Arbeitslosengeld II
Einstweiliger Rechtsschutz
Anordnungsgrund für Zeiträume vor einer gerichtlichen Entscheidung als Ausnahme
Fortwirkung eines besonderen Nachholbedarfs
1. Im Rahmen einer Regelungsanordnung ist der Anordnungsgrund die Notwendigkeit, wesentliche Nachteile abzuwenden, um zu vermeiden,
dass ein ASt vor vollendete Tatsachen gestellt wird, ehe er wirksamen Rechtsschutz erlangen kann.
2. Charakteristisch ist daher für den Anordnungsgrund die Dringlichkeit der Angelegenheit, die in aller Regel nur in die Zukunft
wirkt.
3. Es ist rechtlich zwar nicht auszuschließen, dass auch für vergangene Zeiträume diese Dringlichkeit angenommen werden kann;
diese überholt sich jedoch regelmäßig durch Zeitablauf.
4. Ein Anordnungsgrund für Zeiträume vor einer gerichtlichen Entscheidung ist daher nur ausnahmsweise anzunehmen, wenn ein
noch gegenwärtig schwerer, irreparabler und unzumutbarer Nachteil glaubhaft gemacht wird und ein besonderer Nachholbedarf
durch die Verweigerung der Leistungen in der Vergangenheit auch in der Zukunft noch fortwirkt oder ein Anspruch eindeutig
besteht.
Gründe
I.
Streitig sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II - Alg II) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die Antragstellerin (ASt) bezieht vom Antragsgegner (Ag) Alg II. Mit Bescheid vom 08.02.2016 wurden ihr Leistungen für die
Zeit vom 01.01.2016 bis 30.06.2016 bewilligt, deren Zahlung der Ag ab dem 01.04.2016 vorläufig einstellte. Mit Bescheid vom
18.04.2016 stellte der Ag wegen eines Meldeversäumnisses eine Minderung des Alg II für den Zeitraum 01.05.2016 bis 31.07.2016
und mit weiterem Bescheid vom 17.05.2016 für den Zeitraum 01.06.2016 bis 31.08.2016 jeweils iHv monatlich 40,40 EUR fest.
Wegen der Verhinderung des Zustandekommens eines Beschäftigungsverhältnisses minderte der Ag mit Bescheid vom 02.08.2016 das
Alg II für den Zeitraum 01.09.2016 bis 30.11.2016 um 121,20 EUR monatlich. Nach Aktenlage wurde gegen die Minderungsbescheide
kein Widerspruch eingelegt.
Die ASt teilte dem Ag mit, Unterkunftskosten würden seit 23.05.2016 nicht mehr anfallen. Es sei u.a. am 30.07.2016 eine einmalige
Kontoeinzahlung iHv 650 EUR erfolgt. Mit Bescheid vom 11.08.2016 nahm der Ag die vorläufige Zahlungseinstellung zurück und
berechnete die Leistungen für die Zeit vom 01.04.2016 bis 30.06.2016 neu. Auf den Fortzahlungsantrag vom 26.07.2016 bewilligte
er darüber hinaus mit weiterem Bescheid vom 11.08.2016 vorläufig Alg II für Juli 2016 iHv 0 EUR, für August 2016 iHv 363,60
EUR, für September bis November 2016 iHv 282,80 EUR und für Dezember 2016 iHv 404 EUR. Über die Widersprüche der ASt gegen
die Bescheide vom 11.08.2016 ist nach Aktenlage bislang nicht entschieden.
Bereits am 03.08.2016 hat die ASt beim Sozialgericht Nürnberg (SG) den Erlass einer einstweiligen Anordnung und die Zahlung von Alg II iHv 404 EUR monatlich ab 01.07.2016 sowie die Bewilligung
von Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt. Mit Beschluss vom 08.09.2016 hat das SG den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes (Ziffern I. und II. des Tenors) und die Bewilligung von PKH (Ziffer
III. des Tenors) abgelehnt. Die Höhe der bewilligten Leistungen sei nach summarischer Prüfung nicht zu beanstanden. Im Hinblick
auf die zwischenzeitliche vorläufige Bewilligung gebe es auch keinen Anordnungsgrund mehr.
Gegen die Ablehnung ihres Antrages auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hat die ASt Beschwerde beim Bayer. Landessozialgericht
eingelegt. Eine Begründung erfolgte trotz Ankündigung und zweimaliger Fristverlängerung nicht.
Zur Ergänzung des Sachverhaltes wird auf die Akten des Ag sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§
172,
173 Sozialgerichtsgesetz -
SGG), aber nicht begründet. Das SG hat zu Recht den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt (Ziffern I. und II. des Tenors im Beschluss
vom 08.09.2016).
Die ASt begehrt die (vorläufige) Zahlung von 404 EUR monatlich ab dem 01.07.2016. Damit macht sie alleine die Zahlung des
Regelbedarfs geltend, was im Hinblick auf ihre Angaben, Kosten für Unterkunft würden nicht mehr anfallen, konsequent erscheint.
