Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches "G" im Schwerbehindertenrecht;
Anwendbarkeit der Versorgungsmedizinischen Grundsätze
Gründe
I.
Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches
(Merkzeichen) "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) streitig.
Bei der 1971 geborenen Klägerin stellte das Landratsamt H. - Versorgungsamt - (LRA) auf ihren Antrag auf Erhöhung des Grades
der Behinderung (GdB) mit Bescheid vom 21.02.2006 (auf Widerspruch der Klägerin) in der Gestalt des Teilabhilfebescheides
vom 15.01.2007 wegen eines chronischen Schmerzsyndroms, einer seelischen Störung und posttraumatischer Belastungsstörung (Teil-GdB
50), Verwachsungsbeschwerden nach Bauchoperation und eines Zwölffingerdarmgeschwürsleidens, einer Funktionsbehinderung der
Wirbelsäule und Hüftdysplasie beidseitig sowie einer Sehbehinderung (Teil-GdB jeweils 20), den Gesamt-GdB mit 70 neu fest.
Außerdem beantragte die Klägerin am 23.08.2006 (wiederholt am 07.11.2006) beim LRA die Feststellung des Merkzeichens "G".
Diesem Antrag entsprach das LRA mit Bescheid vom 17.01.2007 nicht. Hiergegen legte die Klägerin am 20.02.2007 Widerspruch
ein. Sie legte das Attest von Dr. He. vom 24.10.2006 vor, in dem über Unterbauchschmerzen durch rezidivierende Ovarialzysten
und orthostatische Dysregulationen sowie ausgeprägte Verwachsungsbeschwerden beim Gehen berichtet wird.
Entsprechend der gutachtlichen Stellungnahme der Versorgungsärztin S. vom 11.04.2007 wurden die Widersprüche der Klägerin
gegen den Bescheid vom 21.02.2006 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 15.01.2007 sowie gegen den Bescheid vom 17.01.2007
vom Regierungspräsidium Stuttgart - Landesversorgungsamt - mit Widerspruchsbescheid vom 16.04.2007 jeweils zurückgewiesen.
Zur Begründung wurde ausgeführt, eine weitere Erhöhung des GdB sowie die Zuerkennung des Merkzeichens "G" ließen sich nicht
begründen.
Am 07.05.2007 erhob die Klägerin wegen der Zuerkennung des Merkzeichens "G" Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG). Sie berief sich zur Begründung auf eine Hüftdysplasie, eine Achillessehnenoperation, Unterbauchschmerzen mit orthostatischen
Dysregulationen, einen Meniskusschaden sowie die Bildung von Zysten, wodurch sie an der Zurücklegung ortsüblicher Wegstrecken
gehindert sei. Die Klägerin legte das Attest von Dr. He. vom 19.06.2007 und Dr. Ho. vom 26.10.2009 vor.
Der Beklagte trat der Klage unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahmen von Dr. G. vom 05.03.2008 und Dr. F. vom
22.09.2008 entgegen.
Mit Urteil vom 02.12.2009 wies das SG die Klage ab. Es nahm zur Begründung auf den Ursprungs- und Widerspruchsbescheid Bezug und führte ergänzend aus, die vorgelegten
Atteste von Dr. He. und Dr. Ho. seien nicht geeignet, das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" zu beweisen.
Gegen das den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 22.03.2010 zugestellte Urteil hat die Klägerin durch ihre Prozessbevollmächtigten
am 21.04.2010 Berufung eingelegt. Sie hat zur Begründung geltend gemacht, aus den im Klageverfahren vorgelegten ärztlichen
Attesten gehe entgegen der Auffassung des SG eindeutig hervor, dass sie wegen Verwachsungsbeschwerden am Zurücklegen ortsüblicher Wegstrecken ständig gehindert sei. Ihrem
hilfsweise gestellten Beweisantrag auf Einholung eines orthopädischen und eines gynäkologischen Gutachtens hätte das SG nachgehen müssen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Heilbronn vom 2. Dezember 2009 sowie des Bescheides des Beklagten
vom 17.01.2007 in der Gestalt des hierzu ergangenen Teils des Widerspruchsbescheids vom 16.04.2007 zu verurteilen, bei ihr
die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches "G" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Das Vorbringen der Klägerin beinhalte keine neuen Tatsachen oder
Gesichtspunkte, die eine der Klägerin günstigere Entscheidung rechtfertigen könnten.
