, eine Schwächung des Muskulus opliquus inferior und Muskulus rectus superior rechts
nach Augenhöhlenwandbrüchen beidseits und operativer Rekonstruktion der rechten Augenhöhle durch Einlage eines Medpore sheets,
folgenlos ausgeheilte Augapfelprellungen beidseits und eine Netzhauteinblutung des rechten Auges, eine Hörminderung beidseits
im Innenohrbereich und einen Tinnitus nach Schädelhirntrauma Grad I, einen Jochbeinbruch beidseits und einen folgenlos ausgeheilten
Nasenbeinbruch, eine Schädigung des linken Ellenbogengelenks mit Luxation/Subluxation des Radiusköpfchens und starker Bewegungseinschränkung,
einen Querbruch des Zahnes 14, folgenlos ausgeheilte multiple Prellungen im Bereich der Brust-, Hals- und Lendenwirbelsäule
sowie eine folgenlos ausgeheilte depressive Anpassungsstörung fest. Nicht als Unfallfolgen anerkannte die Beklagte eine Degeneration
der Supraspinatussehne links, eine Nickelallergie, eine Arthrose an mehreren Gelenken, Rückenschmerzen infolge einer Bandscheibendegeneration
und eines Zustandes nach Bandscheibenvorfall C4/C5 links sowie einer geringgradigen Bandscheibenprotrusion L4/L5, eine unterschiedliche
Pupillenweite beidseits, eine herabgesetzte Hornhautsensibilität rechts, ein Überlastungsgefühl und gelegentliche Schmerzen
der Augen beidseits, eine beidseitige Weitsichtigkeit, eine Stabsichtigkeit, eine Sikka-Symptomatik, eine Distichiasis, eine
Trichiasis, einen Arcus senilis sowie eine Chatarakta corticonuclearis senilis, eine okuläre Hypertension und einen Blepharospasmus
rechts mehr als links sowie eine Dermatoblepharochalasis beidseits, eine chronische Kieferhöhlenentzündung, eine Gallenblasenentfernung
und eine Hypercholesterinämie, ein gramnegatives, mikroaerophiles Stäbchenbakterium im Magen, Angst und Depression, eine Benzodiazepinabhängigkeit,
einen altersgemäßen Hochtonabfall beidseits sowie einen Zustand nach Verstauchung des linken Daumens mit Riss des ulnaren
Kolateralbandes. Die Beklagte gewährte eine Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE um 50 v. H. ab 24.05.2006, um 40 v.
H. ab 01.07.2006 und um 70 v. H. ab 22.09.2006 bis auf Weiteres. Der hiergegen am 01.12.2008 eingelegte Widerspruch wurde
nach Einholung der beratungsärztlichen Stellungnahme des Dr. G. vom 27.01.2009 mit Widerspruchsbescheid vom 18.02.2009 zurückgewiesen.
Hiergegen erhob die Klägerin am 03.03.2009 Klage beim Sozialgericht U. (S 2 U 781/09).
Ferner beantragte die Klägerin telefonisch am 02.04.2009 bei der Beklagten die Gewährung erhöhter Rente bei Schwerverletzten
nach Maßgabe des § 57 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch ( SGB VII). Daraufhin holte die Beklagte die Auskunft der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 05.06.2009 ein, wonach der Klägerin
ein Anspruch auf Alters- und Erwerbsminderungsrente nicht zustehe, da die hierfür erforderlichen versicherungsrechtlichen
Voraussetzungen nicht vorlägen. Ferner legte die Deutsche Rentenversicherung Bund mit Schreiben vom 23.06.2009 die Bescheide
vom 08.03.1990, 25.06.1990 und 29.05.2006 vor, wonach die Klägerin bis zum 30.06.2006 von der Versicherungspflicht befreit
worden war, und den Bescheid vom 29.08.2007 vor, wonach der Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung wegen
fehlender versicherungsrechtlicher Voraussetzungen abgelehnt worden war.
Das Sozialgericht hörte zunächst den Augenarzt Dr. Sch. unter dem 20.07.2009 sowie Prof. Dr. G. unter dem 13.08.2009 schriftlich
als sachverständige Zeugen und holte sodann von Amts wegen das Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. W. vom 29.12.2009
ein. Der Sachverständige führte aus, die Klägerin könne noch ihren Haushalt bewältigen und unterstütze ihren Ehemann, der
ein Basaliom rechts habe, bei der Körper- und Behandlungspflege. Die Stimmungslage bei regelrechter Auffassungsgabe und ungestörter
Aufmerksamkeit wie Konzentration sei mäßiggradig depressiv herabgestimmt. Die noch bestehende leicht- bis mittelgradige depressive
Episode könne nicht mehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall zurückgeführt werden. Daraufhin nahm die
Klägerin ihre Klage am 26.01.2010 zurück und hielt ihren gegenüber der Beklagten gestellten Antrag auf Gewährung erhöhter
Rente bei Schwerverletzten nach Maßgabe des § 57 SGB VII mit der Begründung aufrecht, infolge des Arbeitsunfalls einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen zu können.
