LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.01.2015 - 6 VG 4102/13
Kein Anspruch auf Gewährung einer Entschädigung nach dem OEG nach einer exhibitionistischen Handlung; Keine Glaubhaftmachung eines tätlichen Angriffs aufgrund einer Erinnerung nach längerem
Zeitablauf
Allein eine exhibitionistische Handlung ist kein tätlicher Angriff, da bereits die unmittelbar auf den Körper eines anderen
zielende gewaltsame Einwirkung fehlt. Eine authentischere Erinnerung nach längerem Zeitablauf ist nicht plausibel, die intensive
Beschäftigung mit dem weit zurückliegenden Geschehen birgt vielmehr die Gefahr von Pseudoerinnerungen.
Normenkette: KOVVfG § 15 S. 1
,
Vorinstanzen: SG Reutlingen 20.08.2013 S 12 VG 196/12
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 20. August 2013 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Entscheidungstext anzeigen:
Tatbestand
Bei der am 05.06.1978 geborenen Klägerin besteht eine schizotypen Persönlichkeitsstörung (Gutachten Prof. Dr. W., Bl. 121/162
SG-Akte). Früher litt sie unter Anorexie (Arztbrief Arzt für Psychotherapie Dr. A., Bl. 22 OEG-Akte) mit einem Gewicht von (nach eigenen Angaben) zuletzt 34/35 kg bei einer Größe von 1,60 m (Entlassbericht M. S. Klinik,
Bl. 139 SchwbAkte) und unter Kleptomanie (Gutachten Prof. Dr. W.). Bei der Klägerin ist ein Grad der Behinderung (GdB) von
70 mit einem Teil-GdB von 70 für Persönlichkeitsstörung, seelische Störung, Somatisierungsstörung seit 22.03.2010 festgestellt
sowie ein GdB von 50 rückwirkend ab 01.03.1998 (Bl. 99 SchwbAkte).
Die Klägerin hat nach dem Realabschluss (nach eigenen Angaben mit einem Notendurchschnitt von 1,7 vgl. Gutachten Prof. Dr.
W.) von 1999 bis 2002 eine Ausbildung zur Kinderpflegerin und von 2007 bis 2010 eine Umschulung im Berufsförderungswerk E.
zur Pharmazeutisch-Technischen Assistentin (PTA) gemacht. Von 2004 bis 2007 arbeitete sie im B. mit schwer geistig behinderten
verhaltensgestörten Erwachsenen. Dort wurde sie 2006 von einem Bewohner angegriffen. Ihre letzte Erwerbstätigkeit endete Mitte
September 2012.
Im Dezember 2007 hatte die Klägerin während der Umschulungsmaßnahme eigenen Angaben zufolge ein besonderes Erlebnis, indem
sie sich im Spiegel selbst erkannt und ein Stück Identität erlebt habe. Sie beschloss daraufhin, ihr "Innerstes aufzuräumen"
(Gutachten Dr. C. Bl. 19 Ermittlungsakte; Gutachten Prof. Dr. W.). Sie zeigte bei der Polizei zahlreiche von ihr begangene
Diebstähle und Unterschlagungen aus den Jahren 1998 bis 2002 an und nahm zwischen Mai und Dezember 2008 mehrere von ihr gewünschte
"Anhörungstermine" bei der Polizei wahr, um sich "freizusprechen" (StA-Akte Bl. 14). Parallel schickte sie Entschuldigungsbriefe
mit Geld und Päckchen mit Geschenken, insbesondere Engel aus Keramik, an die von ihr Geschädigten, aber auch Briefe und Geschenke
an sonstige Bezugspersonen wie Nachbarn (Vernehmungsprotokoll Maria Z., Bl. 118 StA-Akte). Sie gab weitere Selbstbezichtigungsschreiben
bei der Polizei ab, u. a. habe sie Kleinbatterien und Bioabfall über den Hausmüll entsorgt, eine Autobatterie trotz bezahlter
Rücknahmegarantie am Buswartehäuschen einer Klinik abgestellt, Hausmüll in einen öffentlichen Abfallbehälter entsorgt und
einen alten Tondachziegel und Unkraut in den R. geworfen (Bl. 31 StA-Akte). Das gegen sie geführte Ermittlungsverfahren wurde
am 06.08.2008 nach § 153a Strafprozessordnung ( StPO) eingestellt. Aus einem Brief der Klägerin an die Polizei vom 10.11.2008 (Bl. 77 StA-Akte) ergab sich nach dortiger Bewertung
der Anfangsverdacht von Sexualstraftaten zu ihren Lasten. Der Brief hat (auszugsweise ) folgenden Wortlaut:
"Ich war verletzt, aber meine Elendsgeschichte hat ihre Wurzeln in früher Kindheit. In der Vergangenheit hätte ich Anzeige
erstatten müssen. Ich hatte nicht den Mut dazu, etwas zu sagen, in mir arbeiteten die Gefühle." ... "Heute Abend habe ich
Schmerzen, wenn ich zurückdenke. Dieser Mann hat mich angelogen und seitdem habe ich den Glauben an das Gute verloren und
kann nicht mehr vertrauen. Es war immer ekelhaft, wenn ich an Ereignisse mit Männern zurückdenke, Gott ist mein Zeuge. Ich
war ein stummes Kind, denn ich war nicht in der Lage, zu schreien, wenn es wichtig gewesen wäre. In unangemessenen Situationen
habe ich evtl. laut gesprochen. Aber ich war mehrmals unfähig (wie gelähmt), mich gegenüber Männern, die mich belästigten
bzw. missbrauchten, zur Wehr zu setzen. Momentan kann ich diese Gefühle noch nicht vollständig zulassen. Gott ist mein Zeuge,
es war ein Vergehen an einem kranken, psychisch kranken Kind."