Der Senat hat Dr. He. , den Orthopäden Dr. L. , den Arzt für Allgemeinmedizin Dr. B. sowie die Frauenärztin Dr. Ho. schriftlich
als sachverständige Zeugen angehört. Dr. He. teilte in seiner Stellungnahme vom 30.11.2010 unter Vorlage medizinischer Befundunterlagen
mit, er habe die Klägerin seit fast 3 1/2 Jahren nicht mehr behandelt und erachtete eine Vernehmung von Dr. Ho. für zweckmäßig.
Dr. L. teilte in seiner schriftlichen Stellungnahme vom 05.12.2010 unter Vorlage medizinischer Befundunterlagen den Behandlungsverlauf,
die Diagnosen und erhobenen Befunde mit. Er hielt die Bewegungsfähigkeit der Klägerin im Wesentlichen psychisch bedingt (durch
eine Angsterkrankung bzw. eine posttraumatische Belastungsreaktion) eingeschränkt. Dr. B. teilte in seiner Stellungnahme vom
21.12.2010 unter Vorlage medizinischer Befundunterlagen den Behandlungsverlauf, die von der Klägerin geklagten Beschwerden
(allgemeine Schwäche, Antriebslosigkeit, Schmerzen am ganzen Körper, besonders im Bauch mit Ausstrahlung in das linke Bein
durch eine Eierstockzyste) und die Diagnosen (schwere depressive Erkrankung, neurasthenisches Syndrom) mit. Er hielt die Klägerin
wegen einer extrem schweren psychiatrischen Erkrankung für nicht in der Lage, ohne erhebliche Schwierigkeiten Gehstrecken
über 200 Meter zu Fuß zurückzulegen. Dr. Ho. teilte in ihrer Stellungnahme vom 29.12.2010 unter Vorlage von medizinischen
Befundunterlagen den Behandlungsverlauf, die von der Klägerin geklagten Beschwerden und die Diagnosen (chronisch rezidivierende
Unterbauchschmerzen rechts, Ovarialzyste rechts, Verdacht auf Adhäsionen im kleinen Becken bei Zustand nach mehrfachen Laparotomien
und Adnexektomie/Ovarektomie links) mit. Zu einer Stellungnahme zur Gehfähigkeit/Bewegungsfähigkeit sah sie sich als Gynäkologin
nicht in der Lage, verneinte jedoch, soweit gynäkologisch beurteilbar, die Frage zu den Voraussetzungen für das Merkzeichen
"G".
Der Senat hat außerdem die Rentenakte der Klägerin bei der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg beigezogen und hieraus
ärztliche Unterlagen in Kopie zur Akte genommen (Gutachten Dr. W. vom 12.01.2011, Diagnosen: rezidivierende depressive Störung,
gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome, anhaltende somatoforme Schmerzstörung, posttraumatische Belastungsstörung,
Agoraphobie mit Panikstörung; Befundberichte Dr. E. vom 12.10.2010, Diagnose rezidivierende depressive Störung, und vom 24.08.2010,
Diagnosen: schwere depressive Episode, Zustand nach posttraumatischer Belastungsstörung; Gutachten der Ärztlichen Untersuchungsstelle
H. , Dr. Ba. , vom 30.03.2010, Diagnosen: chronifizierte therapieresistente rezidivierende depressive Störung, anhaltende
somatoforme Schmerzstörung, fragliche posttraumatische Belastungsstörung, rezidivierende Ovarialzysten und fragliche abdominelle
Verwachsungen; Ärztlicher Entlassungsbericht des Therapiezentrums Bad R. vom 20.02.2008, Diagnosen: muskulär statische Rückenbeschwerden,
chronische Unterbauchbeschwerden bei peritonealen Adhäsionen nach mehreren Unterbauchoperationen, posttraumatische Belastungsstörung;
Gutachten des MDK vom 02.11.2007, Diagnosen: chronische Unterbauchbeschwerden bei peritonealen Adhäsionen nach mehreren Unterbauchoperationen,
Darmresektion 1989, mehrfach Adhäsiolysen, Ovarektomie links, chronisch rezidivierende Ovarialzysten rechts, rezidivierendes
Lumbalsyndrom, Hüftdysplasie beidseits, posttraumatische Belastungsstörung).
