Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes im sozialgerichtlichen Verfahren; Keine Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines
Widerspruches bei fehlendem überwiegenden Interesse der Antragsteller
1. Unter Berücksichtigung des § 39 Nr. 1 SGB II ist von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten des Suspensiveffektes auszugehen, da der Gesetzgeber die sofortige Vollziehung
zunächst angeordnet hat; davon abzuweichen besteht nur Anlass, wenn ein überwiegendes Interesse des durch den Verwaltungsakt
Belasteten feststellbar ist.
2. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung muss eine mit gewichtigen Argumenten zu begründende Ausnahme bleiben.
3. Ist der Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig und ist der Betroffene dadurch in seinen subjektiven Rechten verletzt, wird
ausgesetzt, weil dann ein überwiegendes öffentliches Interesse oder Interesse eines Dritten an der Vollziehung nicht erkennbar
ist.
Gründe
I.
Streitig ist im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens die Höhe der von Oktober 2015 bis Januar 2016 auszuzahlenden
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Arbeitslosengeld II -Alg II-) gemäß dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die Antragstellerinnen beziehen Alg II. Die Antragstellerin (Ast) zu 1. ist die Mutter der Ast zu 2. Die Ast zu 2. erhält
Kindergeld und über das Jugendamt Unterhalt von dem in den Vereinigten Staaten von Amerika lebenden Vater. Nachdem der Antragsgegner
(Ag) Alg II ohne Anrechnung von Unterhalt ausgezahlt hatte - er rechnete laut Angabe des Ag den vom Vater gezahlten Unterhalt
im nachhinein mit dem Jugendamt ab -, beantragte die Ast zu 1. beim Jugendamt die Auszahlung des Unterhalts an sich selbst
bzw. an die Ast zu 2. Daraufhin rechnete der Ag mit Bescheid vom 25.08.2015 den Unterhalt in Höhe von 260,00 EUR als Einkommen
an und bewilligte unter Aufhebung der bisherigen Leitungsbewilligungen vom 23./24.07.2015 und 11.08.2015 für die Zeit vom
01.10.2015 bis 31.01.2016 entsprechend geringere Leistungen an die Ast zu 2. Der Unterhalt werde direkt an die Antragstellerinnen
ausgezahlt und sei daher als Einkommen zu berücksichtigen. Mit Bescheid vom 14.10.2015 hob der Ag den Bescheid vom 25.08.2015
auf und bewilligte mit Bescheid vom 15.10.2015 die Leistungen an die Ast zu 2. in der bisherigen Höhe, allerdings nur vorläufig.
Es werde ein geschätzter Unterhalt in Höhe von 260,00 EUR angerechnet und gegebenenfalls endgültig entschieden, wenn die tatsächliche
Unterhaltszahlung feststehe. Über die Widersprüche gegen sämtliche Bescheide ist wohl bislang nicht entschieden, den Bescheid
vom 15.10.2015 wollen die Ast noch nicht erhalten haben. Am 11.10.2015 haben die Antragstellerinnen einstweiligen Rechtsschutz
beim Sozialgericht Nürnberg (SG) dahingehend begehrt, das Alg II für Oktober 2015 ohne Anrechnung einer "fiktiven" Unterhaltszahlung am Monatsersten auszuzahlen,
den Verzugsschaden zu ersetzen und die Kosten des Verfahrens zu tragen (Schriftsatz vom 09.10.2015 im Verfahren S 5 AS 1113/15 ER). Zudem haben die Antragstellerinnen mit Schriftsatz vom 01.11.2015 einstweiligen Rechtsschutz dahingehend begehrt, die
auch für November 2015 vorenthaltenen Leistungen zu zahlen und den Ag darauf hinzuweisen, dass der Lebensunterhalt jeweils
am Monatsanfang zu decken sei. Die Kosten der Rücklastschriften, Mahnungen und des Verfahrens habe der Ag ebenfalls zu tragen
(Verfahren S 5 AS 1213/15 ER). Das SG hat nach Verbindung der Verfahren die Anträge abgelehnt (Beschluss vom 25.11.2015). Eine aktuelle Notlage sei nicht erkennbar.