Bei der anschließenden polizeilichen Befragung konnte die Klägerin nach Angaben des vernehmenden Polizeibeamten selbst keine
Sätze formulieren. Dies geschah in ihrem Beisein mit ihrem Einverständnis durch den Polizeibeamten, der angab, sie "kippe
total zusammen", wenn sie über die Angelegenheit spreche (Bl. 18 StA-Akte). Nach dem Vernehmungsprotokoll, das der Polizeibeamte
formulierte (ausdrücklicher Hinweis auf Bl. 86 StA-Akte), berichtete die Klägerin einen Vorfall im Alter von 14/15 Jahren,
als der damals ca. 70 Jahre alte, ca. 2003 verstorbene E. N. (im Folgenden: N.) ihr in seinem Haus ein T-Shirt seiner verstorbenen
Frau geschenkt und gesagt habe, sie könne dies gleich dort in der Küche anprobieren. Sie habe nicht widersprechen wollen.
Es sei ein schlimmer Moment für sie gewesen.. Ein weiterer Vorfall im Herbst/Winter, nicht im selben Jahr, habe sich auf der
Promenade ereignet. N. habe sich vor ihr "erigiert". Sie wisse nicht, ob sie irgendwohin habe fassen müssen. Sie habe viel
verdrängt. Das Ganze habe sich über eine Viertelstunde erstreckt. In den Jahren 2001 bis 2003 im Sommer sei etwas vorgefallen.
Sie habe zur Aushilfe als Zimmermädchen in der Gaststätte "Z. V. A." gearbeitet, dabei im Dachgeschoss Bettwäsche abziehen
und Zimmer sauber machen müssen. Sie sei damals 24/25 Jahre alt gewesen. Der Hotelier, Herr S. (im Folgenden S.) sei ins Zimmer
gekommen, habe mit ihr gesprochen, sie gegriffen, sie habe sich gewehrt. Sie habe dann mit dem Rücken auf der Matratze gelegen.
Er habe gesagt, dass er sie gern habe, habe sie ausgezogen, sie berührt, auf Brust und Bauch und zwischen den Beinen abgeleckt.
Es sei wie ein Messer gewesen, das in sie rein fahre. Sie habe geweint, ihr seien die Tränen herabgelaufen. Sie habe ihn weggedrängt,
es sei nicht zum Geschlechtsverkehr gekommen. S. habe sich nicht entkleidet. Sie habe die Arbeit fertiggemacht und sei nie
mehr dorthin gegangen. S. bestritt den Vorwurf und jeglichen sexuellen Kontakt mit der Klägerin. Die Staatsanwaltschaft R.
erhob am 27.01.2010 Anklage gegen S. wegen sexueller Nötigung. Das Amtsgericht F. lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens
mit Beschluss vom 27.07.2011 aus tatsächlichen Gründen ab.
Grundlage war u. a. ein aussagepsychologisches Sachverständigengutachten über die Angaben der Klägerin von Ärztin für Psychiatrie
und Psychotherapie im Kinder- und Jugendalter Dr. C. vom 17.05.2011. Die Gutachterin befragte die Klägerin zum relevanten
Sachverhalt und unterzog die Aussage einer Qualitätsanalyse im Sinne einer Konstanzanalyse durch Vergleich mit den Voraussagen.
Die Gutachterin stellte fest, dass die Frage, ob psychische Störungen zu verzerrenden und verfälschenden Aussagebedingungen,
insbesondere autosuggestiven Prozessen, geführt hätten, nicht weiter vertieft werden müsse, weil sich die gutachtliche Fragestellung
auf der Ebene der Konstanzprüfung und der inhaltlichen Qualität beantworten lasse. Ihr gegenüber habe die Klägerin angegeben,
keine Gegenwehr geleistet zu haben, sondern dem S. gesagt zu haben "machen Sie ruhig; ja, Sie wissen, was gut für mich ist"
und so getan zu haben, als ob es ihr gefalle. Das T-Shirt habe sie sich möglicherweise selbst mit der Bemerkung: "dann geht
es schneller" ausgezogen. Einen BH habe sie damals nicht getragen. Ihre Hose habe S. ausgezogen, sie habe keinen Widerstand
geleistet. Sie sei wie betäubt gewesen. Sie habe viel darüber nachgedacht und viel geschrieben und dann ein Stück weit von
dem Realen, was sie geschrieben habe, verloren. Die Sachverständige fand die Klägerin aussagetüchtig, im aussageübergreifenden
Vergleich aber deutliche Abweichungen, schwerpunktmäßig in den Angaben zur Gegenwehr und zur Erkennbarkeit ihres entgegenstehenden
Willens. Der Vergleich zwischen der Erstaussage am 30.12.2008 bei der Polizei und den Angaben im Rahmen der gutachtliche Exploration
am 28.11.2010 zeige wesentliche Widersprüche in den unterschiedlichen Angaben zur Gegenwehr. In der Geschädigtenvernehmung
habe sie mehrfach angegeben, sich gewehrt zu haben, in der gutachtlichen Exploration nicht. Nicht übereinstimmend seien die
Angaben zur Erkennbarkeit des den sexuellen Handlungen entgegenstehenden Willens. Im Rahmen der gutachtlichen Exploration
habe sie angegeben, dass sie gegenüber S. so getan habe, als ob ihr die sexuellen Handlungen gefielen und es auch Gespräche
darüber gegeben habe. In der Geschädigtenvernehmung habe sie angegeben, dass sie während der sexuellen Handlungen geweint
habe und ihr die Tränen herabgelaufen seien. Ferner habe sie angegeben, sie habe zu ihm gesagt, er solle sie in Ruhe lassen.