Der Beklagte trat unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahmen von Dr. R. vom 25.05.2011 und 21.12.2011 der Berufung
weiter entgegen.
Der Senat hat daraufhin das Gutachten des Arztes für Innere Medizin, Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Schn.
vom 18.06.2012 eingeholt. Dr. Schn. diagnostizierte bei der Klägerin eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung mit Borderline-Anteilen,
eine somatoforme Störung mit vorwiegender Projektion auf das Abdomen bzw. das muskulo-skelettale System, anamnestisch posttraumatische
Belastungsstörung, weitestgehend remittiert, anamnestisch depressives Syndrom, remittiert sowie eine Sehstörung, ein Wirbelsäulenleiden,
eine Hüftdysplasie beidseits und Verwachsungsbeschwerden nach abdominellen und gynäkologischen Eingriffen. Er gelangte zusammenfassend
zu der Beurteilung, die Angaben der Klägerin bei der Untersuchung zur Wegstrecke bzw. zum Spazierengehen hätten nicht authentisch
gewirkt und seien eindeutig nicht mit dem körperlichen Status vereinbar. Entsprechendes gelte für die Angabe einer Kraftlosigkeit.
Der internistische Untersuchungsbefund sei bis auf eine vermehrte Schmerzempfindlichkeit am Abdomen unauffällig. Bei der neurologischen
Untersuchung habe sich intermittierend ein Verdeutlichungs- bzw. Aggravationsverhalten gezeigt. Der psychopathologische Befund
sei im Wesentlichen unauffällig. Es hätten sich deutliche Hinweise auf Somatisierungstendenzen und auf eine emotional-instabile
Persönlichkeitsstörung mit vor allem Borderline-Anteilen ergeben. Das EEG zeige einen Alpha-Grundrhythmus. Vigilanzschwankungen oder -minderungen lägen nicht vor. Die weiteren neurophysiologischen
Untersuchungen seien unauffällig. Es ergebe sich kein Anhalt für eine Polyneuropathie. Aktuell habe sich kein Anhalt für eine
manifeste depressive Symptomatik sowie für eine posttraumatische Belastungsstörung oder für eine generalisierte Angststörung
ergeben. Bei der Klägerin ergäben sich an Behinderungen / Funktionsbeeinträchtigungen seelische Störungen und somatoforme
Beschwerden (Teil-GdB 40), eine Sehbehinderung (Teil-GdB 20), Verwachsungsbeschwerden nach Bauchoperationen (Teil-GdB 20)
sowie ein Wirbelsäulenleiden und Hüftdysplasie beidseits (Teil-GdB 20). Die Klägerin sei bei aller zumutbaren Willensanstrengung
durch die genannten Behinderungen / Funktionseinbußen nicht gehindert, ohne erhebliche Schwierigkeiten und ohne Gefahren für
sich oder andere die Wegstrecken im Ortsverkehr zu Fuß zurückzulegen, die heute noch üblicherweise gehend bewältigt werden
(etwa zwei km in einer halben Stunde). Es bestünden keine Erkrankungen, die die Wegstrecke sozialmedizinisch relevant beschränkten.
Die Beteiligten sind mit richterlicher Verfügung vom 07.08.2012 auf die Möglichkeit einer Entscheidung des Senats nach §
153 Abs.
4 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) hingewiesen worden und haben Gelegenheit zur Äußerung erhalten. Die Beteiligten sind eine Entscheidung nach §
153 Abs.
4 SGG nicht entgegen getreten.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter
Instanz, die beigezogene Rentenakte der Klägerin sowie auf ein Band Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.
II.
Gemäß §
153 Abs.
4 SGG kann der Senat - nach vorheriger Anhörung der Beteiligten - die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn er sie einstimmig
für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Im vorliegenden Fall sind die Berufsrichter des
Senats einstimmig zum Ergebnis gekommen, dass die Berufung unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist.
Die Beteiligten sind mit richterlicher Verfügung vom 07.08.2012 auf die in Betracht kommende Möglichkeit einer Entscheidung
nach §
153 Abs.
4 SGG sowie deren Voraussetzungen hingewiesen worden und haben Gelegenheit erhalten, zur Sache und zum beabsichtigen Verfahren
Stellung zu nehmen.