Mit Bescheid vom 17.03.2010 lehnte die Beklagte den Antrag auf Gewährung erhöhter Rente bei Schwerverletzten nach Maßgabe
des § 57 SGB VII ab, nachdem sie zuvor die beratungsärztliche Stellungnahme des Dr. G. vom 27.10.2009 eingeholt hatte, wonach der Klägerin
eine Tätigkeit wie beispielsweise das Austeilen von Prospekten für einige Stunden täglich zumutbar sei. Die Beklagte führte
zur Begründung ihres Bescheides aus, ein Anspruch auf Rentenerhöhung bestehe nur, wenn die Klägerin auf Dauer überhaupt keiner
Erwerbstätigkeit mehr nachgehen könne. Dies bedeute eine dauerhafte Unfähigkeit, durch eine berufliche Tätigkeit Arbeitsentgelt
oder Arbeitseinkommen zu erzielen. Das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben müsse unfallbedingt endgültig und vollständig erfolgt
sein. Die Unfähigkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, sei nicht gleichbedeutend mit dem Begriff der vollen Erwerbsminderung
in der gesetzlichen Rentenversicherung, was bedeute, dass auch eine sehr geringfügige Tätigkeit als "erwerbstätig" im Sinne
des § 57 SGB VII angesehen werde. Auch wenn die Wiederaufnahme einer Tätigkeit als Krankenschwester unmöglich sei, sei es der Klägerin möglich,
einer geringfügigen Tätigkeit ohne hohe Anforderungen, beispielsweise in einer Werkstatt für behinderte Menschen nachzugehen.
Hiergegen legte die Klägerin am 31.03.2010 Widerspruch ein. Sie führte aus, sie sei nicht mehr in der Lage, einen Arbeitsplatz
aufzusuchen, da für sie keine realistische Möglichkeit bestehe, den Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstelle zurückzulegen.
Sie wies dabei auf eine posttraumatische Belastungsstörung hin. Auf Anfrage der Beklagten teilte der Augenarzt Dr. H. mit,
von Seiten seines Fachgebietes liege keine vollständige Erwerbsunfähigkeit vor. Sodann holte die Beklagte die Stellungnahme
des Dr. W. vom 14.05.2010 ein. Dieser führte aus, unter Berücksichtigung der in seinem Gutachten erhobenen Befunde lägen auf
seinem Fachgebiet zumindest seit Anfang 2007 keine unfallbedingten Gesundheitsstörungen mehr vor, woraus sich zwangsläufig
ergebe, dass ein etwaiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben von Seiten seines Fachgebietes nicht unfallbedingt sein könne.
Darüber hinaus ließen der Untersuchungsbefund und die Aktenlage nicht annehmen, dass es der Klägerin nicht zumindest für das
Jahr 2006 noch möglich gewesen wäre, einfache Tätigkeiten im häuslichen Umfeld oder im Rahmen einer Werkstatt für behinderte
Menschen eine Stunde bis zwei Stunden werktäglich zu verrichten. Dr. W. wies ferner darauf hin, dass die Klägerin angegeben
habe, täglich eine Stunde die Körper- und Behandlungspflege bei ihrem Ehegatten und tagsüber die Hausarbeit zu verrichten.
Mit Widerspruchsbescheid vom 21.06.2010 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sie stützte sich dabei auf die Ausführungen
der Dres. H. sowie W. und führte ergänzend aus, eine ärztlich nachgewiesene Verkehrsuntüchtigkeit zur Nutzung öffentlicher
Verkehrsmittel bestehe nicht.
Hiergegen hat die Klägerin am 12.07.2010 Klage beim Sozialgericht erhoben, zu deren Begründung sie vorgetragen hat, sie leide
an psychischen Angstzuständen, die ihr das Verlassen der gewohnten Umgebung ohne Begleitung einer Vertrauensperson unmöglich
mache.