Die aussageimmanente Qualitätsanalyse ergebe, dass fast keine Detailangeben zu eingesetzter Gewalt gegeben würden mit Ausnahme
der Aussage, S. habe sie an den Schultern nach hinten gedrückt, sondern die Angabe vollständig fehlender Gegenwehr bis zu
Signalen gegenüber dem S., dass die Klägerin Gefallen an den sexuellen Handlungen habe. Es seien fast keine Merkmale einer
sexuellen Nötigung erkennbar. Die Klägerin berichte bei der gutachtlichen Exploration von einer sexuellen Interaktion, die
sie ohne Gegenwehr über sich habe ergehen lassen. Insbesondere habe sie angegeben, ihren den sexuellen Handlungen entgegenstehenden
Willen gegenüber dem S. nicht bekundet zu haben. Sie habe angegeben, so getan zu haben, als ob ihr die sexuellen Handlungen
gefallen würden. Aus aussagepsychologischer Sicht lägen keine relevanten Merkmale in der Aussage der Klägerin vor, die auf
den Realitätsbezug von Angaben der Klägerin über eine sexuelle Nötigung hinwiesen. Zusammenfassend könne aus aussagepsychologischer
Sicht nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Angaben der Klägerin erlebnisbegründet seien.
Am 18.02.2010 beantragte die Klägerin beim Beklagten Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Als gesundheitliche Schädigung nannte sie eine Posttraumatische Belastungsstörung, als schädigende Ereignisse eine Tat zwischen
1991 und 1993. Der N. habe sie angesprochen, dass er sie gern habe, habe sich selbst befriedigt, sie wisse nicht, ob sie etwas
habe tun müssen. Das zweite Ereignis sei vor 2004 bei der Arbeit als Zimmermädchen im Hotel V. A. passiert. Der Besitzer,
S., sei in ein Zimmer gekommen., das sie gerade gereinigt habe, habe gesagt, dass er sie gern habe, gemerkt, dass sie wehrlos
sei, sie aufs Bett gelegt, sie ausgezogen und abgeleckt. Sie sei wie gelähmt gewesen, habe sich danach dort noch extrem abgeduscht.
Mit Bescheid vom 22.09.2011 lehnte der Beklagte die Gewährung von Beschädigtenversorgung ab. Nach Auswertung der beigezogenen
Aktenunterlagen sei nicht erwiesen, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden
sei. Die erste geschilderte Tat, bei der sich der Täter vor den Augen der Klägerin selbst befriedigt habe, stelle keinen tätlichen
Angriff im Sinne des § 1 OEG dar. Hinsichtlich der zweiten Tat sei der Nachweis eines vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffs im Sinne des § 1 OEG nicht erbracht, weil der Beschuldigte die Tat bestritten und das aussagepsychologische Gutachten ergeben habe, dass die Angaben
der Klägerin nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisbegründet seien.
Mit Widerspruchsbescheid vom 23.12.2011 wies der Beklagte den dagegen erhobenen Widerspruch zurück. Das Vorbringen von zwei
rechtswidrigen Angriffen beruhe ausschließlich auf den Angaben und Schilderungen der Klägerin. Die anspruchsbegründenden Tatsachen
seien nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen. Dies ergebe sich aus dem Glaubwürdigkeitsgutachten.
Hinsichtlich der Vorgänge aus den Jahren 1991 bis 1993 liege kein tätlicher Angriff vor, da nach der eigenen Schilderung der
Klägerin keine Gewalt angewendet worden sei und sie sich im Übrigen der Situation ganz einfach durch Verlassen des Tatortes
hätte entziehen können.
Die Klägerin hat am 19.01.2012 Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben. N. habe sie mit Gewalt an der Schulter/am Arm festgehalten, er habe sie am Weitergehen gehindert. Er habe sie bedrängt,
sich vor ihm auszuziehen und sie eingesperrt (die Tür abgeschlossen). N. habe ihr mehrfach körperliche, sexuelle und psychische
Gewalt angetan, sie sei Halbwaise. Ihre Behinderungen/Schäden seit ihrer Jugend seien Beweis dafür, dass N. ihr Gewalt angetan
habe. S. habe ihr ebenfalls körperliche, sexuelle und psychische Gewalt angetan. Ihre Schäden und Einschränkungen seien auch
auf seine Gewalteinwirkung zurückzuführen. Sie habe nach dem sexuellen Übergriff eine Infektion im Scheidenbereich mit starker
Rötung, Juckreiz und Schmerzen gehabt.