Ein Verzögerungsnachteil dadurch, dass der Kindesunterhalt erst im Laufe des Monats oder später ausgezahlt werde, sei nicht
zu erkennen, denn diese Leistung stehe dann für den Rest des Monats bzw. für den nächsten Monat zur Verfügung. Die Beschwerde
sei mangels Erreichens der erforderlichen Beschwerdesumme nicht zulässig. Dagegen haben die Antragstellerinnen Beschwerde
zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) erhoben. Das Verfahren solle soweit möglich in ein Fortsetzungsfeststellungsverfahren
umgewandelt werden. Jeden Monat werde aufs Neue Unterhalt als fiktives Einkommen angerechnet. Der Eingang des Unterhalts stehe
nicht fest. Das Existenzminimum müsse aber am Monatsanfang gesichert sein. Es sei festzustellen, dass sie den Bescheid vom
15.10.2015 nie erhalten hätten, dass fiktive Anrechnungen zu unterlassen seien und dass der Bescheid vom 25.08.2015 und alle
darauf aufbauenden Bescheide rechtswidrig seien. Gegebenenfalls sei die aufschiebende Wirkung wieder herzustellen. Zur Ergänzung
des Tatbestandes wird auf die beigezogenen Akten des Ag sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§
172,
173 Sozialgerichtsgesetz -
SGG-). Der Beschwerdewert wird erreicht, denn die Antragstellerinnen wollten und wollen erreichen, dass der Unterhalt für die
Zeit vom 01.10.2015 bis 31.01.2016 nicht als Einkommen angerechnet wird. Streitgegenstand ist dabei allein die Anrechnung
des Unterhaltes mit Bescheid vom 25.08.2015 in der Fassung der Bescheide vom 14.10.2015 und 15.10.2015 - der Vater der Ast
zu 2. ist wohl zur Zahlung von 259,50 EUR monatlich verpflichtet - auf die an die Ast zu 2. zu zahlenden Leistungen. Nicht
Gegenstand des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens sind die weiter von den Antragstellerinnen im Rahmen des Beschwerdeverfahrens
zusätzlich erhobenen Feststellungsbegehren, denn diese waren nicht Gegenstand des erstinstanzlichen einstweiligen Rechtsschutzverfahrens.
Einer Erweiterung des Antrages hat weder der Ag zugestimmt noch ist diese in analoger Anwendung des §
99 SGG als sachdienlich anzusehen. Die Beschwerde der Ast zu 1. ist unbegründet. Allerdings hat das SG nur im Ergebnis zutreffend den Antrag der Ast zu 1. abgelehnt. Deren Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist nämlich unzulässig.
Von der (vorläufigen) Anrechnung des Unterhalts - allein dies hatte die Ast zu 1. im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzbegehrens
geltend gemacht - ist allein der Individualanspruch der Ast zu 2. berührt, nicht jedoch der Anspruch der Ast zu 1. Somit fehlt
es bezüglich der Ast zu 1. unter Beachtung des geltend gemachten Begehrens am Rechtsschutzbedürfnis. Die Beschwerde der Ast
zu 1. ist daher zurückzuweisen. Die Beschwerde der Ast zu 2. ist ebenfalls unbegründet. Das SG hat auch diesbzgl. nur im Ergebnis zutreffend den Antrag der Ast zu 2. abgelehnt. Vorliegend wendet sich die Ast zu 2. gegen
die Anrechnung der (anscheinend unregelmäßigen) monatlichen Unterhaltszahlungen des Vaters als Einkommen. Mit Bescheid vom
11.08.2015 waren Leistungen ohne eine solche Anrechnung vom Ag bewilligt worden; die Unterhaltszahlungen sind vom Ag dann
mit dem Jugendamt laut Auskunft des Ag abgerechnet worden. Erst nach der auf Antrag der Ast zu 1. anderweitig erfolgten Auszahlung
der Unterhaltszahlungen durch das Jugendamt rechnete der Ag ab 01.10.2015 diese Unterhaltszahlungen als Einkommen an (Bescheid
vom 25.08.2015 in der Fassung der Bescheide vom 14.10.2015 und 15.10.2015). Die Ast zu 2. will somit die aufschiebende Wirkung
des Widerspruches gegen den Bescheid vom 25.08.2015 angeordnet haben. Dies hat das SG übersehen. Das Gericht der Hauptsache kann auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende
Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen (§
86b Abs.
1 Nr.
2 SGG). Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage (hier: Widerspruch) ist nur möglich, wenn das besondere Interesse
des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung das vom Gesetz vorausgesetzte Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit
des Verwaltungsaktes überwiegt, wobei bei der Prüfung der Interessen zuerst auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache abzustellen
ist. Unter Berücksichtigung des § 39 Nr. 1 SGB II ist von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten des Suspensiveffektes auszugehen, da der Gesetzgeber die sofortige Vollziehung
zunächst angeordnet hat. Davon abzuweichen besteht nur Anlass, wenn ein überwiegendes Interesse des durch den Verwaltungsakt
Belasteten feststellbar ist (vgl. Beschluss des Senates vom 18.11.2008 - L 11 B 948/08 AS ER). Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung muss eine mit gewichtigen Argumenten zu begründende Ausnahme bleiben (vgl.
Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer,
SGG, 11. Auflage, §
86b Rdnr. 12c). Ist der Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig und ist der Betroffene dadurch in seinen subjektiven Rechten verletzt,
wird ausgesetzt, weil dann ein überwiegendes öffentliches Interesse oder Interesse eines Dritten an der Vollziehung nicht
erkennbar ist. Ist die Klage (vorliegend: Widerspruch) aussichtslos, wird die aufschiebende Wirkung nicht angeordnet. Sind
die Erfolgsaussichten nicht in dieser Weise abschätzbar, bleibt eine allgemeine Interessenabwägung, wobei die Erfolgsaussichten
des Hauptsacheverfahrens und die Entscheidung des Gesetzgebers in §
39 Nr. 1
SGB III mit berücksichtigt werden (vgl. zum Ganzen: Keller aaO Rdnr. 12f; Beschluss des Senates aaO). Die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens
sind vorliegend allenfalls als gering anzusehen. Die Anrechnung der Unterhaltszahlung als Einkommen ist unter Berücksichtigung
der Regelungen in § 4 Satz 1 i.V.m. § 2 der Verordnung zur Berechnung des Einkommens sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen
und Vermögen beim Alg II/Sozialgeld in der ab 01.01.2008 geltenden Fassung gesetzlich vorgesehen, wobei es nicht auf den genauen
Zeitpunkt des Zuflusses des Einkommens innerhalb des Monats ankommt. Dabei kann vorliegend offen gelassen werden, ob die mit
den Bescheiden vom 14.10.2015 und 15.10.2015 angenommene wesentliche Änderung der Sach- und Rechtslage tatsächlich vorliegt,
und ob die geschätzte Anrechnung von 260,00 EUR statt des wohl tatsächlich zu zahlenden Unterhaltes in Höhe von 259,50 EUR
rechtmäßig ist. Es handelt sich bei diesem Einkommen auch nicht um fiktives Einkommen, zumal es tatsächlich vom Vater - wenn
auch eventuell in unterschiedlicher Höhe - gezahlt wird. Wegen der damit gerade noch als offen anzusehenden Erfolgsaussichten
ist eine allgemeine Interessenabwägung im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens vorzunehmen, bei der aber zu berücksichtigen
ist, dass nur geringe Erfolgsaussichten in der Hauptsache bestehen. Dabei ist auch beachtet, dass der Bescheid vom 15.10.2015,
den die Antragstellerinnen bislang nicht erhalten haben wollen, zwar wohl nicht auf einer wesentlichen Änderung der Sach-
und Rechtslage beruht, er jedoch lediglich die mit Bescheid vom 25.08.2015 endgültig bewilligten Leistungen hinsichtlich der
Ast zu 2. für vorläufig erklärt, um nachträglich die tatsächlichen Unterhaltszahlungen als Einkommen berücksichtigen zu können.
Aufgrund der nur geringen Erfolgsaussichten kann der Senat ein überwiegendes Interesse der Ast zu 2. nicht erkennen, zumal
die bisherige Vorgehensweise des Ag, nämlich die Unterhaltszahlungen nicht als Einkommen zu berücksichtigen und damit höheres
Alg II auszuzahlen, nachträglich dann aber mit dem Jugendamt abzurechnen, durch den Antrag der Antragstellerinnen an das Jugendamt,
den Unterhalt an sich selbst auszuzahlen, ausgelöst worden ist. Die bisherigen Vorgehensweise des Ag, am Monatsanfang Alg
II ohne Anrechnung von Einkommen auszuzahlen, haben die Antragstellerinnen somit durch eigenes handeln verhindert. Hinsichtlich
des begehrten Schadenersatzes (Verzugsschaden etc.) ist die Beschwerde ebenfalls ohne Erfolg, denn diesbezüglich ist unabhängig
von der Frage der Zuständigkeit der Sozialgerichte keine Eilbedürftigkeit zu erkennen, die für eine diesbezügliche Regelung
nach §
86b Abs.
2 SGG aber erforderlich wäre.
Nach alledem war auch die Beschwerde der Ast zu 2. zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).