Das Sozialgericht hat auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz ( SGG) das Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. K. vom 23.02.2011 eingeholt. Der Sachverständige ist zu der Einschätzung
gelangt, die unfallbedingt an einer anhaltenden Depression mit Angst gemischt leidende Klägerin könne aus nervenärztlicher
Sicht noch einer Erwerbstätigkeit ab Abschluss der Psychotherapie durch Dr. B. Ende 2006 nachgehen. Allerdings schränke die
Angststörung Arbeiten außerhalb des gewohnten Umfeldes, insbesondere im Kontakt mit Menschen, erheblich ein. Arbeiten, die
ohne besonderen Zeitdruck möglich seien, auch ohne das Erfordernis, betriebsunübliche Pausen einzuhalten, die alleine ohne
Anforderung an Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit oder räumliches Sehen ausgeführt werden könnten, seien zwischen drei und
vier Stunden täglich möglich. Durch das Doppelsehen im Gebrauchsblickfeld und die nicht tolerierte Occlusion sei die Fahrtüchtigkeit
wahrscheinlich nicht gegeben. Die Klägerin verfüge über einen strukturierten Tagesablauf, könne ihren Haushalt (eigenes Haus
mit Garten) noch selbst versorgen und werde nervenärztlich nicht betreut. Sie sei subdepressiv ohne Hinweise auf eine schwere
Psychose oder neurotische Störung.
Mit Urteil vom 14.04.2011 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat sich dabei auf die Ausführungen von Prof. Dr.
Dr. Dipl.-Ing. W. sowie Dr. W. gestützt, wonach keine wesentlichen Unfallfolgen mehr bestünden, und dargelegt, dass auch mit
dem von Dr. K. beschriebenen Leistungsvermögen nur eine teilweise Erwerbsminderung vorliege und ebenso keine Anhaltspunkte
für eine Wegeunfähigkeit der Klägerin vorlägen. Über die Erhöhung der MdE aufgrund weiterer möglicher Unfallfolgen sei nicht
zu entscheiden.
Gegen das Urteil des Sozialgerichts hat die Klägerin am 12.05.2011 Berufung eingelegt. Sie vertritt weiterhin die Ansicht,
keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgegen zu können. Daraus, dass sie nur einmal täglich die Kopfhaut ihres nicht pflegebedürftigen
Ehegatten eincreme, könne nicht auf eine Erwerbsfähigkeit geschlossen werden. Sie könne weder arbeiten noch eine Arbeitsstelle
aufsuchen. Sie führt ferner aus, ihr Alter sei kein Ausschlussgrund für die begehrte Erhöhung der Verletztenrente. Sie sei
weiterhin nicht in der Lage, das Haus alleine zu verlassen. Soweit sie in geringem Umfang ihren Haushalt selbst führe, sei
hieraus noch lange nicht zu schließen, dass sie einer irgendwie gearteten Erwerbstätigkeit nachgehen könne.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts U. vom 14. April 2011 und den Bescheid der Beklagten vom 17. März 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 21. Juni 2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr erhöhte Rente bei Schwerverletzten zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hat ergänzend ausgeführt, die Beurteilung müsse vorliegend nur isoliert anhand der anerkannten Unfallfolgen und
unter Außerachtlassung der unfallunabhängigen Gesundheitsstörungen erfolgen. Es sei daher zu berücksichtigen, dass die unfallbedingt
erlittene depressive Anpassungsstörung folgenlos ausgeheilt sei. Die Klägerin habe zuletzt dem nervenärztlichen Sachverständigen
gegenüber umfangreiche Hausarbeiten eingeräumt, so dass ihre Aussage, sie könne keinerlei Erwerbstätigkeit mehr nachgehen
und creme ihrem Mann nur die Kopfhaut ein, nicht überzeuge. Zudem müsse davon ausgegangen werden, dass die Klägerin zwischenzeitlich
bereits altersbedingt und damit unfallunabhängig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sei. Somit sei ihr das Erwerbsleben bereits
aufgrund ihres Lebensalters und nicht rechtlich wesentlich wegen der anerkannten Unfallfolgen verschlossen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten
der Beklagten, der Gerichtsakten beider Instanzen sowie die im Übrigen beigezogenen Akten, wie die unter dem Aktenzeichen
S 2 U 781/09 geführten Akte des Sozialgerichts, die vom Landratsamt Biberach geführte Schwerbehindertenakte, den medizinischen Teil der
von der Agentur für Arbeit Ravensburg geführten Akte, die von der Deutschen Rentenversicherung Bund geführte Akte und den
medizinischen Teil der von der ERGO Versicherung AG geführten Akte verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte sowie nach § 151 SGG zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Gewährung erhöhter Rente bei Schwerverletzten.