Das SG hat zur weiteren Sachaufklärung zunächst die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen schriftlich befragt. Die psychotherapeutisch
tätige Ärztin Dr. B. hat die Diagnose einer schizotypen Störung mit den Merkmalen unangepasster Affekt; seltsames, eigentümliches
Verhalten; wenige soziale Bezüge und Tendenz zu sozialem Rückzug; Misstrauen und paranoide Vorstellungen; Körpergefühlsstörungen,
Derealisationserleben, stereotypes Denken, gestellt. Sie habe über 100 Seiten Briefe der Klägerin erhalten, in denen diese
stereotyp die Schuld von N. und S. wiederhole. Sie sei allen gegenüber misstrauisch und verarbeite kleinste Gesten irreal.
Bei der vorliegenden Persönlichkeitsstörung hätten die Misshandlungen zu einer paranoiden Verarbeitung geführt. Sexuelle Übergriffe
seien immer einschneidend, auch die Anorexia nervosa in der Vergangenheit könnte Folge der Übergriffe gewesen sein. Die Klägerin
lehne ihren Körper ab, werde voraussichtlich nie eine normale Partnerschaft mit normaler Sexualität führen können. Details
der Übergriffe habe sie mit der Klägerin nicht besprochen. Allgemeinmediziner Becker legte seiner Auskunft ein Schreiben an
das Versorgungsamt bei, in dem er von Schilderungen der Klägerin bezüglich sexueller Übergriffe des damaligen Arbeitgebers
in einem Hotelbetrieb berichtete, deren Wahrheitsgehalt von ihm nicht habe überprüft werden können. Der Facharzt für Neurologie
Dr. M., tätig im Berufsförderungswerk Eckert, hat in seiner Auskunft vom 14.05.2012 angegeben, Umschulungsgrund seien anhaltende
Ängste und Schlafstörungen, bedingt durch sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz gewesen. Im Laufe des Jahres 2008 habe sich
der psychopathologische Befund geändert. Die Klägerin habe zunehmend Schuldgefühle im Zusammenhang mit früheren kleptomanischen
Verhaltensweisen entwickelt und in der Folge selbstverletzende Tendenzen gezeigt. Im Kontext der Vergangenheitsbewältigung
habe sie sexuelle Verführungen, die traumatisch erlebt worden seien, angeführt. Die Klägerin habe sich hierzu aber nicht detailliert
geäußert.
Das SG hat anschließend Prof. Dr. W. mit der Erstattung eines nervenärztlichen Gutachtens beauftragt. In ihrem Gutachten vom 12.12.2012
hat die Sachverständige in Übereinstimmung mit der behandelnden Psychotherapeutin Dr. B. die Diagnose einer schizotypen Störung
gestellt. Dies sei nach ICD-10 eine Störung mit exzentrischem Verhalten und Anomalien des Denkens und der Stimmung, die schizophren
wirkten, obwohl nie eindeutige und charakteristische Symptome einer Schizophrenie aufgetreten seien. Es komme ein kalter Affekt,
Anhedonie und seltsames, exzentrisches Verhalten, Tendenz zu sozialem Rückzug, paranoische oder bizarre Ideen, nicht aber
eigentliche Wahnvorstellungen; zwanghaftes Grübeln, Denk- und Wahrnehmungsstörungen, gelegentlich vorübergehende, quasipsychotische
Episoden mit intensiven Illusionen, akustischen oder anderen Halluzinationen und wahnähnlichen Ideen, meist ohne äußere Veranlassung,
vor. Ein klarer Beginn lasse sich nicht feststellen; Entwicklung und Verlauf entsprächen einer Persönlichkeitsstörung. Diese
beginne normalerweise in der Jugend und bleibe dann, wenn auch mit wechselndem Ausprägungsgrad, lebenslang vorhanden. Die
von der Klägerin angegebenen Symptome seien auch in Bezug auf die Beschäftigung mit den Taten nicht typisch für die bei ihr
in der Vorgeschichte auch vermutete Posttraumatische Belastungsstörung. Diese Diagnose beruhe wohl primär auf ihren Angaben
auf einem Selbstbeurteilungsbogen und nicht auf fachärztlicher Untersuchung.
Hinsichtlich der Tat des N. habe die Klägerin gegenüber Prof. Dr. W. angegeben, er habe ihr aufgelauert. Er habe gesagt, sie
solle stehen bleiben. dann habe er sie an den Schultern gefasst. Er habe sie an Bauch, Rücken und Brust gestreichelt. Sie
sei geschockt gewesen und habe geweint. Er habe sie verlacht, dann habe er seine Hose geöffnet und sich mehrfach an ihr "erigiert";
auf Nachfrage, was sie damit meine, sie habe seine Genitalien gesehen. Das Ganze habe ca. eine halbe Stunde gedauert. Er habe
versucht, ihre Hände zu greifen, damit sie ihn an den Genitalien anfasse. Er habe sie danach indirekt durch böse Blicke bedroht.