Der Senat hat den Berufungsantrag der Klägerin nach ihrem erkennbaren Begehren sachdienlich gefasst. Nicht Gegenstand des
vorliegenden Rechtsstreites ist der Bescheid des Beklagten vom 21.02.2006 in der Gestalt des Teilabhilfebescheids vom 15.01.2007
und der diese Bescheide betreffende Teil des Widerspruchsbescheids vom 16.04.2007 zur Neufeststellung des GdB mit 70. Hiergegen
hat die Klägerin sich mit ihrer Klage nicht gewandt. Damit ist die Neufeststellung des GdB mit 70 bestandskräftig und nicht
Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreites. Die Klägerin begehrt im vorliegenden Rechtsstreit nur, den Beklagten zu verurteilen,
ihr - neben einem GdB von 70 zugleich auch - das Merkzeichen "G" zuzuerkennen, wie sie in ihrer Klageschrift an das SG vom 04.05.2007 beantragt hat. Sie wendet sich damit zweifelsfrei nur gegen den Bescheid des Beklagten vom 17.01.2007 und
den diesen Bescheid betreffenden Teil des Widerspruchsbescheids vom 16.04.2007. Dementsprechend hat der Senat den Berufungsantrag
der Klägerin sachdienlich gefasst.
Die gemäß den §§
143,
144 Abs.
1 SGG statthafte und nach §
151 SGG auch insgesamt zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens "G". Der streitgegenständliche
Bescheid des Beklagten vom 17.01.2007 in der Gestalt des hierzu ergangenen Teils des Widerspruchsbescheids vom 16.04.2007
ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Gemäß §
145 Abs.
1 SGB IX werden schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt
oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend
gekennzeichneten Ausweises nach §
69 Abs.
5 im Nahverkehr im Sinne des §
147 Abs.
1 SGB IX unentgeltlich befördert. In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ist erheblich beeinträchtigt nach §
146 Abs.
1 Satz 1
SGB IX, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen
der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken
im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Bis zum 31.12.2008 waren die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach
dem Schwerbehindertenrecht" (Teil 2
SGB IX), Ausgabe 2008 (AHP) heranzuziehen (BSG, Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1). Die AHP besaßen zwar keine Normqualität, weil sie weder auf einem Gesetz noch auf einer Verordnung oder auch nur
auf Verwaltungsvorschriften beruhten. Sie waren vielmehr als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen, die in der
Praxis wie Richtlinien für die ärztliche Gutachtertätigkeit wirkten, und deshalb normähnliche Auswirkungen hatten. Auch waren
sie im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen von den Gerichten anzuwenden (vgl. BSGE 72,
285, 286; BSG SozR 3-3870 a.a.O.).
Seit 01.01.2009 ist an die Stelle der AHP die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung
des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten. Damit hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung nach § 30 Abs. 17 BVG (jetzt § 30 Abs. 16 BVG) zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen
und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG aufgestellt. Nach §
69 Abs.
1 Satz 5
SGB IX gelten diese Maßstäbe auch für die Feststellung des GdB.
Allerdings kann sich der Beklagte hinsichtlich der Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "G" nicht auf die
VG (Teil D 1) berufen. Eine gesetzliche Ermächtigung für den Verordnungsgeber, die Grundsätze für die nach dem Schwerbehindertenrecht
zu beurteilenden Nachteilsausgleiche durch Verordnung regeln zu können, enthalten weder § 30 Abs. 17 BVG (jetzt: Abs.
16), der nicht auf die im Schwerbehindertenrecht im
SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche verweist (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009), noch andere Regelungen des BVG. Eine Rechtsgrundlage zum Erlass einer Verordnung über Nachteilsausgleiche ist auch nicht in den einschlägigen Vorschriften
des
SGB IX vorhanden. Die Regelungen der VG zum Nachteilsausgleich G sind damit mangels entsprechender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig.