Rechtsgrundlage hierfür ist § 57 SGB VII. Danach erhöht sich die (Verletzten-)Rente um 10 v. H., wenn Versicherte mit Anspruch auf eine (Verletzten-)Rente nach einer
MdE von 50 v. H. oder mehr oder auf mehrere Renten, deren Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 50 erreichen (Schwerverletzte),
infolge des Versicherungsfalls einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen können und keinen Anspruch auf Rente aus der gesetzlichen
Rentenversicherung haben.
Diese Voraussetzungen sind nur insofern erfüllt, als die Klägerin aufgrund eines Arbeitsunfalls Anspruch auf eine Verletztenrente
nach einer MdE von mehr als 50 v. H. und keinen Anspruch auf eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung hat. Dass
die Klägerin indessen "infolge des Versicherungsfalls einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen kann", kann jedoch, wie
das Sozialgericht zu Recht entschieden hat, entgegen dem Vorbringen der Klägerin in Auswertung der zahlreichen Sachverständigengutachten
- insbesondere von Dr. W. - nicht angenommen werden.
Denn § 57 SGB VII soll nur bei - voraussichtlich - dauernder Unfähigkeit des Versicherten, erwerbstätig zu sein, also wenn sein Erwerbsleben
beendet ist, einen Ausgleich für die fehlende Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung schaffen.
Diese Auslegung der Vorschrift ergibt sich aus den Gesetzgebungsmotiven (zur Vorgängervorschrift § 582 Reichsversicherungsordnung [RVO]: BSG, Urteil vom 26.07.1973 - 8/2 RU 10/70 - BSGE 36, 96, SozR Nr. 1 zu § 582 RVO unter Verweis auf BSG, Urteil vom 27.08.1969 - 2 RU 195/66 - BSGE 30, 64, SozR Nr. 5 zu § 587 RVO; so auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 02.07.2008 - L 17 U 264/05; BSG, Urteil vom 13.06.1989 - 2 RU 49/88; ebenso Burchardt in Becker/Burchardt/Krasney/Kruschinsky, SGB VII, § 57, Rz. 13; Kranig in Hauck/Noftz, SGB VII, § 57 Rz. 7; Mehrtens in Bereiter-Hahn/Mehrtens, SGB VII, § 57 Rz. 5; Ricke in Kasseler Kommentar, SGB VII, § 57 Rz. 4). Der Gesetzgeber ging bei der Einführung des § 582 RVO davon aus, dass auch Schwerverletzte vielfach wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen und dann keiner höheren Entschädigung
bedürfen. Anders lägen die Verhältnisse, wenn infolge des Unfalls keine Erwerbstätigkeit mehr ausgeübt werden könne. Gehöre
der Verletzte der Rentenversicherung an, werde er von dort die Erwerbsunfähigkeitsrente erhalten. Habe er keinen Anspruch
auf diese Rente, etwa weil er bereits vor dem Eintritt in die Rentenversicherung verunglückt sei oder ihr als Selbstständiger
nicht angehört habe, schaffe § 582 RVO einen gewissen Ausgleich (Schriftlicher Bericht des Bundestagsausschusses für Sozialpolitik in BT-Drucks. IV/938 [neu] S.
13 zu § 581a). Die Regelung des § 582 RVO sollte also nach dem Willen des Gesetzgebers erst dann greifen, wenn infolge des Arbeitsunfalls "keine Erwerbstätigkeit"
mehr ausgeübt werden konnte.
Von diesen anhand der wortgleichen Vorläufervorschrift in § 582 RVO entwickelten Grundlagen ist auch bei der Auslegung des heutigen § 57 SGB VII auszugehen. Hätte der Gesetzgeber auf die Erwerbsminderung im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung abstellen wollen,
hätte er dies durch einen schlichten Verweis auf die entsprechenden Vorschriften des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch ( SGB VI) bewirken können. Dies hat er jedoch nicht getan. Von daher muss der Wendung "einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen
zu können" eine eigenständige Bedeutung zugeordnet werden, zumal die Regelung gerade auf solche Personen abzielt, die nicht
in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert sind und keine Ansprüche auf eine Rente aus ihr haben, wie dies typischerweise
bei vielen Selbstständigen der Fall ist (BSG, Urteil vom 27.10.2009 - B 2 U 30/08 R - SozR 4-2700 § 57 Nr. 1).