Der S. sei während sie ein Zimmer im Hotel aufgeräumt habe, reingekommen und sie habe ihn zunächst nicht bemerkt. Sie sei
erschrocken gewesen, er habe ganz ungepflegt nach Schweiß gerochen. Er habe auf sie eingeredet. Sie habe gesagt, er solle
lieber mit seiner Frau reden. Er habe sie an der Schulter gegriffen und dann an ihr "herunter gestreichelt". Er habe sie auf
das Bett gedrängt und überwältigt. Sie habe gesagt, sie wolle das nicht. Er habe sie auf das Bett gestoßen und über ihr gelegen.
Sie habe ihn nicht abwehren können. Er habe ihr das T-Shirt über den Kopf gezogen und den BH seitlich rausgezogen. Sie habe
gesagt, er dürfe das nicht. Sie habe sich aber nicht wehren können. Er habe dann angefangen, sie am Hals zu küssen und zu
lecken. Er habe ihre Leggings heruntergezogen. Sie habe ihn dann gelobt, damit er sie nicht vergewaltige. Er habe sie am Bauch
und an den Genitalien geleckt und gesaugt, sei mit der Zunge in ihre Scheide eingedrungen. Sie habe geweint. dann habe er
aufgehört. Ob sie nach dem Vorfall noch dort gearbeitet habe, wisse sie nicht, vielleicht zwei- bis dreimal.
Die Sachverständige hat ausgeführt, hinsichtlich der von der Klägerin berichteten Taten lasse sich nicht ausschließen, dass
retrospektiv Erlebnisse der Kindheit, in denen möglicherweise durchaus ein wahrer Kern stecke, im Verlauf der Zeit neu gedeutet
und interpretiert worden seien. Die Vorwürfe gegen N. und S. seien zu einem Zeitpunkt aufgetreten, als die Klägerin sich selbst
starke Vorwürfe wegen früherer Eigentumsdelikte gemacht habe. Aus psychiatrischer Sicht sei durchaus möglich, dass die Vorwürfe
gegen andere Menschen in ihrem jetzigen Ausmaß aus nicht mehr anders aushaltbaren Selbstvorwürfen entstanden seien. Eine schizotype
Persönlichkeitsstörung sei zudem keine typische Folge einzelner sexueller Übergriffe in der Pubertät und im frühen Erwachsenenalter.
Bei den angegebenen Vorfällen handele es sich nicht um einen kontinuierlichen jahrelangen Missbrauch, der manchmal zu einer
Persönlichkeitsveränderung führen könne. Daher sei es unwahrscheinlich, dass die bei der Klägerin jetzt zu beobachtende schwere
schizotype Persönlichkeitsstörung Folge dieser Ereignisse sein könne, wenn diese denn stattgefunden hätten. Ob die in der
Vergangenheit diagnostizierte Anorexie Folge der Taten des N. gewesen sein könne, sei nicht klar nachvollziehbar, denn einerseits
könne Anorexie Folge sexueller Misshandlungen sein, andererseits habe die Klägerin selbst andere Gründe, z.B. den frühen Tod
ihres Vaters, als Grund angegeben und berichtet, dass sie zum Zeitpunkt der Taten des N. bereits wegen Magersucht in Behandlung
gewesen sei.
Im Laufe des Verfahrens erhob die Klägerin den Vorwurf, von verschiedenen anderen Personen geschädigt und teilweise sexuell
angegangen worden zu sein, z.B. von einem Psychotherapeuten in der Klinik, in der sie im November 2002 zur Probe gearbeitet
habe, von Verwandten und Frauenärzten (vgl. Gutachten Prof. Dr. W., Bl. 146 SG-Akte), dem Psychotherapeuten während ihres stationären Klinikaufenthalts 1999 (Gutachten Bl. 125 SG-Akte) und einem Mitschüler aus der Realschule (Gutachten Bl. 129 SG-Akte). Sie sei schwerstgeschädigt durch mehrere Angriffe aggressiver Bewohner während ihrer Tätigkeit im B.. Während der
Umschulung zur PTA sei sie schlimmer psychosozialer Gewalt, allgemeiner Demütigung, Bedrohung und Erpressung ausgesetzt gewesen,
es sei die schlimmste Zeit in ihrem Leben gewesen, ein Folterverbrechen, sie sei bis ans Lebensende geschädigt. Man habe sie
genötigt, allen Engelsfiguren im Wert von jeweils 100,- Euro, insgesamt 20.000,- Euro, zu schenken als Wiedergutmachung für
die Entwendung von Sachen. Sie hat dem SG zwei CDs mit ca. 12.000 Seiten Text vorgelegt. Allein Vorfälle im Berufsförderungswerk, von ihr als psychosoziale Folter-Hölle
bezeichnet, umfassen knapp 1.000 Seiten, weitere Dateien betreffen Vorfälle auf dem B. von 2004 bis 2007, insbesondere Übergriffe
von Herrn W. als Arbeitgeber und Herrn U., einem Kollegen. Auf 600 Seiten schildert sie sexuelle Übergriffe seitens des S.
und des N.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 20.08.2013 abgewiesen. Das Erfordernis des Nachweises der von der Klägerin geschilderten Taten
des S. und des N. sei vorliegend nicht erfüllt. Das SG halte es nicht für erwiesen, dass die Klägerin Opfer der von ihr behaupteten sexuellen Missbrauchshandlungen geworden sei.