Rechtsgrundlage für die Gewährung des diesbezüglichen vorläufigen Rechtsschutzes stellt §
86b Abs
2 Satz 2
SGG dar, da der geltend gemachte Rechtsanspruch in der Hauptsache mittels einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage
geltend zu machen ist. Insoweit ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Das ist etwa dann der Fall, wenn die ASt ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile
entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG vom 25.10.1998 -
BVerfGE 79, 69 (74); vom 19.10.1997 - BVerfGE 46, 166 (179) und vom 22.11.2002 - NJW 2003, 1236; Niesel/Herold-Tews, Der Sozialgerichtsprozess, 5. Aufl, Rn 652). Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes
- das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiell-rechtliche
Anspruch, auf den die ASt ihr Begehren stützt - voraus. Die Angaben hierzu hat die ASt glaubhaft zu machen (§
86b Abs
2 Satz 2 und
4 SGG i.V.m. §
920 Abs
2, §
294 ZPO; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Auflage, §
86b Rn 41).
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes
sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen
Umfang (BVerfG vom 12.05.2005 - Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich
unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde
Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen.
In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange der ASt zu entscheiden
(vgl BVerfG vom 12.05.2005 - Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59 und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; BVerfG vom 15.01.2007 - 1 BvR 2971/06; weniger eindeutig BVerfG, Beschluss vom 04.08.2014 - 1 BvR 1453/12).
Demnach ist ein Anordnungsanspruch der ASt nicht gegeben. Es ist nicht ersichtlich, dass der ASt neben den mit Bescheid vom
11.08.2016 ab 01.07.2016 bewilligten Leistungen (für Juli 2016 iHv 0 EUR, für August 2016 iHv 363,60 EUR. für September bis
November 2016 iHv 282,80 EUR und für Dezember 2016 iHv 404 EUR) ein höheres Alg II zustehen würde. Sofern für die Monate vor
Dezember 2016 nicht der volle Regelbedarf von 404 EUR zur Auszahlung gekommen ist, folgt dies aus der Umsetzung des Sanktionsbescheides
vom 17.05.2016 - demnach war für die Monate Juli und August 2016 das Alg II um monatlich 40,40 EUR gemindert - und des Sanktionsbescheides
vom 02.08.2016 - demnach war für die Monate September bis November 2016 das Alg II um monatlich 121,20 EUR gemindert. Nach
Aktenlage wurde auch gegen die Sanktionsbescheide kein Widerspruch eingelegt, sodass die leistungsrechtliche Umsetzung nicht
zu beanstanden ist. Desweiteren wurde für Juli 2016 die von der ASt selbst angegebene Zahlung von 650 EUR als Einkommen angerechnet,
sodass sich für diesen Monat kein Leistungsanspruch errechnete. Anhaltspunkte dafür, dass die Anrechnung zu Unrecht erfolgt
wäre oder eine zeitlich und der Höhe nach andere Anrechnung als einmalige Einnahme hätte erfolgen müssen, gibt es mangels
eines entsprechenden Vortrags der ASt hierzu nicht.
Daneben ist auch ein Anordnungsgrund nicht gegeben. Für Dezember 2016 wurde die Leistungen iHv 404 EUR ungekürzt - und wie
von der ASt beantragt - bewilligt. Für die Leistungen betreffend Juli bis November 2016 ist die Dringlichkeit der Angelegenheit
schon nicht zu belegen. Im Rahmen einer Regelungsanordnung ist der Anordnungsgrund die Notwendigkeit, wesentliche Nachteile
abzuwenden, um zu vermeiden, dass die ASt vor vollendete Tatsachen gestellt wird, ehe sie wirksamen Rechtsschutz erlangen
kann (vgl. Keller aaO § 86b Rn. 27a). Charakteristisch ist daher für den Anordnungsgrund die Dringlichkeit der Angelegenheit,
die in aller Regel nur in die Zukunft wirkt. Es ist rechtlich zwar nicht auszuschließen, dass auch für vergangene Zeiträume
diese Dringlichkeit angenommen werden kann; diese überholt sich jedoch regelmäßig durch Zeitablauf. Ein Anordnungsgrund für
Zeiträume vor einer gerichtlichen Entscheidung ist daher nur ausnahmsweise anzunehmen, wenn ein noch gegenwärtig schwerer,
irreparabler und unzumutbarer Nachteil glaubhaft gemacht wird, und ein besonderer Nachholbedarf durch die Verweigerung der
Leistungen in der Vergangenheit auch in der Zukunft noch fortwirkt oder ein Anspruch eindeutig besteht (vgl. Beschluss des
Senates vom 12.04.2010 - L 11 AS 18/10 B ER - [...]). Beides ist vorliegend nicht der Fall. Hierzu hat die ASt weder etwas vorgetragen, noch sind Anhaltspunkte
hierfür erkennbar.
Damit war die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der analogen Anwendung des §
193 SGG.
Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§
177 SGG).