Dies entspricht ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. Urteile des Senats vom 23.07.2010 - L 8 SB 3119/08 - und vom 14.08.2009 - L 8 SB 1691/08 -, beide veröff. in [...] und www.sozialgerichtsbarkeit.de) und dem ebenfalls für Schwerbehindertenrecht zuständigen 6. Senat
des LSG Baden-Württemberg (vgl. stellvertretend Urteil vom 04.11.2010 - L 6 SB 2556/09 -, unveröffentlicht; offen lassend der 3. Senat, vgl. Urteil vom 17.07.2012 - L 3 SB 523/12 - unveröffentlicht). Rechtsgrundlage sind daher allein die genannten gesetzlichen Bestimmungen und die hierzu in ständiger
Rechtsprechung anzuwendenden Grundsätze.
Das Tatbestandsmerkmal der im Ortsverkehr üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegten Wegstrecke des §
146 Abs.
1 Satz 1
SGB IX umfasst nach ständiger Rechtsprechung der Sozialgerichte (grundlegend BSG Urt. vom 10.12.1987 - 9a RVs 11/87 -, SozR 3870 § 60 Nr. 2; BSG Urteil vom 13.08.1997 - 9 RVS 1/96 -, SozR 3 - 3870 § 60 Nr. 2) die Bewältigung von Wegstrecken von zwei km in einer halben
Stunde ohne Berücksichtigung von geographischen Besonderheiten im Einzelfall. Sowohl die Gesetzesmaterialien zur gleichlautenden
Vorgängervorschrift des § 58 Abs. 1 Satz 1 SchwbG 1979 als auch die AHP 1983 (Seite 123, 127f') enthielten keine Festlegung zur Konkretisierung des Begriffs der im Ortsverkehr
üblichen Wegstrecke. Diese Festlegung geht auf eine in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis gegriffene Größe von zwei km zurück,
die als allgemeine Tatsache, welche zur allgemeingültigen Auslegung der genannten Gesetzesvorschrift herangezogen wurde, durch
verschiedene Studien (vgl. die Nachweise in BSG Urt. vom 10.12.1987 a.a.O.) bestätigt worden ist. Der außerdem hinzukommende Zeitfaktor enthält den in ständiger Rechtsprechung
bestätigten Ansatz einer geringeren Durchschnittsgeschwindigkeit als die von fünf bis sechs km pro Stunde zu erwartende Gehgeschwindigkeit
rüstiger Wanderer, da im Ortsverkehr in der Vergleichsgruppe auch langsam Gehende, die noch nicht so erheblich behindert sind
wie die Schwerbehinderten, denen das Recht auf unentgeltliche Beförderung zukommt, zu berücksichtigen sind (vgl. BSG Urteil vom 10.12.1987, a.a.O.). Anhaltspunkte dafür, dass infolge des Zeitablaufs sich die Tatsachengrundlage geändert haben
könnte, hat der Senat nicht. Der Senat legt daher in ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt Urteil vom 20.04.2012 - L 8 SB 5315/11- , unveröffentlicht) diese Erkenntnisse weiter der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der ortsüblichen Wegstrecken i.S.v.
§
146 Abs.
1 SGB IX zugrunde, auch wenn die entsprechenden Regelungen der VG zu dem Nachteilsausgleich "G" unwirksam sind, wie oben ausgeführt
(ebenso der 3. und 6. Senat des LSG Baden-Württemberg, Urteile vom 17.07.2012 a.a.O. und vom 04.11.2010 a.a.O.).
Hiervon ausgehend steht für den Senat fest, dass bei der Klägerin keine erhebliche Beeinträchtigung ihrer Bewegungsfähigkeit
im Straßenverkehr im Sinne des §
146 Abs.
1 Satz 1
SGB IX vorliegt. Die Klägerin ist durch die bei ihr bestehenden Gesundheitsstörungen nicht gehindert, Wegstrecken im Ortsverkehr
- ohne Berücksichtigung von geographischen Besonderheiten im Einzelfall - von maximal zwei km bei einer Gehdauer von etwa
30 Minuten zu Fuß zurückzulegen. Zu dieser Überzeugung gelangt der Senat aufgrund des im Berufungsverfahren eingeholten Gutachtens
des Dr. Schn. vom 18.06.2012 sowie den zu den Akten gelangten (zahlreichen) medizinischen Unterlagen einschließlich der im
Rentenverfahren der Klägerin eingeholten Gutachten.