Es stütze sich dabei auf das im Strafverfahren gegen S. eingeholte aussagepsychologische Gutachten der Dr. C., die zu dem
Ergebnis gekommen sei, dass nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sei, dass die Angaben der Klägerin erlebnisbegründet
seien. Die Berücksichtigung psychologischer Glaubhaftigkeitsgutachten sei im sozialen Entschädigungsrecht zulässig. Die Berücksichtigung
sei geboten gewesen, weil die Angaben der Klägerin das einzige Beweismittel gewesen seien, da N. verstorben sei und S. die
Taten abgestritten habe. Des Weiteren bestünden Anhaltspunkte, dass die Angaben der Klägerin durch eine psychische Krankheit
beeinflusst seien. Dies ergäben die aktenkundigen Äußerungen der Klägerin mit einem ausufernden Kreis weiterer Beschuldigter.
Es würden immer weitere Übergriffe beschrieben. Prof. Dr. W. habe in ihrem Gutachten eine solche Erkrankung in Form der schizotypen
Persönlichkeitsstörung bestätigt. Die Sachverständige habe überzeugend dargelegt, dass hinsichtlich der beiden geltend gemachten
Taten ein wahrer Kern vorhanden sein möge, aber erhebliche Zweifel bestünden, dass sich die Taten wie geschildert abgespielt
hätten. Prof. Dr. W. habe auch hinsichtlich der Tat des N. Pseudoerinnerungen im Zusammenhang mit Minderwertigkeitsgefühlen
angeführt. Des Weiteren könne nicht festgestellt werden, dass die vorliegende Gesundheitsstörung, eine schizotype Störung,
Folge der schädigenden Ereignisse sei. Prof. Dr. W. habe in ihrem Gutachten den Zusammenhang zwischen der Gesundheitsstörung
und den geschilderten Taten ausführlich geschildert. Eine schizotype Störung sei keine typische Folge einzelner sexueller
Übergriffe in der Pubertät und im frühen Erwachsenenalter. Bei den geschilderten Vorfällen handele es sich jedoch nicht um
kontinuierlichen jahrelangen Missbrauch.
Die Klägerin hat am 16.09.2013 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Zur Begründung hat sie weitere
Vorfälle auf dem B. geschildert und eine CD vorgelegt.
Die Klägerin beantragt (sachgerecht gefasst),
das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 20. August 2013 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, unter Aufhebung
des Bescheides vom 22. September 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Dezember 2011 festzustellen, dass
sie Opfer eines tätlichen Angriffs des N. auf der Promenade zwischen 1991 und 1993 und des S. zwischen 2001 und 2003 im Hotel
"Villa Anna" geworden sei und die bei ihr vorliegende seelische Störung eine Schädigungsfolge sei.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend und verweist im Übrigen auf seine Bescheide.
Mit Beschluss vom 23.12.2013 hat der Senat den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wegen fehlender Erfolgsaussicht
abgelehnt und die Beteiligten mit Schreiben vom 16.01.2014 zur beabsichtigten Entscheidung im Beschlusswege angehört.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen, die OEG-Akte, die Schwerbehindertenakte, die staatsanwaltlichen Akten (2 Bände) und die Ermittlungsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet über die Berufung nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz ( SGG) ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Beschluss, weil die Berufsrichter des Senats
die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halten. Den Beteiligten ist
Gelegenheit zur Stellungnahme zu dieser Verfahrensweise gegeben worden. Die Klägerin ist darauf hingewiesen worden, dass die
Berufung wenig aussichtsreich erscheint.
Die nach § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere statthafte Berufung (§§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 SGG) ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, denn die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren
Rechten. Sie hat keinen Anspruch auf Feststellung, dass die von ihr im Antrag an den Beklagten aufgeführten beiden Ereignisse
als Tatbestände nach dem OEG und die bei ihr bestehende seelische Störung eine Schädigungsfolge sei.
Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Danach erhält, wer im Geltungsbereich des OEG in Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige
Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung
in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).