Angesichts dessen kann auf die Regelungen in § 43 SGB VI über die Erwerbsminderung in der gesetzlichen Rentenversicherung, insbesondere auch auf die Rechtsprechung zur Verschlossenheit
des Teilzeitarbeitsmarktes, nicht abgestellt werden. Vielmehr zeigen die Vorschriften in § 96a SGB VI über den Hinzuverdienst in der gesetzlichen Rentenversicherung, dass eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach
dem SGB VI nicht erfordert, dass der Versicherte "einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen kann" (BSG, Urteil vom 27.10.2009 - B 2 U 30/08 R - SozR 4-2700 § 57 Nr. 1).
Hierfür sprechen zudem systematische Gründe in Abgrenzung der hier umstrittenen Erhöhung der Rente bei Schwerverletzten nach
§ 57 SGB VII mangels Erwerbsfähigkeit zu der ebenfalls möglichen Erhöhung der Rente bei Arbeitslosigkeit nach § 58 SGB VII. Denn wer im Gegensatz zu der Definition der vollen Erwerbsminderung in der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI ("außerstande, mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein") in der Lage ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter
den üblichen Bedingungen mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein, ist nach § 8 Zweites Buch Sozialgesetzbuch
in der Grundsicherung für Arbeitsuchende erwerbsfähig und, sofern er nicht eine mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende
Beschäftigung ausübt, auch gemäß § 138 Abs. 5 Nr. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch für die Vermittlungsbemühungen der Agentur
für Arbeit verfügbar im Sinne des Arbeitsförderungsrechts (BSG, Urteil vom 27.10.2009 - B 2 U 30/08 R - SozR 4-2700 § 57 Nr. 1).
Mithin besteht ein Anspruch nach § 57 SGB VII nur dann, wenn der Versicherte keinerlei Erwerbstätigkeit mehr ausüben kann, und steht einem Anspruch nach § 57 SGB VII entgegen, wenn zumindest stundenweise - auch in Hausarbeit - noch eine Erwerbstätigkeit verrichtet werden kann. Dass vorliegend
die Folgen des Versicherungsfalls die Klägerin nicht daran hindern, einer Erwerbstätigkeit nachgehen können, ergibt sich aus
den aktenkundigen Gutachten.
Dabei sind zunächst nur die mit Bescheid vom 18.11.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.02.2009 bestandskräftig
festgestellten Unfallfolgen zu berücksichtigen, mithin also gerade nicht die von Dr. K. in seinem Gutachten beschriebene Angststörung.
Denn mit dem bestandskräftigen (§ 77 SGG) Bescheid vom 18.11.2008 stellte die Beklagte auf psychiatrischem Fachgebiet als Unfallfolgen lediglich eine "folgenlos ausgeheilte
depressive Anpassungsstörung" fest und berücksichtigte ausdrücklich nicht als Unfallfolgen "Angst und Depression". Auch Dr.
K. hat seine Bewertung der quantitativen und qualitativen Leistungseinschränkungen gerade auf die nicht als Unfallfolge festgestellte
Angststörung gestützt. Selbst wenn man also das von Dr. K. eingeschätzte Restleistungsvermögen der Klägerin für die Annahme
einer Unfähigkeit, einer Erwerbstätigkeit nachgehen können, genügen lassen würde, so wären hierfür die anerkannten Unfallfolgen
jedenfalls nicht wesentlich ursächlich. Dies gilt auch für die von Dr. W. und Dr. K. diagnostizierte depressive Symptomatik,
zumal Dr. W. überzeugend dargelegt hat, dass diese jedenfalls ab 2007 nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis
zurückgeführt werden kann.
Doch auch das von Dr. W. (einfache Tätigkeiten im häuslichen Umfeld oder im Rahmen einer Werkstatt für behinderte Menschen
eine Stunde bis zwei Stunden werktäglich) und Dr. K. (Arbeiten ohne besonderen Zeitdruck, ohne das Erfordernis betriebsunüblicher
Pausen ohne Anforderung an Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit oder räumliches Sehen zwischen drei und vier Stunden täglich)
angegebene Restleistungsvermögen der Klägerin rechtfertigt nicht die Gewährung erhöhter Rente bei Schwerverletzten nach §
57 SGB VII, da es sich dabei - wie oben dargelegt - nicht um den Ausschluss jeglicher Erwerbstätigkeit handelt. Diese Einschätzung war
für den Senat in Anbetracht des Umstandes, dass die Klägerin durchaus das Haus zu verlassen vermag um Ärzte und Gutachter
aufzusuchen, ihren Haushalt selbständig - wenn auch mit Pausen - zu bewältigen vermag und sogar noch ihren Ehemann bei der
Körperpflege unterstützt, überzeugend.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG bestand kein Anlass.
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