Dass die Gehfähigkeit der Klägerin durch gynäkologische / abdominelle Beschwerden relevant herabgesetzt ist, wie sie geltend
macht, steht zur Überzeugung des Senates nicht fest. Die Frauenärztin Dr. Ho. hat vielmehr in ihrer schriftlichen sachverständigen
Zeugenaussage an den Senat vom 29.12.2010 - aus gynäkologischer Sicht - die Beweisfrage zum Vorliegen der Voraussetzungen
für die Feststellung des Merkzeichens "G" verneint. Auch sonst lassen sich den zu den Akten gelangten medizinischen Befundunterlagen
keine Behinderungen der Klägerin entnehmen, die wegen gynäkologischer Leiden eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit
im Straßenverkehr plausibel machen. Dies gilt insbesondere auch für die von der Klägerin geklagten (Unter)Bauchschmerzen,
die nach den Angaben der Klägerin im Rahmen der Begutachtung durch Dr. Schn. im Zusammenhang beim Stuhlgang oder langem sitzen
auftreten. Dem entspricht auch die überzeugende Bewertung von Dr. Schn. in seinem Gutachten, der durch die abdominellen Beschwerden
eine Einschränkung der Wegefähigkeit verneint hat, dem sich der Senat anschließt. Auch sonst ist der von Dr. Schn. bei der
Begutachtung der Klägerin erhobene internistische Untersuchungsbefund - bis auf eine vermehrte Schmerzempfindlichkeit am Abdomen
- unauffällig, wie Dr. Schn. in seinem Gutachten nachvollziehbar und überzeugend ausgeführt hat. Der nicht näher begründeten
abweichenden Ansicht von Dr. He. in seinem Attest vom 19.06.2007 kann im Hinblick auf den von Dr. Schn. erhobenen Befund wie
auch den sonst zu den Akten gelangten diesbezüglichen medizinischen Befundunterlagen nicht gefolgt werden.
Weiter bestehen bei der Klägerin hinsichtlich des Bewegungs- und Halteapparates (neurologisch und orthopädisch) keine Funktionsbeeinträchtigungen,
die auf eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr schließen lassen. Dr. Schn. beschreibt in
seinem Gutachten ein physiologisches Gangbild mit ausreichender Mitbewegung der oberen Extremitäten sowie regelgerechtem Abrollen
der Fußsohlen. Muskelrelief und -tonus sind regelrecht. Ein Hinweis für latente oder manifeste Paresen an den Extremitäten
besteht nicht. Alle Gelenke der oberen und insbesondere unteren Extremitäten der Klägerin sind aktiv und passiv beweglich.
Für eine neurogene Gangstörung wie auch für das Vorliegen einer Polyneuropathie hat Dr. Schn. kein Anhalt gefunden. Weiter
ist bei der Klägerin keine relevante neurologische Läsion zu objektivieren, wie Dr. Schn. in seinem Gutachten außerdem ausgeführt
hat. Auch sonst hat Dr. Schn. keine motorische Störung festgestellt, die auf eine Herabsetzung der Gehfähigkeit der Klägerin
schließen lässt. Vielmehr ergaben sich bei der Klägerin hinsichtlich des Bewegungs- und Halteapparates Hinweise auf eine Verdeutlichung/Aggravation.
Auch Dr. L. hat in seiner schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage vom 05.12.2010 auf orthopädischem Gebiet liegende Gesundheitsstörungen
und Behinderungen der Klägerin, die ihre Gehfähigkeit herabsetzen, insbesondere wegen der Hüftdysplasie beidseits, nicht beschrieben.
Er hat vielmehr mitgeteilt, dass aus seiner Sicht eine psychisch bedingte Einschränkung der Bewegungsfähigkeit bestehe. Entsprechendes
gilt für die schriftliche sachverständige Zeugenaussage des Dr. B. vom 12.12.2010, der zwar von einer erheblichen Einschränkung
der Gehfähigkeit der Klägerin (Gehstrecke 200 m) ausgeht, die Ursache hierfür jedoch nicht in körperlich somatischen Befunden,
sondern in einer psychiatrischen Erkrankung der Klägerin sieht. Auch sonst lässt sich den zu den Akten gelangten medizinischen
Unterlagen eine auf orthopädischem Gebiet liegende Funktionsbehinderung, die eine erhebliche Einschränkung der Gehfähigkeit
der Klägerin plausibel macht, nicht entnehmen.