Grundsätzlich ist der Rechtsbegriff des tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG unter Bezugnahme auf seine im Strafrecht gewonnene Bedeutung in den §§ 113, 121 Strafgesetzbuch - StGB - auszulegen. Danach liegt ein tätlicher Angriff bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines
anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor (BSG SozR 4-3800 § 1 Nr. 17). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB (Nötigung) zeichnet sich der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG grundsätzlich durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen
ein. Dies entspricht in etwa dem strafrechtlichen Begriffsverständnis der Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB (BSG SozR 4-3800 § 1 Nr. 18). Je gewalttätiger die Angriffshandlung gegen eine Person nach ihrem äußeren Erscheinungsbild bzw. je größer der Einsatz
körperlicher Gewalt oder physischer Mittel ist, desto geringere Anforderungen sind zur Bejahung eines tätlichen Angriffs in
objektiver Hinsicht zu stellen. Je geringer sich die Kraftanwendung durch den Täter bei der Begehung des Angriffs darstellt,
desto genauer muss geprüft werden, inwiefern durch die Handlung eine Gefahr für Leib oder Leben des Opfers bestand. Die Grenze
zwischen einem sozial adäquaten Verhalten und einem tätlichen Angriff ist jedenfalls dann überschritten, wenn die Abwehr eines
solchen Angriffs unter dem Gesichtspunkt der Notwehr gemäß § 32 StGB gerechtfertigt wäre. Die Angriffshandlung muss für sich genommen nicht gravierend sein, um - unter Berücksichtigung aller
Umstände des Einzelfalls - eine hinreichende Gefährdung von Leib oder Leben des Opfers und damit einen tätlichen Angriff im
Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG anzunehmen. Der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG setzt über den natürlichen Vorsatz des Täters bezogen auf die Angriffshandlung hinaus eine "feindselige Willensrichtung"
voraus. Dieses - einem Angriff im Wortsinn immanente - Merkmal dient dem Opferentschädigungsrecht vor allem zur Abgrenzung
sozialadäquaten bzw. gesellschaftlich noch tolerierten Verhaltens von einem auf Rechtsbruch gerichteten Handeln des Täters
(BSG SozR 3800 § 1 Nr. 6). Lässt sich eine feindselige Willensrichtung im engeren Sinne nicht feststellen, kann alternativ darauf abgestellt
werden, ob der Täter eine mit Gewaltanwendung verbundene strafbare Vorsatztat (zumindest einen strafbaren Versuch) begangen
hat (st. Rspr. seit 1985 vgl. BSG SozR 3-3800 § 1 Nrn. 6 und 7). Anstelle einer feindseligen Absicht ist dann die Rechtsfeindlichkeit des Täters entscheidend, dokumentiert
durch einen willentlichen Bruch der Rechtsordnung. Die einem Angriff innewohnende Feindseligkeit manifestiert sich insoweit
durch die vorsätzliche Verwirklichung der Straftat (BSG SozR 4-3800 § 1 Nr. 18).
Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang hier: tätlicher Angriff,
Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind hinsichtlich des schädigenden Vorgangs bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich
auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des
Falles glaubhaft erscheinen (BSG, Urteil vom 17.04.2013 - SozR 4-3800 § 1 Nr. 20).
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen.
Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit
ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl. 2014, § 128 RdNr 3b mwN). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen
Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG, Urteil vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R - [...] RdNr 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles
nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die
volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 128 RdNr 3b mwN; BSG, Urteil vom 17.04.2013 - SozR 4-3800 § 1 Nr. 20).
Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 S 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang
spricht (vgl. BSG, Beschluss vom 08.08.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 S 14 m.w.N.). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang
angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses
ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für
die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere
Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt (BSG, Urteil vom 17.04.2013 - SozR 4-3800 Nr. 20).
Bei dem "Glaubhafterscheinen" im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden
Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 128 RdNr. 3d m.w.N.), d.h. der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen
bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 08.08.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 S 14 f m.w.N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht,
wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache
sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten
das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 128 RdNr. 3d m.w.N.), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich
in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht
zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen
zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt
ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG; vgl. BSG, Beschluss vom 08.08.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 S. 15; BSG, Urteil vom 17.04.2013 SozR 4-3800 § 1 Nr. 20).
Nach § 15 Satz 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der
Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers
oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit die Angaben nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (vgl. grundlegend BSG, Urteil vom 31.05.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 125 = SozR 1500 § 128 Nr. 39 S 46). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 Satz 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen,
die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl. §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende
Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 Satz 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung
des § 15 Satz 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen
nicht vorhanden sind (vgl. bereits BSG, Beschluss vom 28.07.1999 - B 9 VG 6/99 B - [...] RdNr. 6; BSG, Urteil vom 17.04.2013 - SozR 4-3800 § 1 Nr. 20). Dies ist hinsichtlich der angeschuldigten Tat des S. der Fall; da dieser die Tat bestreitet und Tatzeugen nicht
vorhanden sind; ebenso hinsichtlich des N., der zu dem Vorwurf nicht befragt werden konnte, da er vorher verstorben ist, und
mangels Tatzeugen.
Streitgegenständlich sind allein die beiden Ereignisse, deren Anerkennung als tätliche Angriffe die Klägerin beantragt hat,
nämlich die einmalige exhibitionistische Handlung des N. auf der Promenade zwischen 1991 und 1993 und eine Handlung des S.
im Hotel zwischen 2001 und 2003. Die erste angeschuldigte Tat wäre nur dann ein tätliche Angriff im Sinne von § 1 OEG, wenn der N. die Klägerin körperlich angegriffen hätte. Allein die exhibitionistische Handlung ist kein solcher tätlicher
Angriff, da bereits die unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung fehlt (vgl. BSG, Urteile vom 17.04.2013 - SozR 4-2800 § 1 Nr. 20 und zuletzt vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R). Ein Angriff auf die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats nicht glaubhaft. Die Klägerin hat zu dem Ereignis im Laufe
des Verfahrens hierzu widersprüchliche Angaben gemacht. In ihrem Antrag auf Beschädigtenversorgung und in ihrer Geschädigtenvernehmung
Ende 2008 bei der Polizei und in ihrem Antrag auf Beschädigtenversorgung hatte sie eine exhibitionistische Handlung ohne körperlichen
Angriff geschildert, erst gegenüber der Sachverständigen Prof. Dr. W. hat sie im Klageverfahren angegeben, der N. habe sie
gepackt und sich mehrfach an ihr "erigiert". Diese im Dezember 2012 gemachten Angaben weichen damit stark von den früheren
ab. Daher ist der davon abweichende neue Vortrag nicht glaubhaft. Dass weitere zwei Jahre später eine "bessere" Erinnerung
an einen Vorfall in den früheren 90er Jahren eintritt, ist nicht nachvollziehbar.
Hinsichtlich des geschilderten Ereignisses betreffend den S. ist von einer vorsätzlichen rechtswidrigen Tat nur dann auszugehen,
wenn der S. Gewalt angewendet bzw. den entgegenstehenden Willen der Klägerin erkannt hat. Die sexuelle Nötigung gemäß § 177 Strafgesetzbuch ( StGB) erfordert die Nötigung zur Duldung sexueller Handlungen oder zu deren Vornahme und beinhaltet einen hierauf gerichteten
Vorsatz des Täters. Der entgegenstehende Wille des Opfers muss somit für den Täter erkennbar sein. Auch hierzu hat die Klägerin
widersprüchliche Angaben gemacht. Gegenüber der Polizei und der Sachverständigen Prof. Dr. W. hat sie Gegenwehr und verbalen
Widerstand angegeben, nicht aber gegenüber der Gutachterin Dr. C. und nicht im Antrag auf Beschädigtenversorgung. Gegenüber
Dr. C. hat sie sogar angegeben, sie habe sich selbst eingeredet, dass es gut sei, ihm gegenüber habe sie so getan, als ob
es ihr gefalle und habe "schön", "prima" und "machen Sie ruhig" gesagt. Sie hat auch im Übrigen widersprüchliche Angaben gemacht.
Bei Dr. C. war sie sicher, keinen BH getragen zu haben, bei Prof. Dr. W. war sie sicher, einen weißen BH mit Vorderverschluss
getragen zu haben. Bei der Polizei hat sie angegeben, nach diesem Tag nie wieder in das Hotel zum Arbeiten gegangen zu sein,
bei den übrigen Befragungen gab sie an, vielleicht noch zwei- bis dreimal dort arbeiten gegangen zu sein und danach nicht
mehr, weil es keine Arbeit gegeben habe. Bei der Polizei und bei Prof. Dr. W. hat sie behauptet, der S. habe sie ausgezogen,
bei Dr. C. hat sie angegeben, sie habe sich das T-Shirt selbst ausgezogen. Von Prof. Dr. W. auf die Differenzen hingewiesen,
hat die Klägerin dies damit erklärt, dass sie damals noch nicht so klare Erinnerungen gehabt, sich vor dieser Begutachtung
(durch Prof. Dr. W.) noch einmal intensiv monatelang damit beschäftigt habe. Somit ist auch diesbezüglich zur Überzeugung
des Senats kein tätlicher Angriff glaubhaft, denn eine authentischere Erinnerung nach längerem Zeitablauf ist nicht plausibel,
die intensive Beschäftigung mit dem weit zurückliegenden Geschehen birgt vielmehr die Gefahr von Pseudoerinnerungen.
Diese Bewertung stützt der Senat auch auf das nervenärztliche Gutachten von Prof. Dr. W. im erstinstanzlichen Verfahren. Prof.
Dr. W. hat für den Senat überzeugend dargelegt, dass in dem von der Klägerin Berichteten möglicherweise ein wahrer Kern vorhanden
ist, aber erhebliche Zweifel daran bestehen, dass sich die Taten in ihrer Gesamtheit so abgespielt haben, wie die Klägerin
schildert. N. und/oder S. haben die Klägerin demnach möglicherweise gegen ihren Willen berührt, die Erinnerungen haben sich
aber im Laufe der Zeit verändert und wurden pathologisch verarbeitet bzw. umgedeutet. Ausgeprägt und deutlich bestehen Pseudoerinnerungen,
wahrscheinlich im Zusammenhang mit Minderwertigkeitsgefühlen. Da die Vorwürfe gegen N. und S. von der Klägerin 2008 geäußert
wurden, als sie sich selbst starke Vorwürfe wegen geringfügiger Eigentumsdelikte machte, hält die Sachverständige es aus psychiatrischer
Sicht für durchaus möglich, dass die Vorwürfe gegen andere Menschen in ihrem jetzigen Ausmaß aus nicht mehr anders aushaltbaren
Selbstvorwürfen entstanden sind. Ein solcher wahrer Kern bei erheblichen Zweifeln im Übrigen bedeutet, dass die relative Wahrscheinlichkeit
nach § 15 Satz 1 KOVVfG nicht gegeben ist.
Der Senat lässt offen, ob daneben im Wege des Urkundsbeweises das Gutachten der Dr. C. im Strafverfahren gegen den S. herangezogen
werden kann. Sie hat nämlich festgestellt, dass aus aussagepsychologischer Sicht nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit davon
ausgegangen werden kann, dass die Angaben der Klägerin erlebnisbegründet sind. Im Rahmen des § 15 Satz 1 KOVVfG ist aber darauf abzustellen, ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können
(vgl. BSG, Urteil vom 17.04.2013 - SozR 4-2800 § 1 Nr. 20).
Die Berufung war zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor, § 160 Abs. 2 SGG.
|