Weiter wird die Klägerin durch die (im Vordergrund stehende) seelische Störung und somatoforme Beschwerden in ihrer Bewegungsfähigkeit
im Straßenverkehr nicht erheblich beeinträchtigt. Zwar bestehen bei der Klägerin nach dem nachvollziehbaren und plausiblen
Gutachten von Dr. Schn. stärker behindernde Störungen mit einer wesentlich eingeschränkten Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit
im Sinne der VG Teil B 3.7. Hierdurch wird die Klägerin jedoch nach den überzeugenden Ausführungen von Dr. Schn. bei aller
zumutbaren Willensanstrengung nicht gehindert, ohne erhebliche Schwierigkeiten oder ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken
im Ortsverkehr von etwa zwei km in 30 Minuten zu Fuß zurückzulegen. Dieser Bewertung schließt sich der Senat an. Befunde,
die dafür sprechen, dass die Klägerin durch ihre psychische Störungen außer Stande ist, Wegstrecken von etwa zwei km in 30
Minuten zurückzulegen, lässt sich dem von Dr. Schn. erhobenen und in seinem Gutachten nachvollziehbar beschriebenen und psychopathologischen
Befund, nicht entnehmen. Insbesondere hat Dr. Schn. eine Angststörung bei der Klägerin nicht festgestellt.
Der abweichenden Ansicht von Dr. B. und Dr. L. in ihren schriftlichen sachverständigen Zeugenaussagen folgt der Senat nicht.
Dr. B. stützt seine Ansicht auf die Beschwerdeangaben der Klägerin. Nach den überzeugenden Ausführungen durch Dr. Schn. in
seinem Gutachten wirken die Angaben der Klägerin zur Wegstrecke bzw. zum Spazierengehen jedoch nicht authentisch und sind
auch nicht mit ihrem körperlichen Status zu vereinbaren. Eigene Befunderhebungen zur Gehfähigkeit der Klägerin beschreibt
Dr. B. in seiner schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage hingegen nicht, weshalb seine Ansicht, auf die sich die Klägerin
beruft, nicht nachvollziehbar ist, wie auch Dr. Schn. in seinem Gutachten überzeugend ausgeführt hat. Dr. L. hat seine Ansicht
nicht näher begründet und im Übrigen eine erhebliche Einschränkung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr der Klägerin nicht
bestätigt ("Wenn das so ist, dann aus psychischer Ursache.").
Danach bedarf es keiner Entscheidung durch den Senat, zu der Frage, ob psychische Erkrankungen (generell) geeignet sind, die
Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" zu begründen (verneinend LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 12.10.2011
- 6 SB 3032/11-, [...] und www.sozialgerichtsbarkeit.de).
Insgesamt bestehen bei der Klägerin zur Überzeugung des Senats keine Erkrankungen, wie Paresen an den unteren Extremitäten,
eine schwere arterielle Verschlusskrankheit, eine dekompensierte Herzinsuffizienz, orthopädische Erkrankungen oder eine andere
schwere Zwangs- oder Angsterkrankung, die ihre Gehfähigkeit relevant beschränken, wie Dr. Schn. in seinem Gutachten überzeugend
dargelegt hat. Dem entsprechen auch die zu den Akten gelangten medizinischen Unterlagen einschließlich der im Rentenverfahren
der Klägerin eingeholten Gutachten, wie zudem Dr. R. in seinen versorgungsärztlichen Stellungnahmen vom 25.05.2011 und 21.12.2011
nachvollziehbar und überzeugend ausgeführt hat, dem sich der Senat ebenfalls anschließt. Auch ein Anfallsleiden oder Störungen
der Orientierungsfähigkeit sind nicht ersichtlich und werden von der Klägerin im Übrigen auch nicht geltend gemacht.
Anlass zu weiteren Ermittlungen besteht nicht. Für den Senat ist der entscheidungsrelevante Sachverhalt durch die im Berufungsverfahren
durchgeführten Ermittlungen und die zu den Akten gelangten medizinischen Unterlagen geklärt. Neue Gesichtspunkte, die Anlass
für weitere Ermittlungen geben, hat die Klägerin im Verlauf des Berufungsverfahrens nicht aufgezeigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.